20 - Anne verteidigt ihre Ehre

Die Ferienzeit verging wie im Fluge. Fast ein Monat war seit der Geschichte mit dem »Rheumakuchen« vergangen. Mrs Allan hatte Anne inzwischen ganz allein zu sich zum Tee eingeladen. Die beiden hatten sich miteinander angefreundet und das kleine Missgeschick war längst vergessen. Es war wohl langsam wieder an der Zeit, dass Anne in neue Schwierigkeiten geriet. Die letzten Wochen waren ohne Zwischenfälle verlaufen - von kleineren Missgeschicken wie einer versehentlich in den Wollkorb geschütteten Kanne Magermilch einmal abgesehen. Eine Woche nach Annes Einladung im Pfarrhaus gab Diana Barry eine Party.

»Im kleinsten Kreis«, versicherte Anne Marilla. »Nur für die Mädchen aus unserer Klasse.«

Es war ein lustiger Nachmittag und zunächst geschah auch weiter nichts Ungewöhnliches. Etwas erschöpft von ihren Spielen, ruhten sich die Mädchen nach dem Tee im Garten der Barrys aus. Sie waren genau in der richtigen Laune, um etwas Unseliges auszuhecken -und tatsächlich, sie kamen auf die Idee, »Mutproben« aufzustellen. Mutproben waren zu jener Zeit ein beliebter Zeitvertreib bei den Schulkindern von Avonlea. Eigentlich hatten die Jungen damit angefangen, aber die Mädchen ließen sich schon bald davon anstecken. Wenn man all die albernen Dinge aufzählen wollte, die in jenem Sommer in Avonlea unternommen wurden, um eine Mutprobe zu bestehen, so könnte man damit ein eigenes Buch füllen.

Zuerst bestimmte Carrie Sloane, dass Ruby Gillis in den alten Weidenbaum vor der Hautür klettern sollte - eine Aufgabe, die Ruby im Nu erledigte, obwohl sie große Angst vor den fetten grünen Raupen hatte, von denen es in der Weide nur so wimmelte, und außerdem vor ihrer Mutter, die sie fürchterlich ausschimpfen würde, wenn ihr mit ihrem neuen Musselinkleid etwas passierte.

Dann bestimmte Josie Pye, dass Jane Andrews auf ihrem linken Bein einmal um den Garten hüpfen sollte, ohne ein einziges Mal Pause zu machen oder ihren rechten Fuß auf den Boden zu stellen. Jane gab sich Mühe, musste aber an der dritten Ecke aufgeben und ihre Niederlage eingestehen.

Josie kostete ihren Triumph so weidlich aus, dass Anne sich für Josie eine besonders schwierige Aufgabe ausdachte: Sie sollte auf dem Lattenzaun balancieren, der den Garten von Orchard Slope im Osten begrenzte. Auf einem Zaun zu balancieren erforderte nämlich mehr Geschicklichkeit, als man meinen könnte. Aber wenn es Josie Pye auch an gewissen anderen Qualitäten mangelte, so war sie doch ein Naturtalent im Balancieren. Und so spazierte sie mit einer Unbekümmertheit über den Barry’schen Gartenzaun, die allen Anwesenden zeigen sollte, dass eine so lächerlich leichte Aufgabe eigentlich gar keine richtige Mutprobe war. Die.Mädchen zollten ihr - wenn auch widerwillig - große Bewunderung ob ihrer Heldentat. Sie konnten sich noch gut an ihre eigenen vergeblichen Versuche erinnern, auf einem Zaun zu balancieren. Siegesbewusst kam Josie zu den anderen Mädchen zurück und bedachte Anne mit einem stechenden Blick.

Anne warf ihre roten Zöpfe nach hinten. »Was ist denn schon dabei, ein paar Schrittchen auf einem lächerlichen Lattenzaun zu balancieren«, sagte sie schnippisch. »Ich kannte mal ein Mädchen in Marysville, das konnte auf dem Dachfirst spazieren gehen.«

»Das glaube ich nicht«, erwiderte Josie gelangweilt. »Ich glaube nicht, dass irgendjemand auf einem Dachfirst balancieren kann — und du schon gar nicht!«

»Wieso sollte ich das nicht können?«

»Gut, dann soll das deine Mutprobe sein«, verkündete Josie. »Ich bestimme, dass du dort über den Dachfirst von Mr Barrys Küche balancieren sollst.«

Anne wurde blass, aber sie sah keinen anderen Weg, ihre Ehre zu wahren. Also ging sie zum Haus und stieg mit Hilfe einer Leiter auf das Küchendach.

Die Mädchen unten im Gras hielten den Atem an. »Tu’s nicht, Anne!«, rief Diana laut. »Du wirst herunterfallen und dir das Genick brechen. Mach dir doch nichts aus Josie Pye. Es ist gemein, eine so gefährliche Mutprobe aufzustellen.«

»Ich muss es tun. Es geht um meine Ehre«, erwiderte Anne ernst. »Ich werde über den Dachfirst balancieren, Diana, oder ehrenhaft umkommen. Falls ich sterbe, sollst du meinen Perlenring bekommen.« Mit diesen Worte kletterte sie die Leiter bis zur obersten Sprosse empor, stieg auf den Dachfirst, richtete sich vorsichtig auf und begann, langsam einen Fuß vor den anderen zu setzen. Sie versuchte gar nicht erst nach unten zu schauen und musste bald feststellen, dass das Balancieren auf Dachfirsten eine Sache war, bei dem einem selbst die blühendste Phantasie nichts mehr nützte. Doch immerhin - sie kam einige Schritte vorwärts, bevor die Katastrophe ihren Lauf nahm. Dann fing sie an zu schwanken, verlor das Gleichgewicht, stolperte, rutschte schließlich über das schräge Dach nach unten und stürzte mit einem lauten Aufschrei in die Tiefe. Das alles geschah so schnell, dass ihre entsetzten Klassenkameradinnen erst jetzt einen Schreckensschrei von sich geben konnten.

Wäre Anne an der Seite des Daches hinuntergefallen, an der sie auch hinaufgeklettert war, wäre Diana mit ziemlicher Sicherheit rechtmäßige Erbin eines Perlenrings geworden. Doch zum Glück war sie zu der Seite gefallen, an der das Dach bis tief über die Veranda reichte, sodass der Sturz nicht ganz so gefährlich war.

Als Diana und die anderen Mädchen um das Haus gelaufen kamen, fanden sie Anne ganz bleich und schlaff am Boden liegend vor. »Anne, bist du tot?«, schrie Diana und warf sich schluchzend neben ihre Freundin auf die Knie. »Oh, Anne, liebe Anne, sag doch was! Sag, dass du lebst, Anne!«

Zur riesengroßen Erleichterung aller Mädchen - ganz besonders Josie Pyes, die sich, obwohl sie nicht gerade mit Phantasie gesegnet war, bereits in den schrecklichsten Farben ausgemalt hatte, wie es sein würde, ein Leben lang als das Mädchen zu gelten, das Anne Shirleys frühen, tragischen Tod herbeigeführt hatte - setzte sich Anne vorsichtig auf und sagte mit schwacher Stimme. »Nein, Diana, ich bin nicht tot. Aber ich glaube, ich habe mich verletzt.«

»Wo?«, schluchzte Carrie Sloane. »Wo denn, Anne?«

Doch bevor Anne antworten konnte, erschien Mrs Barry auf der Bildfläche. Anne versuchte auf die Beine zu kommen, sank jedoch mit einem lauten Schmerzensschrei wieder zurück auf den Boden.

»Was geht hier vor? Hast du dir weh getan?«, wollte Mrs Barry wissen.

»Mein ... Fuß ...«, stammelte Anne. »Bitte, Diana, hol deinen Vater und frag ihn, ob er mich nach Hause bringen kann. Ich fürchte, ich kann keinen einzigen Schritt mehr tun. Und ich glaube auch nicht, dass ich den ganzen Weg auf einem Bein hüpfen kann, wenn Jane es nicht einmal ganz um den Garten herum geschafft hat.«

Marilla war gerade beim Äpfeipflücken im Obstgarten, als sie Mr Barry, seine Frau und eine ganze Prozession von Mädchen über die Holzbrücke kommen sah. Auf dem Arm trug Mr Barry die kleine Anne, deren Kopf schlaff gegen seine Schulter baumelte.

Dieser Moment war wie eine Offenbarung für Marilla. Der plötzliche stechende Schmerz in ihrer Brust zeigte ihr, wie viel Anne ihr mittlerweile bedeutete. Bisher hatte sie immer gesagt, dass sie Anne mochte oder sie sehr gern hatte. Aber als sie jetzt mit großen Schritten den Abhang zur Brücke hinunterlief, wusste sie, dass Anne ihr lieber geworden war als alles andere auf der Welt.

»Mr Barry, ist ihr etwas zugestoßen?«, rief sie aufgeregt. Ihr Gesicht war blasser, als man das bei der stets so beherrschten, vernünftigen Marilla seit Jahren gesehen hatte.

Anne hob mühsam den Kopf. »Keine Angst, Marilla, ich bin nur vom Dachfirst gefallen und habe mir den Fuß verstaucht. Aber ich hätte mir natürlich genauso das Genick brechen können. Lass es uns von dieser Seite betrachten.«

»Ich hätte wissen müssen, dass du wieder irgendeinen Unfug anstellst, wenn ich dich auf die Party gehen lasse«, sagte Marilla streng und doch spürbar erleichtert. »Bringen Sie sie herein, Mr Barry, und legen Sie sie auf das Sofa. Ach, du liebe Güte, das Kind ist in Ohnmacht gefallen!«

Von Schmerz und Aufregung überwältigt, hatte Anne das Bewusstsein verloren - ein alter Traum von ihr war in Erfüllung gegangen. Matthew, der eilig vom Feld herbeigelaufen kam, holte den Doktor, der nach kurzer Untersuchung feststellte, dass die Verletzung ernsthafter war, als man zunächst angenommen hatte: Annes Knöchel war gebrochen.

Als Marilla an jenem Abend in den Ostgiebel hinaufging, begrüßte Anne sie mit einem schwachen Lächeln.

»Tu ich dir nicht sehr Leid, Marilla?«

»Es war deine eigene Schuld«, antwortete Marilla, klappte die Fensterläden zu und zündete eine Lampe an.

»Das ist es ja, warum ich dir Leid tun sollte«, sagte Anne. »Gerade die Tatsache, dass es meine Schuld war, macht es mir so schwer. Wenn ich jemand anderem die Schuld geben könnte, wäre mir viel wohler. Aber was hättest denn du gemacht, wenn jemand dich herausgefordert hätte, auf dem Dachfirst zu balancieren?«

»Ich wäre auf dem festen, sicheren Erdboden geblieben und hätte die anderen balancieren lassen.«

Anne seufzte. »Du hast so viel Willenskraft, Marilla. Ich habe gar keine. Ich hatte nur das Gefühl, dass ich Josie Pyes Gespött nicht ertragen könnte. Sie hätte mich mein ganzes Leben lang damit aufgezogen. Und ich glaube, ich bin schon genug bestraft worden, du brauchst mir nicht mehr böse zu sein. Es ist nämlich überhaupt nicht schön, in Ohnmacht zu fallen. Und der Doktor hat mir fürchterlich weh getan, als er meinen Knöchel geschient hat. Ich kann sechs oder sieben Wochen lang nicht laufen, ich werde also auch den Schulanfang verpassen - ausgerechnet jetzt, wo wir eine neue Lehrerin bekommen. Mrs Allan hat mir erzählt, sie hieße Miss Muriel Stacy. Ist das nicht ein wunderschöner Name? - Gil... ich meine, die anderen werden mir schon weit voraus sein, wenn ich wieder zur Schule gehen kann. Ach, ich werde vom Unglück verfolgt! Aber ich werde versuchen, alles tapfer zu ertragen, wenn du mir nur nicht böse bist, Manila.«

»Nein, nein, ich bin dir nicht böse«, beruhigte Marilla sie. »Du bist ein rechter Pechvogel, daran gibt es gar keinen Zweifel. Komm, ich habe dir etwas zu essen mitgebracht.«

»Zum Glück habe ich viel Phantasie«, bemerkte Anne nach einer Weile. »Die werde ich jetzt bestimmt gut gebrauchen können. Was machen bloß all die Leute, die keinen Funken Phantasie besitzen, wenn sie sich die Knochen brechen, Marilla?«

Anne hatte in den nun folgenden sieben langen Wochen allen Grund, für ihre Phantasie dankbar zu sein. Aber sie brauchte sich nicht gänzlich auf sie zu beschränken. Sie bekam viel Besuch und es verging kaum ein Tag, an dem nicht eine ihrer Mitschülerinnen vorbeischaute, ihr ein paar Blumen oder Bücher mitbrachte und ihr von den Neuigkeiten in der Schule erzählte.

»Alle sind so gut und lieb zu mir gewesen, Marilla«, seufzte Anne glücklich, als sie zum ersten Mal mit ihrer Hilfe durchs Zimmer humpeln konnte. »Es ist zwar nicht gerade angenehm, krank im Bett zu liegen, aber es hat auch seine guten Seiten: Man merkt auf einmal, wie viele Freunde man hat. Selbst Superintendent Bell hat mich besucht. Er ist wirklich ein ganz netter Mensch - keine verwandte Seele zwar, aber ich mag ihn trotzdem. Er hat mir erzählt, wie er sich als kleiner Junge auch einmal den Knöchel gebrochen hat. Allerdings bin ich da an eine Grenze meiner Phantasie gestoßen. Wenn ich mir Superintendent Bell als kleinen Jungen vorstelle, trägt er immer noch seinen grauen Schnurrbart und seine Brille. Sich Mrs Allan als kleines Mädchen vorzustellen ist da viel einfacher. Mrs Allan hat mich vierzehnmal besucht, war das nicht lieb von ihr, Marilla? Wo eine Pfarrersfrau doch so viele Pflichten hat! Sogar Josie Pye ist mich besuchen gekommen. Ich habe sie so höflich wie möglich empfangen. Ich glaube, es hat ihr ehrlich Leid getan, dass sie mir eine so gefährliche Mutprobe gestellt hatte. Wäre ich dabei umgekommen, hätte die Reue über diese Tat ihr ganzes Leben überschattet.

Diana war eine treue Freundin. Sie ist jeden Tag bei mir gewesen, um mir die Zeit zu vertreiben. Aber ich werde froh sein, wenn ich endlich wieder in die Schule gehen kann. Ich habe so aufregende Sachen von unserer neuen Lehrerin gehört. Die Mädchen schwärmen alle für sie und Diana sagt, sie hat wunderschönes blondes, lockiges Haar und ausdrucksvolle Augen. Sie trägt die besten Kleider und hat die größten Puffärmel von ganz Avonlea. Jeden Freitagnachmittag lässt sie Gedichte und kleine Theaterstücke vortragen. Ach, das muss himmlisch sein! Josie Pye meint, sie könnte es nicht ausstehen, aber das kommt bestimmt nur daher, weil sie so phantasielos ist. Diana, Ruby Gillis und Jane Andrews bereiten gerade ein Stück für nächsten Freitag vor. Miss Stacy ist auch schon mehrmals mit den Schülern nach draußen gegangen und hat mit ihnen die Gräser, Blumen und Vögel untersucht. Jeden Morgen und jeden Nachmittag gibt es Gymnastik. Mrs Lynde sagt, so etwas hätte sie noch nie gehört - das käme davon, wenn man eine Lehrerin einstellt. Aber ich stelle es mir wunderbar vor und ich wette, Miss Stacy ist eine verwandte Seele.«

»Eines ist jedenfalls klar, Anne«, sagte Marilla. »Die Zunge hast du dir nicht verstaucht, als du von Mr Barrys Dachfirst gefallen bist.«

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