07 - Von Fenster- und Busenfreundinnen

Am nächsten Morgen erzählte Marilla Anne zunächst noch nicht, dass Matthew und sie sich entschlossen hatten, sie auf Green Gables zu behalten. Den ganzen Vormittag über hielt sie das Kind mit verschiedenen Aufgaben beschäftigt und beobachtete es aufmerksam. Schon bald kam Marilla zu dem Schluss, dass Anne gewandt und folgsam war und sowohl Arbeitswillen als auch eine schnelle Auffassungsgabe besaß. Nicht zu leugnen war freilich ihre Neigung, mitten in einer Arbeit in Träumereien zu versinken und darüber alles um sie herum zu vergessen — nur eine Ermahnung oder der Eintritt einer Katastrophe konnte sie dann in die Wirklichkeit zurückrufen.

Als Anne nach dem Mittagessen mit dem Geschirrspülen fertig war, ging sie mit großen Schritten auf Marilla zu. Auf ihrem Gesicht lag ein Ausdruck verzweifelter Entschlossenheit: Sie war offenbar bereit, sich dem Schlimmsten zu stellen. Ihr kleiner Körper zitterte und ihre Pupillen waren so groß, dass ihre Augen fast schwarz aussahen. Schließlich fasste sie nach Marillas Händen und sagte mit flehender Stimme: »Ach, bitte, Miss Cuthbert, wollen Sie mir nicht sagen, ob ich auf Green Gables bleiben darf oder nicht? Ich habe schon den Morgen versucht geduldig zu sein, aber ich kann die Ungewissheit nicht mehr länger ertragen. Bitte, sagen Sie es mir!«

»Du hast das Geschirrtuch noch nicht in heißem Wasser ausgespült, wie ich es dir gesagt habe«, antwortete Marilla unbewegt. »Das erledigst du zuerst, bevor du irgendwelche weiteren Fragen stellst.« Anne ging und tat, was ihr gesagt worden war. Dann kehrte sie zu Marilla zurück und sah sie wieder mit flehenden Augen an.

»Nun«, sagte Marilla, der keine Ausrede mehr einfiel, um ihre Erklärung noch weiter hinauszuzögern, »dann werde ich es dir jetzt sagen: Matthew und ich haben uns dazu entschlossen, dich hier zu behalten - wenn du versprichst, ein braves Mädchen zu sein und dich dankbar zu erweisen. - Aber Kind, was ist denn?«

»Ich muss weinen«, stammelte Anne, »ich weiß selbst nicht, wieso. Ich bin so froh, wie man es sich nur vorstellen kann. Ach was, froh ist gar nicht der richtige Ausdruck! Über die >Weiße-Blütentraum-Allee< und die >Schneekönigin< war ich froh - jetzt ist es aber noch viel mehr. Ich bin glücklich! Und ich werde versuchen, ganz, ganz brav zu sein, auch wenn mich das noch so viel Mühe kosten wird. Mrs Thomas hat nämlich immer gesagt, ich sei hoffnungslos verdorben.«

»Jetzt beruhige dich erst einmal. Du kannst hier bleiben und wir werden versuchen, gut zu dir zu sein. Vor allem musst du zur Schule gehen. In zwei Wochen gibt es allerdings sowieso Ferien, vor Anfang des neuen Schuljahrs im September hat es also wohl kaum Sinn.«

»Und wie soll ich Sie anreden?«, fragte Anne. »Soll ich immer Miss Cuthbert sagen? Oder kann ich Sie Tante Manila nennen?«

»Nein, du sagst >du< und Manila zu mir. Ich bin es nicht gewohnt, immerzu Miss Cuthbert genannt zu werden. Ich glaube, es würde mich fürchterlich nervös machen.«

»Aber es hört sich so respektlos an, einfach nur Marilla zu sagen«, wandte Anne ein.

»Wenn du nicht respektlos bist, wird es sich auch nicht so anhören. Alle in Avonlea nennen mich Marilla, abgesehen vom Pfarrer: Er nennt mich Miss Cuthbert - allerdings auch nur, wenn er daran denkt.«

»Ich habe nie eine Tante gehabt«, sagte Anne wehmütig, »überhaupt keine Verwandten, noch nicht einmal Großeltern. Ich hätte das Gefühl, richtig zu euch zu gehören. Ich würde so gern Tante zu dir sagen. Ja, darf ich?«

»Nein. Ich bin nicht deine Tante und ich halte nichts davon, wenn man die Dinge anders nennt, als sie sind.«

»Aber wir können uns doch vorstellen, dass du meine Tante bist.«

»Ich halte auch nichts davon, sich die Dinge anders vorzustellen, als sie sind«, widersprach Marilla. »Wenn Gott uns an einen bestimmten Platz gestellt hat, dann hat Er das nicht getan, damit wir versuchen, uns an einen anderen zu träumen. - Das erinnert mich an etwas. Geh doch bitte mal ins Wohnzimmer, Anne — aber streif vorher deine Schuhe ordentlich ab und pass auf, dass du keine Fliegen mit hineinlässt- und hol die bunte Karte, die auf dem Kaminsims liegt. Das Vaterunser steht darauf und ich möchte, dass du heute Nachmittag deine freie Zeit darauf verwendest, es auswendig zu lernen. Solche Gebete wie gestern Abend will ich in Zukunft nicht mehr hören.«

»Ich fürchte, ich war ziemlich unbeholfen«, sagte Anne entschuldigend, »aber ich hatte ja auch überhaupt keine Übung. Man kann von dem ersten Gebet, das ein Mensch sich ausdenkt, nicht zu viel erwarten, oder? Als ich im Bett lag, habe ich mir noch ein herrliches Gebet ausgedacht, genau wie ich es versprochen hatte. Es war fast so lang wie das, was der Pfarrer in der Kirche immer spricht - und schrecklich poetisch! Aber heute Morgen konnte ich mich an kein einziges Wort mehr erinnern. So ein schönes Gebet kann ich mir wahrscheinlich nie wieder ausdenken. Irgendwie verlieren solche Sachen, wenn man sie zum zweiten Mal versucht. Hast du das auch schon mal bemerkt?«

»Eins kannst du dir gleich hinter die Ohren schreiben, Anne: Wenn ich dir sage, was du tun sollst, dann erwarte ich, dass du mir gehorchst und nicht noch stundenlang hier herumstehst und lange Reden schwingst. Geh also und tu, was ich dir gesagt habe.«

Auf diese Worte hin ging Anne unverzüglich in das Wohnzimmer, kam aber nicht wieder. Nachdem sie zehn Minuten gewartet hatte, legte Marilla ihr Strickzeug beiseite und folgte der Kleinen mit grimmiger Miene. Sie fand Anne reglos vor einem Bild, das zwischen den beiden Fenstern an der Wand hing. Mit erhobenem Kopf und hinter dem Rücken verschränkten Händen stand sie da, in andächtigem Träumen versunken.

»Anne, was tust du da?«, fragte Marilla mit scharfer Stimme.

Anne fuhr heftig zusammen und kehrte in die Wirklichkeit zurück. »Da!«, sagte sie dann und zeigte auf das farbige Bild mit dem Titel »Jesus segnet die Kinder«. »Ich habe mir gerade vorgestellt, ich wäre eines von ihnen - dort, das kleine Mädchen in dem blauen Kleid, das ganz allein in der Ecke steht und zu niemandem zu gehören scheint, genau wie ich. Es sieht so einsam und traurig aus, findest du nicht? Wahrscheinlich hat es auch keine Mutter und keinen Vater mehr. Aber es möchte auch gesegnet werden, also schleicht es sich vorsichtig an die Menge heran und hofft, dass niemand es sieht - außer Jesus. Ach, ich weiß so gut, wie ihm zu Mute ist. Sein Herz schlägt ihm bis zum Hals und seine Hände werden ganz kalt - genau wie meine, als ich dich gefragt habe, ob ich auf Green Gables bleiben darf. Zuerst hat es Angst, dass Jesus es vielleicht gar nicht sieht. Aber bestimmt hat er es gesehen, meinst du nicht auch? Ich habe versucht, es mir alles genau vorzustellen - wie das Mädchen sich immer näher an ihn heranschiebt, bis es ganz nah bei ihm steht, und wie er es dann anschaut und ihm seine Hand auf die Schulter legt. Ich wünschte bloß, der Maler hätte Jesus nicht ein so trauriges Gesicht gegeben. Auf allen Bildern sieht er so aus, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass Jesus wirklich so traurig aussah: Die Kinder hätten ja Angst vor ihm bekommen.«

»Anne«, sagte Marilla und wunderte sich, warum sie diesen Redeschwall nicht schon früher unterbrochen hatte, »über solche Dinge spricht man nicht in einem so vertraulichen Tonfall. Und noch etwas, Anne: Wenn ich dich nach etwas schicke, dann möchte ich auch, dass du es mir sofort bringst, ohne in irgendwelche Träume oder Phantastereien zu verfallen. Merk dir das! Nimm die Karte und komm zurück in die Küche. Setzt dich in die Ecke und lerne das Gebet auswendig.« Zurück in der Küche, stellte Anne die Karte gegen eine Vase mit blühenden Apfelzweigen, die sie mit hereingebracht hatte, um den Esstisch zu schmücken. Sie stützte ihr Kinn auf beide Hände und studierte mehrere Minuten lang schweigend den Text.

»Es gefällt mir sehr. >Vater unser, der du bist im Himmel, geheiligt werde dein Name . . .< Das klingt ja wie die schönste Musik. Ach, ich bin so froh, dass Sie ... ich meine, dass du mich das lernen lässt, Marilla.«

Anne zog die Vase mit den Apfelblüten so nahe heran, dass sie auf eine der rosa Knospen einen zarten Kuss drücken konnte, und vertiefte sich dann wieder für kurze Zeit in ihr Studium.

»Marilla«, wollte sie plötzlich wissen, »glaubst du, dass ich in Avonlea jemals eine Busenfreundin finden werde?«

»Eine was?«

»Eine Busenfreundin - eine wirklich verwandte Seele, der ich mein Herz anvertrauen kann. Davon träume ich schon mein ganzes Leben lang. Ich habe zwar nie geglaubt, dass ich wirklich einmal eine Busenfreundin finden könnte, aber in den letzten Tagen sind so viele meiner Träume wahr geworden, dass sich dieser vielleicht auch noch erfüllen könnte. Hältst du das für möglich?«

»Diana Barry drüben auf Orchard Slope ist ungefähr in deinem Alter. Sie ist ein sehr nettes kleines Mädchen. Vielleicht kannst du mit ihr spielen, wenn sie wieder nach Hause kommt. Zur Zeit ist sie noch zu Besuch bei ihrer Tante in Carmody. Aber du musst gut aufpassen: Mrs Barry ist eine strenge Frau, mit ihr ist nicht zu spaßen. Sie lässt ihre kleine Diana nur mit Kindern spielen, die besonders brav und artig sind.«

Annes Wangen glühte. »Wie sieht Diana aus?«

»Sie ist ein hübsches kleines Mädchen. Sie hat schwarze Augen und Haare und rosige Wangen. Und sie ist brav und fleißig, was sehr viel wichtiger ist.«

»Ach, ich bin so froh, dass sie hübsch ist! Wenn man selbst hässlich ist, dann tut es doppelt gut, eine hübsche Busenfreundin zu haben. Die einzige Freundin, die ich je hatte, war Katie, meine >Fensterfreundin<. In Mrs Thomas’ Wohnzimmer stand ein Bücherschrank mit Glastüren, musst du wissen. Bücher hatte Mrs Thomas zwar keine, aber sie bewahrte ihr gutes Porzellan und ihr Eingemachtes in dem Schrank auf. Ihr Mann hatte die eine Tür zerschlagen, als er einmal nachts betrunken nach Hause gekommen war, aber die andere Tür war noch heil. Da hab ich oft davor gestanden und mir vorgestellt, mein Spiegelbild wäre ein anderes Mädchen, das in diesem Schrank lebte. Ich nannte sie Katie Maurice und wir waren richtige Freundinnen. Manchmal sprach ich stundenlang mir ihr, besonders an den Sonntagen, wenn es nichts zu tun gab. Ihr konnte ich alles sagen: Katie war mein Trost und Beistand. Ich habe mir oft gewünscht, den Zauberspruch zu kennen, um die Tür zu dem verwunschenen Schrank öffnen zu können und statt zwischen Mrs Thomas’ Einmachgläsern plötzlich mitten in Katies Zimmer zu stehen. Katie Maurice hätte mich dann bei der Hand genommen und mich in ein wunderbares Land geführt, wo die Feen tanzen und das ganze Jahr über die Sonne scheint und die Blumen blühen ...«

»Nun«, fiel Marilla ein, »es wird dir gut tun, wenn du eine richtige Freundin bekommst, dann kannst du dir diesen ganzen Blödsinn aus dem Kopf schlagen. Lass nur Mrs Barry nichts von deinen Fenster- und Busenfreundinnen hören, sonst wird sie dich als Schwindlerin abstempeln.«

»Ich passe schon auf, schließlich würde ich sowieso nicht jedem davon erzählen. - Oh, sieh doch nur! Gerade ist eine Biene aus der Apfelblüte gekrochen. Wie schön das sein muss, in einer duftenden Blüte zu leben! Vom Wind sanft in den Schlaf gewiegt zu werden! Wenn ich kein kleines Mädchen wäre, würde ich am liebsten eine Biene sein.«

»Gestern wolltest du noch eine Möwe sein«, versetzte Marilla trocken. »Mir scheint, du bist ein ziemlich wankelmütiges kleines Mädchen. Außerdem sollst du ein Gebet lernen und nicht pausenlos plappern. Offensichtlich kannst du einfach nicht still sein, solange jemand in deiner Nähe ist. Am besten gehst du nach oben in dein Zimmer und lernst es da.«

»Kann ich den Apfelzweig mit hinaufnehmen, damit ich Gesellschaft habe?«, bat Anne.

»Nein. Ich bin sowieso nicht dafür, das Haus mit Blumen vollzustopfen. Du hättest den Zweig gar nicht erst pflücken sollen.«

»Das habe ich auch zuerst gedacht«, stimmte Anne zu. »Ich konnte richtig spüren, wie ich das Leben der Blüten verkürzte, indem ich den Zweig abbrach. Wenn ich eine Apfelblüte wäre, würde ich ja schließlich auch nicht abgepflückt werden wollen. Aber die Versuchung war unwiderstehlich. Was soll man da machen?«

»Anne, hast du nicht gehört? Du sollst in dein Zimmer gehen!« Seufzend stieg Anne die Stufen zum Ostgiebel hinauf und setzte sich auf den Stuhl am Fenster.

Das Gebet kann ich ja schon längst, die letzten Zeilen habe ich mir noch schnell auf der Treppe gemerkt, dachte sie. Jetzt werde ich mir ein paar schöne Sachen für mein Zimmer vorstellen: einen weißen Samtteppich mit rosa Blüten für den Fußboden, rosa Seidengardinen für die Fenster, goldene und silberne Brokattapeten für die Wände, Mahagonimöbel und ein Sofa mit vielen farbigen Seidenkissen ... In dem riesengroßen Spiegel an der Wand kann ich mein Spiegelbild sehen. Ich bin eine große, hoheitsvolle Erscheinung in einem fließenden Gewand aus weißer Seide. Mein Haar schimmert tiefschwarz und meine Haut ist so hell und rein wie Elfenbein. Mein Name ist Lady Cordelia Fitzgerald . .. Nein, irgendwie klappt es heute nicht. »Anne von Green Gables«, sagte sie laut, »du kommst mir immer dazwischen, wenn ich versuche mir vorzustellen, ich wäre Lady Cordelia.« Sie beugte sich vor, küsste liebevoll ihr eigenes Spiegelbild und ging zum offenen Fenster zurück. Das Kinn in beide Hände gestützt, träumte sie in den Himmel hinein.

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