10 - Anne geht zur Sonntagsschule

»Nun, wie gefallen sie dir?«, fragte Marilla.

Nachdenklich betrachtete Anne die drei neuen Kleider, die Marilla auf dem Bett vor ihr ausgebreitet hatte. Eins war aus einem bräunlichgelben Ginghamstoff, das zweite aus schwarzweiß kariertem Satin und das dritte aus blau bedrucktem Kattun. Marilla hatte all diese höchst praktischen Stoffe bei verschiedenen Gelegenheiten günstig erstanden und die Kleider selbst genäht. Alle drei hatten den gleichen schlichten Schnitt und die Ärmel waren so kerzengerade und eng, wie Ärmel nur sein konnten.

»Ich kann mir vorstellen, dass sie mir gefallen«, antwortete Anne vage. »Aber ich will nicht, dass du es dir nur vorstellst«, sagte Marilla beleidigt. »Ich sehe schon, du magst die Kleider nicht! Was ist mit ihnen? Sind sie nicht ordentlich, sauber und neu?«

»Doch, doch.«

»Und was hast du dann an ihnen auszusetzen?«

»Sie ... sind nicht... schön«, sagte Anne widerstrebend.

»Schön!« Marilla schnaubte verächtlich. »Natürlich habe ich mir nicht den Kopf darüber zerbrochen, schöne Kleider für dich zu machen. Ich will deiner Eitelkeit schließlich nicht auch noch Vorschub leisten, Anne. Hier sind drei gute, praktische Kleider ohne Rüschen und Schnörkel - diesen Sommer wirst du wohl oder übel mit ihnen auskommen müssen. Das braune und das blaue kannst du zur Schule tragen, wenn es so weit ist; das aus Satin ist für die Kirche und die Sonntagsschule gedacht. Ich erwarte von dir, dass du sie sauber und ordentlich hältst und gut auf sie Acht gibst. Nach diesen kurzen Flanelldingern, die du bisher getragen hast, solltest du eigentlich für jedes neue Kleid dankbar sein.«

»Ich bin ja auch dankbar«, verteidigte sich Anne. »Bloß, ich wäre noch viel dankbarer, wenn ... wenn du nur eins davon mit Puffärmeln gemacht hättest. Puffärmel sind jetzt die große Mode. Es muss ein erhebendes Gefühl sein, ein Kleid mit Puffärmeln zu tragen, Marilla!«

»Nun, dann musst du eben ohne dieses erhebende Gefühl leben. Ich hatte nicht genug Stoff, um ihn für solche Kinkerlitzchen zu verschwenden. Außerdem finde ich Puffärmel sowieso reichlich lächerlich. Mir gefallen schlichte, vernünftige Ärmel besser.«

»Ach, wie sehr hätte ich mir ein schönes Kleid mit Puffärmeln gewünscht!«, flüsterte Anne zu sich selbst, als Marilla gegangen war. »Ich habe sogar dafür gebetet, aber der liebe Gott hat bestimmt Wichtigeres zu tun, als sich um die Kleider armer Waisenmädchen zu kümmern. Mir war schon klar, dass ich die Sache mit Marilla allein ausmachen müsste. Naja, zum Glück kann ich mir ja vorstellen, dass eins der Kleider aus schneeweißem Musselin ist und wunderschöne Rüschen und herrliche Puffärmel hat.«

Am nächsten Morgen hielten starke Kopfschmerzen Marilla davon ab, Anne zur Sonntagsschule zu bringen.

»Du musst zu Mrs Lynde hinübergehen, Anne«, sagte sie. »Sie wird dafür sorgen, dass du deine Klasse findest. Denk daran, dich anständig zu benehmen. Bleib noch zur Predigt da und lass dir von Mrs Lynde unseren Kirchenstuhl zeigen. Hier ist ein Cent für die Kollekte. Starr niemanden an und pass gut auf. Heute Abend wirst du mir alles ausführlich erzählen.«

In dem steifen schwarzweißen Satinkleid marschierte Anne los. Zwar hatte das Kleid gegenüber ihren alten Sachen aus dem Waisenhaus eine sehr viel vorteilhaftere Länge, dafür betonte es jedoch Annes knochige Figur nur noch deutlicher. Auf ihrem Kopf trug sie einen neuen, glänzenden Matrosenhut, dessen Schlichtheit Anne ebenfalls enttäuscht hatte. Natürlich hatte sie schon in heimlichen Träumen von einem aufwendigen Kopfputz mit Bändern und Blumen geschwelgt. Umso weniger konnte sie den üppigen Butterblumen und wilden Rosen am Wegrand widerstehen. Sie pflückte sich einen großen Strauß, flocht daraus einen dicken Kranz und schmückte damit ihren Hut. Zufrieden mit dem Ergebnis, tanzte sie vergnügt den Weg bis zu Lynde’s Hollow hinunter.

Offensichtlich hatte Mrs Rachel jedoch das Haus schon verlassen, also ging Anne unverzagt allein weiter zur Kirche. Im Kirchenvorraum war bereits eine ganze Schar anderer kleiner Mädchen in weißen, blauen und rosa Sonntagskleidern versammelt und betrachtete neugierig die kleine Fremde mit ihrem außergewöhnlichen Kopfputz. Sie hatten schon allerhand merkwürdige Geschichten über Anne gehört: Mrs Lynde hatte gesagt, sie hätte ein äußerst unbeherrschtes Wesen. Und Jerry Buote, der seit neuestem auf Green Gables arbeitete, hatte berichtet, sie würde den ganzen Tag Selbstgespräche führen oder mit den Blumen und Bäumen sprechen. Die Mädchen starrten Anne an und tuschelten miteinander. Keines von ihnen ging auf sie zu und begrüßte sie. Anne blieb allein, auch als sie nach der von Mr Bell gehaltenen Andacht Miss Rogersons Klasse zugeteilt wurde. Miss Rogerson war eine Dame in den Fünfzigern, die seit zwanzig Jahren in der Sonntagsschule unterrichtete. Ihre Lehrmethode bestand darin, die vorgedruckten Fragen aus der kirchlichen Vierteljahresschrift vorzulesen und dann mit strenger Miene eines der Mädchen anzuschauen, das die Frage beantworten musste. Sehr oft schaute sie Anne an, die dank Marillas Vorbereitung alle Fragen wie aus der Pistole geschossen beantworten konnte. Wie viel sie und die anderen Sonntagsschülerinnen allerdings von den Fragen und Antworten verstanden - das steht auf einem anderen Blatt.

Anne mochte Miss Rogerson nicht besonders und fühlte sich äußerst unwohl: Alle anderen Mädchen trugen nämlich Kleider mit herrlichen PufFärmeln. Anne hatte das Gefühl, dass das Leben ohne Puffärmel einfach keinen rechten Sinn hatte.

»Nun, wie hat dir die Sonntagsschule gefallen?«, wollte Marilla später wissen. Den inzwischen verwelkten Blumenkranz hatte Anne schon auf dem Heimweg wieder abgelegt, sodass Marilla von seiner Existenz bis jetzt noch nichts ahnte.

»Überhaupt nicht. Es war furchtbar.«

»Anne Shirley!«, wies Marilla sie zurecht.

»Ich war ganz brav, wie du es mir gesagt hast. Mrs Lynde war nicht zu Hause, also bin ich alleine zur Kirche gegangen und habe mich in einen Stuhl am Fenster gesetzt. Es waren noch viele andere Mädchen da. Mr Bell hat die Andacht gehalten und ein entsetzlich langes Gebet gesprochen. Ich dachte schon, er würde überhaupt nicht aufhören. Wenn ich nicht am Fenster gesessen hätte, wäre ich wahrscheinlich eingeschlafen. Doch von meinem Platz aus konnte ich den >See der glitzernden Wasser< sehen. Ich habe zu ihm hinübergeschaut und mir alle möglichen herrlichen Dinge vorgestellt.«

»Stattdessen hättest du Mr Bell zuhören sollen.«

»Aber er hat ja gar nicht zu mir geredet«, widersprach Anne. »Er hat mit Gott gesprochen. Außerdem schien er selbst auch nicht gerade besonders interessiert zu sein. Wahrscheinlich dachte er, Gott sei sowieso viel zu weit weg, um ihn zu hören. Ich habe trotzdem selbst ein kleines Gebet gesprochen. Am Seeufer stand eine ganze lange Reihe weißer Birken und die Sonne schien genau auf ihre weit übers Wasser gebeugten Zweige. Das sah aus wie in einem schönen Traum, Marilla, und ich habe Gott inständig für dieses schöne Bild gedankt.«

»Hoffentlich nicht laut?«, fragte Marilla besorgt.

»Nein, nein, es war ein stilles Gebet. Tja, und dann kam Mr Bell doch noch zum Ende und man sagte mir, ich solle in die Klasse von Miss Rogerson gehen. Alle anderen neun Mädchen in der Klasse hatten Kleider mit Puffärmeln. Ich versuchte mir vorzustellen, dass ich auch welche hätte, aber es hat nicht richtig geklappt. Warum bloß? Als ich noch alleine im Ostgiebel war, ging es ganz leicht, aber da - unter all den anderen Mädchen mit richtigen Puffärmeln — wollte es mir irgendwie nicht gelingen.«

»Anstatt an deine Ärmel zu denken, hättest du lieber am Unterricht teilnehmen sollen. Ich hoffe, das ist dir klar.«

»Oh, ja. Ich habe ja auch eine Menge Fragen beantwortet. Miss Rogerson hat mich oft aufgerufen. Ich fand das nicht besonders gerecht von ihr, schließlich hätte ich ebenso viele Fragen gewusst, die ich ihr gern gestellt hätte. Aber wahrscheinlich hätte das doch keinen Sinn gehabt. Ich glaube nicht, dass sie eine verwandte Seele ist. - Nach der Sonntagsschule ging es noch einmal in die Kirche. Miss Rogerson hat mir euren Kirchenstuhl gezeigt, denn Mrs Lynde war so weit weg, dass ich sie nicht fragen konnte. Zuerst wurde aus der Bibel vorgelesen - ein ziemlich langer Text. Wenn ich Pfarrer wäre, würde ich ja eher die kurzen, zackigen Bibelstellen auswählen. Und die Predigt zog sich ebenfalls schrecklich lange hin. Aber wahrscheinlich musste der Pfarrer sich dem Text anpassen. Er scheint aber auch keinen Funken Phantasie zu besitzen. Alles, was er sagte, war so uninteressant, dass ich kaum zuhören konnte. Ich habe meine Gedanken schweifen lassen und an alles Mögliche gedacht.«

Ratlos sah Marilla die Kleine an. Eigentlich sollte sie Anne zurechtweisen und sie für ihre Worte tadeln. Doch vieles von dem, was Anne gesagt hatte - besonders über die langatmigen Predigten des Pfarrers und Mr Beils endlose Gebete - waren Dinge, die sie selbst seit Jahren insgeheim auch schon gedacht hatte, ohne es jedoch zu wagen, solche Überlegungen jemals auszusprechen. Es schien ihr fast, als hätten ihre verborgenen Gedanken in den Worten dieses offenherzigen kleinen Geschöpfs plötzlich Gestalt angenommen.

Am darauf folgenden Freitag sollte Annes Besuch in der Sonntagsschule aber doch noch unangenehme Folgen haben. Marilla, die von einem Besuch bei Mrs Lynde zurückkam, rief Anne verärgert zu sich. »Anne, Rachel Lynde sagt, du seist am Sonntag in einem geradezu lächerlichen Aufzug in der Kirche erschienen, dein Hut sei voller Rosen und Butterblumen gewesen. Wie um alles in der Welt bist du denn auf diese Dummheit verfallen? Du musst ja einen schönen Anblick geboten haben!«

»Ich weiß, Rosa und Gelb stehen mir nicht«, gab Anne kleinlaut zu. »Ob dir die Farben stehen, ist doch völlig egal. Seinen Hut mit Butterblumen und Rosen herauszuputzen ... so etwas Lächerliches! Du bist das ungezogenste kleine Mädchen, das ich kenne.«

»Ich verstehe nicht, warum es lächerlich sein soll, Blumen am Hut zu tragen, wo doch viele der anderen Mädchen kleine Sträuße an ihren Kleidern hatten«, verteidigte sich Anne. »Wo ist da der Unterschied?« Doch Marilla blieb fest entschlossen, auf dem Boden der Tatsachen zu bleiben und sich nicht auf Spekulationen einzulassen.

»Gib mir keine Widerworte, Anne. Es war sehr dumm von dir, so etwas zu tun. Dass mir das nicht noch einmal zu Ohren kommt! Mrs Ra chel sagte, sie wäre am liebsten im Boden versunken, als sie dich in die Kirche hereinspazieren sah. Die Leute haben sich natürlich mal wieder das Maul zerrissen. Sie denken, ich hätte nichts Besseres zu tun, als dich derart aufgetakelt zur Kirche zu schicken!«

»Ach, es tut mir so Leid, Marilla«, sagte Anne. Tränen stiegen ihr in die Augen. »Ich hätte nie gedacht, dass es dir etwas ausmachen könnte. Die Rosen und Butterblumen waren einfach so schön, dass ich dachte, sie würden auf meinem Hut bestimmt nett aussehen. Viele der anderen Mädchen hatten künstliche Blumen an ihren Hüten. Ich konnte doch nicht wissen, dass ich dir damit wieder so viel Kummer machen würde. Vielleicht ist es doch besser, wenn ihr mich wieder zurück ins Waisenhaus schicktet.«

»Unsinn!«, wehrte Marilla ab. Sie war wütend auf sich selbst, weil sie das Kind zum Weinen gebracht hatte. »Ich will dich nicht ins Waisenhaus zurückschicken, das ist sicher. Alles, was ich will, ist, dass du so brav bist wie die anderen kleinen Mädchen auch und dich nicht überall lächerlich machst. Hör auf zu weinen. Ich habe auch eine gute Nachricht für dich: Diana Barry ist heute Nachmittag nach Hause gekommen. Ich will nachher hinübergehen und Mrs Barry nach einem Schnittmuster fragen. Wenn du willst, kannst du mitkommen und Diana kennen lernen.«

Während die Tränen noch auf ihren Wangen glitzerten, sprang Anne auf und klatschte freudig in die Hände. Das Geschirrtuch, das sie gerade gesäumt hatte, fiel unbeachtet auf den Boden.

»Oh, Marilla, ich freue mich so! Aber ich habe Angst.. .Jetzt, wo Diana da ist, wird mir auf einmal ganz mulmig. Was wenn sie mich am Ende gar nicht leiden mag? Das wäre die schlimmste Enttäuschung meines Lebens.«

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