21 - Große Vorbereitungen werden getroffen

Es war Oktober, als Anne endlich wieder in die Schule gehen konnte — und ein herrlicher Oktober dazu. Die Bäume leuchteten in kräftigen roten und goldenen Farben und der Tau ließ die Felder am Morgen wie unter einem silbrigen Tuch glänzen. Mit großem Genuss hörte Anne das welke Laub unter ihren Füßen knistern und rascheln, während sie unter dem gelben Baldachin dahinschritt, den die Zweige der Bäume über dem >Birkenpfad< bildeten. Wie schön war es doch den alten, gewohnten Schulweg wieder zu gehen, neben Diana in der kleinen, braunen Schulbank zu sitzen, Ruby Gillis auf der anderen Seite des Gangs zuzunicken und kleine Zettel von Carrie Sloane zugesteckt zu bekommen. Anne seufzte glücklich, als sie ihre Bleistifte spitzte und ihre Bücher unter die Schreibplatte verstaute. Das Leben war ohne Zweifel eine äußerst interessante Angelegenheit! In ihrer neuen Lehrerin fand Anne bald eine zuverlässige und hilfsbereite Freundin. Miss Stacy war eine heitere, sympathische junge Frau mit der glücklichen Gabe, die Zuneigung der ihr anvertrauten Schüler und Schülerinnen schnell zu gewinnen und das Beste aus ihren Schützlingen herauszuholen. Anne erblühte wie eine Blume unter diesem gesunden Einfluss und erstattete Matthew und Manila begeistert Bericht von ihren Fortschritten in der Schule.

»Ich liebe Miss Stacy von ganzem Herzen. Sie ist eine richtige Dame und hat eine wundervolle Stimme. Wenn sie meinen Namen ausspricht, weiß ich einfach, dass sie ihn in Gedanken mit einem e schreibt.

Heute Nachmittag haben wir wieder Gedichte vorgetragen. Ich wünschte, ihr hättet mich gehört, wie ich ein Stück aus Maria Stuart aufgesagt habe! Ruby Gillis meinte, ihr sei das Blut in den Adern gefroren!«

»Vielleicht hast du Lust, es mir einmal draußen in der Scheune vorzutragen?«, schlug Matthew vor.

»Einverstanden«, freute sich Anne. »Ich fürchte bloß, es wird nicht so gut werden wie in der Schule. Wenn einem der ganze Raum voller Zuhörer an den Lippen hängt, ist es natürlich viel aufregender. Ich glaube nicht, dass ich dein Blut zum Gefrieren bringen kann.«

»Mrs Lynde meint, ihr sei das Blut in den Adern gefroren, als sie gesehen hat, wie die Jungen am letzten Freitag die hohen Bäume bei Mr Beils Feld hinaufgeklettert sind, um an die Krähennester heranzukommen«, warf Manila ein. »Ich verstehe nicht, wie Miss Stacy so etwas zulassen kann.«

»Aber wir brauchten ein Krähennest für den Unterricht«, erklärte Anne. »Das war unser Naturkundenachmittag. Diese Nachmittage sind die schönsten, Marilla. Miss Stacy kann alles so gut erklären. Wir müssen Aufsätze über unsere Beobachtungen draußen schreiben und meine sind immer die besten.«

»Eigenlob stinkt, Anne. Das Urteil über deine Arbeiten solltest du lieber deiner Lehrerin überlassen.«

»Aber sie hat es doch selbst gesagt, Marilla. Eingebildet bin ich wirklich nicht. Wie könnte ich denn, wo ich doch eine Niete in Geometrie bin? Langsam kapiere ich allerdings ein bisschen mehr davon, Miss Stacy erklärt es nämlich viel verständlicher als Mr Philipps. Trotzdem werde ich nie gut in Geometrie sein, das muss ich ganz bescheiden zugeben. Aber Aufsätze schreibe ich für mein Leben gern. Nächste Woche müssen wir einen Aufsatz über eine berühmte Persönlichkeit schreiben. Ich weiß nicht, welche ich nehmen soll - es gibt so viele. Muss es nicht herrlich sein, wenn man berühmt ist und die Schulkinder auch dann noch Aufsätze über einen schreiben, wenn man schon längst tot ist? Ach, ich würde selbst gerne berühmt sein! - Wir machen auch jeden Tag Gymnastik. Das ist gut für die Haltung und für die Verdauung.«

»Verdauung? Was für ein Unfug!«, sagte Marilla, die für solche Methoden nicht viel übrig hatte.

Doch alle Naturkundenachmittage und Gedichtvorträge verblassten angesichts eines Planes, den Miss Stacy im November bekannt gab: Die Schüler und Schülerinnen von Avonlea würden an Weihnachten einen Vortragsabend veranstalten, dessen Einnahmen für die Anschaffung einer neuen Flagge für das Schulhaus verwendet werden sollten. Die Kinder nahmen den Plan begeistert auf und begannen noch am selben Tag mit den Vorbereitungen. Von allen Mitwirkenden war Anne Shirley die begeistertste. Mit Herz und Seele gab sie sich dem Plan hin. Sie hatte nur noch ein Hindernis zu überwinden: Marillas Zweifel.

»Diese Lehrerin setzt euch nur Flausen in den Kopf. Außerdem geht wichtige Zeit verloren, die ihr lieber auf euren Unterrichtsstoff verwenden solltet«, grollte sie. »Ich halte überhaupt nichts von der ganzen Sache.«

»Aber denk doch nur an den guten Zweck«, wandte Anne ein. »Eine neue Flagge für unser Schulhaus! Ist das nicht richtig patriotisch?«

»Dummes Zeug! Euch geht es doch nicht um Patriotismus. Ihr wollt nur euer Vergnügen haben.«

»Und wenn sich nun Patriotismus und Vergnügen verbinden lassen? Natürlich macht es Spaß, so einen Abend vorzubereiten. Der Chor wird sechs Lieder singen, Diana wird sogar mit einem Solo auftreten. Zwei kleine Stücke werden aufgeführt und ich werde zwei Gedichte vortragen, Marilla. Ich zittere am ganzen Leibe, wenn ich nur daran denke, aber es ist das freudigste Zittern, das man sich vorstellen kann. Am Schluss soll ein >liebendes Bild< gezeigt werden; es heißt >Glaube, Hoffnung und Nächstenliebe< Diana, Ruby und ich sind die Darstellerinnen. Wie tragen weiße Gewänder und offene Haare. Ich werde die Hoffnung sein ... die Hände falten ... schau, so ... und meine Augen zum Himmel richten. Oben in der Dachkammer werde ich jetzt immer meine Gedichte üben. Erschrick nicht, wenn du mich laut seufzen hörst, ich muss nämlich bei einem der Gedichte herzzerreißend seufzen, Marilla. -Josie Pye ist beleidigt, weil sie in einem der Stücke nicht die Rolle bekommen hat, die sie eigentlich spielen wollte. Aber sie könnte ja auch unmöglich die Feenkönigin spielen — oder hast du schon mal eine pummelige Feenkönigin gesehen? Jane Andrews hat jetzt die Rolle übernommen, ich spiele eines der Mädchen in ihrem Gefolge. Josie meint, eine rothaarige Fee wäre mindestens so lächerlich wie eine dicke, aber mir ist ganz egal, was Josie Pye meint. Ich werde einen Kranz weißer Rosen im Haar tragen. Ruby Gillis leiht mir ihre weißen Sandalen - eine Fee kann ja schließlich nicht in Stiefeln durch den Wald schweben, oder? - Den Saal wollen wir mit Zweigen und Papierblumen schmücken, und während das Publikum schon auf seinen Stühlen sitzt und Emma White auf der Orgel einen Marsch spielt, werden wir in Zweierreihen hereinkommen. Oh, Marilla, ich weiß genau, dass du dich über das alles nicht so begeistern kannst wie ich. Aber hoffst du nicht auch ein bisschen, dass deine kleine Anne vor dem Publikum bestehen wird?«

»Alles, was ich hoffe, ist, dass du dich anständig benimmst. Ich bin froh, wenn die ganze Aufregung vorüber ist und du dich wieder beruhigt hast. Wenn dein Kopf voll mit Stücken, Seufzern und >liebenden Bildern< ist, bist du zu nichts Vernünftigem zu gebrauchen.«

Anne zuckte ratlos mit den Schultern und begab sich in den Hinterhof, wo ein voller Mond durch die kahlen Pappeln schien, In seinem Licht spaltete Matthew Brennholz. Anne hockte sich auf einen dicken Holzstamm in seiner Nähe und sprach den ganzen Abend noch einmal mit ihm durch. Sie wusste, dass Matthew immer ein offenes Ohr und ein mitfühlendes Herz hatte.

»Nun, ich glaube, das wird ein schöner Abend werden. Und ich hoffe, dass du deine Sache gut machst«, sagte er schließlich und lächelte sie liebevoll an. Anne erwiderte sein Lächeln. Die beiden waren die besten Freunde und Matthew dankte insgeheim dem Schicksal, dass er nicht für Annes Erziehung verantwortlich war. Zum Glück war das Marillas Aufgabe. Hätte er sich daran beteiligen müssen, wäre er schon mehr als einmal in einen tiefen Zwiespalt zwischen Pflicht und Gefühlen geraten. Doch so, wie die Dinge lagen, konnte er Anne in aller Ruhe »verwöhnen«, wie Marilla sich ausdrückte. Alles in allem war das keine schlechte Regelung: Verwöhnen ist manchmal genauso wichtig wie eine gewissenhafte Erziehung.

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