26 - Miss Stacy macht einen Vorschlag

Marilla legte ihr Strickzeug in den Schoß und lehnte sich in ihrem Sessel zurück. Ihre Augen schmerzten. Das nächste Mal, wenn sie in der Stadt war, müsste sie ihre Brille erneuern lassen, ihre Augen wurden in letzter Zeit schnell müde.

Es war November und abends schon sehr früh dunkel. Das einzige Licht in der Küche kam von dem rot glühenden Ahornholz im Ofen. Mit verschränkten Beinen hockte Anne auf dem Boden und starrte unverwandt in die tanzenden Flammen. Sie hatte gelesen, doch ihr Buch war auf den Boden geglitten. In ihren Träumen bestand sie in fernen Ländern wunderbare Abenteuer, die mit den Missgeschicken ihres täglichen Lebens wenig zu tun hatten.

Marilla betrachtete das Mädchen mit einer Zärtlichkeit, die sie in einem helleren Licht als dieser sanften Mischung aus Feuerschein und Schatten nie zu zeigen gewagt hätte. Offen über ihre Zuneigung zu sprechen und sie in Worten und Blicken auszudrücken - das war etwas, was Marilla Cuthbert in ihrem Leben wohl nie mehr lernen würde. Aber sie hatte gelernt, dieses Mädchen zu lieben, und gerade weil sie dieses Gefühl in sich verbarg, spürte sie es manchmal umso stärker. Sie hatte Angst, vor lauter Liebe zu nachsichtig mit Anne zu werden. Es kam ihr sündhaft vor, ihr Herz so sehr an einen anderen Menschen zu hängen. Vielleicht legte sie sich selbst, ohne es zu wissen, dafür eine Art Strafe auf, indem sie nach außen hin strenger und härter war, als es eigentlich ihren Gefühlen entsprach. Anne wusste nicht, wie sehr Marilla sie liebte. Manchmal dachte sie traurig, dass es sehr schwer war, Marilla zufriedenzustellen, und dass es der alten Frau an Mitgefühl und Verständnis fehlte. Doch dann fiel ihr immer wieder ein, wie viel sie Marilla verdankte.

»Anne«, brach Marilla plötzlich das Schweigen, »Miss Stacy war heute Nachmittag hier, als du draußen mit Diana gespielt hast.«

Erschreckt fuhr Anne aus ihren Träumen hoch. »Wirklich? Oh, wie schade, dass ich nicht da war. Warum hast du mich nicht gerufen, Marilla? Was wollte sie denn?«

»Wir haben uns über dich unterhalten«, antwortete Marilla.

»Über mich?« Anne sah Marilla ängstlich an. Dann errötete sie und sagte schnell: »Oh, ich weiß schon, was sie gesagt hat. Ich wollte es dir erzählen, Marilla - ehrlich! Ich habe es nur vergessen. Miss Stacy hat mich erwischt, als ich gestern Nachmittag in der Geschichtsstunde heimlich >Ben Hur< gelesen habe. Jane Andrews hat mir das Buch geliehen. Ich habe in der Mittagspause darin gelesen, und gerade als das Wagenrennen begann, hat es zur Stunde geschellt. Ich musste einfach wissen, wer das Rennen gewonnen hat, also las ich unter der Bank weiter. Es war so spannend, dass ich gar nicht bemerkte, wie Miss Stacy zu meinem Platz kam. Auf einmal stand sie neben mir und schaute mich vorwurfsvoll an. Ich kann dir gar nicht sagen, wie sehr ich mich geschämt habe, Marilla - besonders, als ich auch noch Josie Pye kichern hörte. Miss Stacy hat mir >Ben Hur< weggenommen, aber gesprochen hat sie mit mir erst nach der Schule. Sie meinte, ich hätte wertvolle Zeit verschwendet, in der ich lieber hätte lernen sollen, und außerdem hätte ich versucht, meine Lehrerin zu täuschen. Es war mir furchtbar unangenehm, Marilla, und ich habe Miss Stacy angeboten, dass ich zur Strafe >Ben Hur< eine Woche lang nicht aufschlagen würde - noch nicht einmal, um zu schauen, wie das Wagenrennen ausgeht. Aber Miss Stacy meinte, das sei nicht nötig und sie würde mir auch so verzeihen und mir vertrauen, dass ich es nicht wieder tun würde. Deshalb finde ich es eigentlich nicht besonders nett von ihr, dass sie zu dir gekommen ist, um dir alles zu erzählen.«

»Sie hat diese Geschichte mit keinem Wort erwähnt, Anne. Es ist nur dein schlechtes Gewissen, das dich quält«, entgegnete Marilla. »Sie ist wegen einer ganz anderen Angelegenheit gekommen. Es geht darum, dass sie für ihre besten Schüler eine Art Zusatzunterricht einführen möchte, um euch auf die Aufnahmeprüfung für das Queen’s College vorzubereiten. Sie wollte Matthew und mich fragen, ob wir damit einverstanden sind, dass du daran teilnimmst. Was meinst du dazu, Anne? Würdest du gerne aufs Queen’s College gehen und Lehrerin werden?«

»Oh, Marilla!« Anne stand auf und klatschte begeistert in die Hände. »Davon träume ich schon mein ganzes Leben lang - oder wenigstens seit sechs Monaten. Damals haben Ruby und Jane nämlich davon erzählt, dass sie an der Aufnahmeprüfung teilnehmen wollen. Ich habe euch bloß nichts davon gesagt, weil ich dachte, es hätte sowieso keinen Zweck. Ich würde so gerne Lehrerin werden! Aber wird das nicht fürchterlich teuer sein? Mr Andrews sagt, es hätte ihn einhundertfünfzig Dollar gekostet, Prissy dort unterzubringen - und Prissy ist keine Niete in Geometrie.«

»Darüber brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Als Matthew und ich uns entschlossen haben dich aufzunehmen, haben wir uns geschworen, dass du es gut bei uns haben und auch eine ordentliche Ausbildung bekommen sollst, ich finde, dass ein junges Mädchen in der Lage sein sollte, sich selbst zu ernähren - ob es das später einmal braucht oder nicht. Solange Matthew und ich da sind, wirst du auf Green Gables immer ein Zuhause haben, aber wer weiß, was noch geschieht . . . Man muss auf alles vorbereitet sein. Wenn du willst, kannst du also an Miss Stacys Zusatzunterricht teilnehmen.«

»Oh, Marilla, ich danke dir!« Anne schlang beide Arme um Marilla und sah ihr ernst ins Gesicht. »Ich bin dir und Matthew sehr dankbar. Und ich werde fleißig sein und alles tun, was ich kann, um euch Ehre zu machen. Allerdings muss ich euch warnen: In Geometrie dürft ihr nicht allzu viel von mir erwarten. In allen anderen Fächern kann ich aber bestimmt gut mithalten.«

»Du wirst es schon schaffen. Miss Stacy sagt, du seist klug und eifrig bei der Sache.« Nicht um alles in der Welt hätte Marilla Anne preisgegeben, was Miss Stacy wirklich gesagt hatte - damit hätte sie ja nur Annes Eitelkeit geschmeichelt. »Du brauchst dich also nicht ganz und gar in deinen Büchern zu vergraben. Es gibt keine Eile, weil du dich sowieso erst in anderthalb Jahren für die Aufnahmeprüfung anmelden kannst. Doch Miss Stacy meint, es sei gut, beizeiten mit der Vorbereitung zu beginnen und die Grundlagen zu legen.«

»Das Lernen wird mir von nun an noch viel mehr Spaß machen, weil ich jetzt ein Ziel habe«, sagte Anne strahlend. »Mr Allan sagt, jeder von uns sollte seinem Leben ein Ziel geben und es dann unbeirrt verfolgen. Allerdings müsste man erst einmal sicher sein, dass das Ziel auch gut und würdig ist. Aber Lehrerin zu werden - das müsste eigentlich ein würdiges Ziel sein, meinst du nicht auch, Marilla? Lehrerin ist ein so nobler Beruf!«

Kurze Zeit später hatten die Kandidaten für das Queen’s College ihre erste Unterrichtsstunde. Die Gruppe bestand aus Gilbert Blythe, Anne Shirley, Ruby Gillis, Jane Andrews, Josie Pye, Charlie Sloane und Moody Spurgeon MacPherson. Diana Barry durfte nicht mit dabei sein, ihre Eltern waren dagegen. Darüber war Anne sehr traurig. Seit der Nacht, in der sie Minnie May das Leben gerettet hatte, waren Diana und Anne sich nicht mehr von der Seite gewichen. Als sie Diana zum ersten Mal nach dem normalen Unterricht allein durch den »Birkenpfad« und das »Veilchental« nach Hause gehen sah, war es Anne, als könne sie auf ihrem Platz nicht sitzen bleiben, sondern müsse aufspringen und ihrer Freundin hinterherlaufen. Schnell versteckte sie sich hinter der großen lateinischen Grammatik, damit niemand ihre Tränen sehen konnte. Um keinen Preis sollten Gilbert Blythe oder Josie Pye sie weinen sehen!

»Ach, Marilla, ich meinte wirklich, >die Bitterkeit des Todes zu spüren<, wie Mr Allan am letzten Sonntag in seiner Predigt sagte«, erzählte sie Marilla am Abend. »Wie herrlich wäre es doch, wenn Diana sich auch auf die Aufnahmeprüfung vorbereiten könnte. Aber auf dieser Welt kann man wohl nicht alles haben ... Ich glaube, der Zusatzunterricht wird mächtig interessant werden. Jane und Ruby wollen auch das Lehrerexamen machen. Ruby meint, sie wolle nach dem Examen nur ein oder zwei Jahre unterrichten und dann heiraten. Jane dagegen will sich ihr ganzes Leben lang der Schule widmen und unverheiratet bleiben. Als Lehrerin würde man wenigstens bezahlt, meinte sie, während ein Ehemann schon murrt, wenn die Frau ihren Anteil am Butter- und Eiergeld verlangt. Wahrscheinlich spricht Jane aus trauriger Erfahrung. Mrs Lynde sagt, ihr Vater sei ein schrecklicher alter Griesgram und geiziger als die Schotten. - Josie Pye will nur wegen der Bildung aufs College gehen. Sie habe es nicht nötig, später selbst Geld zu verdienen. Bei Waisenkindern, die auf die Nächstenliebe anderer angewiesen wären, sei das natürlich etwas anderes, meinte sie. Moody Spurgeon will Pfarrer werden. Ich hoffe, du denkst nicht schlecht von mir, wenn ich das sage, Marilla, aber wenn ich mir Moody Spurgeon als Pfarrer vorstelle, muss ich lachen. Er sieht aber auch zu komisch aus mit seinem runden Gesicht, seinen kleinen blauen Augen und den riesigen Segelohren. - Charlie Sloane will in die Politik gehen und Abgeordneter werden, aber Mrs Lynde sagt, das würde er nicht schaffen. Die Sloanes seien immer ehrliche Leute gewesen und heutzutage hätten in der Politik nur die größten Gauner eine Chance.«

»Und was hat Gilbert Blythe vor?«, wollte Marilla wissen, der nicht entgangen war, dass Anne bei ihrer Aufzählung einen Namen ausgelassen hatte.

»Ich habe keine Ahnung, welches Ziel Gilbert Blythe im Leben verfolgt - falls er überhaupt eins hat«, erwiderte Anne verächtlich. Zwischen Anne und Gilbert war mittlerweile eine offene Rivalität ausgebrochen. Früher war der Wettkampf eher nur von Annes Seite geführt worden, doch jetzt bestand kein Zweifel mehr daran, dass auch Gilbert Blythe verbissen darum kämpfte, Klassenbester zu werden. Anne und Gilbert waren ebenbürtige Gegner. Die anderen Schüler erkannten die Überlegenheit der beiden an und dachten nicht im Traum daran, es mit ihnen aufzunehmen.

Seit dem Tag, als Anne am See Gilberts Bitte, ihm doch zu verzeihen, abgelehnt hatte, tat Gilbert seinerseits nun ebenfalls so, als würde es ein Mädchen namens Anne in Avonlea überhaupt nicht geben. Er redete und lachte mit den anderen Mädchen, tauschte Bücher und Puzzles mit ihnen aus, besprach den Unterricht und seine Pläne mit ihnen und begleitete ab und zu eines von ihnen nach der Schule nach Hause. Nur Anne Shirley überging er einfach; er behandelte sie wie Luft. Anne merkte, dass es nicht angenehm war, wie Luft behandelt zu werden. Vergeblich versuchte sie sich einzureden, dass es ihr vollkommen egal sei. Tief in ihrem Herzen wusste sie, dass es ihr keineswegs egal war und dass sie - wenn sie noch einmal die Möglichkeit gehabt hätte - mit Gilbert Freundschaft geschlossen hätte. Ihr Groll gegen ihn war wie weggeblasen, wie sie sich eingestehen musste. Auch wenn sie sich noch so oft in Erinnerung rief, wie tief er sie gekränkt hatte - seit dem Tag am »See der glitzernden Wasser« konnte sie den alten Zorn nicht mehr heraufbeschwören. Nachträglich sah Anne ein, dass sie die alte Geschichte schon längst vergessen und vergeben hatte, ohne es zu merken. Doch nun war es zu spät.

Wenn es sich schon nicht mehr ändern ließ, dann sollte wenigstens weder Gilbert noch sonst irgendjemand - ja, noch nicht einmal Diana - jemals erfahren, wie Leid es ihr tat. Sie beschloss ihre wahren Gefühle vor aller Welt zu verbergen, was ihr so gut gelang, dass Gilbert - dem Anne längst nicht so gleichgültig war, wie er vorgab - keinerlei Anzeichen dafür entdecken konnte. Seine Nichtbeachtung, die als bloße Rache gedacht war, schien ihr überhaupt nichts auszumachen. Sein einziger Trost bestand darin, dass Anne ihren Verehrer Charlie Sloane immer wieder gnadenlos vor den Kopf stieß.

Bei den täglichen Freuden und Pflichten verging der Winter schnell. Wie lauter goldene Perlen an einem langen Halsband erschienen Anne die prall gefüllten Tage, und ehe sie sich’s versehen hatte, kam auch schon der Frühling wieder und rings um Green Gables fing die Natur zu blühen an.

Zu dieser Zeit verlor selbst der interessanteste Unterricht seinen Reiz. Mit sehnsüchtigen Augen saßen die Schüler und Schülerinnen, die sich auf das College vorbereiteten, in ihrem Klassenzimmer und schauten aus dem Fenster, während die anderen Kinder schon draußen über die grünen Wiesen sprangen. Die lateinischen Verben und französischen Sätze hatten ihre Anziehungskraft verloren. Selbst Anne und Gilbert ließen in ihrem Lerneifer spürbar nach. Lehrerin und Schüler waren gleichermaßen froh, als das Schuljahr zu Ende war und die langen Sommerferien vor ihnen lagen.

»Ihr habt sehr gute Arbeit geleistet«, sagte Miss Stacy am letzten Schultag, »und euch eine fröhliche, unbeschwerte Ferienzeit verdient. Ich hoffe, dass ihr in dieser Zeit für das nächste Schuljahr richtig Kraft schöpfen könnt. Dann wird es nämlich ernst: Das letzte Jahr vor der Aufnahmeprüfung beginnt.«

»Werden Sie nach den Ferien wieder kommen, Miss Stacy?«, fragte Josie Pye.

Diesmal waren ihre Mitschüler dankbar für Josies Neugierde, denn es hatte Gerüchte gegeben, dass Miss Stacy nicht als Lehrerin nach Avonlea zurückkehren würde, weil man ihr eine Stelle in ihrer Heimatstadt angeboten hatte. Gespannt hielten sie den Atem an.

»Ja, ich werde zurückkommen«, antwortete Miss Stacy. »Ich hatte zwar daran gedacht, an eine andere Schule zu gehen, aber dann habe ich mich doch dafür entschieden, in Avonlea zu bleiben. Um die Wahrheit zu sagen: Ich habe euch so ins Herz geschlossen, dass ich euch jetzt nicht im Stich lassen will. Ich werde euch bis zur Prüfung führen.«

»Hurra!«, rutschte es Moody Spurgeon heraus, der sich bisher selten eine Gefühlsregung hatte anmerken lassen. Gleich darauf wurde er knallrot und schaute beschämt vor sich hin.

»Ach, ich bin ja so froh!«, rief Anne mit glänzenden Augen. »Liebe Miss Stacy, es wäre zu schrecklich gewesen, wenn Sie nicht zurückgekommen wären. Ich glaube nicht, dass ich das überlebt hätte.« Am selben Abend noch verstaute Anne alle ihre Schulbücher in einem alten Koffer auf dem Dachboden, schloss ihn ab und versteckte den Schlüssel an einem sicheren Ort.

»Keine Angst, Marilla, ich werde sie nach den Ferien schon wieder herausholen. Aber diesen Sommer will ich nach Herzenslust genießen. Wahrscheinlich ist es der letzte Sommer, den ich noch als kleines Mädchen erleben werde. Mrs Lynde sagt, wenn ich weiter so in die Höhe schießen würde, müsste ich bald längere Kleider tragen! Und wenn ich längere Kleider trage, dann werde ich mich auch gleich viel erwachsener und ernster fühlen — das weiß ich jetzt schon. Ich fürchte, ich werde dann noch nicht einmal mehr an Feen glauben, Marilla. Deshalb bin ich fest entschlossen, es diesen Sommer noch einmal so richtig ausführlich zu tun. - Ach, es werden wunderbare Ferien sein! Ruby Gillis wird bald ihre Geburtstagsparty geben und nächsten Monat findet das Sonntagspicknick statt. Mr Barry will an einem Abend mit Diana und mir ins White Sands Hotel zum Essen ausgehen. Jane Andrews war letzten Sommer dort essen. Es muss ein wunderbares Erlebnis sein, all die elektrischen Lampen und die vornehmen Damen zu sehen. Jane meinte, sie würde noch auf ihrem Sterbebett daran denken.«

Am nächsten Tag kam Mrs Lynde nach Green Gables, um zu fragen, warum Manila beim letzten Mal nicht zur Versammlung des Frauenhilfswerks gekommen war. Wenn Manila dort nicht erschien, musste etwas nicht in Ordnung sein.

»Matthew hatte am Donnerstag wieder Flerzbeschwerden«, erklärte Manila, »und ich wollte ihn nicht alleine lassen. Es geht ihm jetzt schon wieder besser, aber ich mache mir Sorgen um ihn. Der Doktor sagt, er müsse vorsichtig sein und dürfe sich nicht aufregen - als ob Matthew je in seinem Leben auf Aufregung aus war! Aber er hat auch gesagt, Matthew dürfe nicht mehr so hart arbeiten, und versuch du mal Matthew von der Arbeit abzuhalten - da könnte man ihm genauso gut das Atmen verbieten. Komm, setz dich doch, Rachel. Möchtest du nicht zum Tee bleiben?«

»Nun, da du mich so nötigst, kann ich wohl schlecht nein sagen«, antwortete Mrs Rachel, die freilich nie die geringste Absicht gehegt hatte, Marillas Einladung auszuschlagen.

Also setzten sich Mrs Rachel und Manila gemütlich in den Salon, während Anne den Tee aufgoss und selbst gebackene Kekse servierte, die hell und weich genug waren, um selbst vor Mrs Rachels gestrengen Augen bestens zu bestehen.

»Ich muss schon sagen, Anne hat sich zu einem sehr geschickten jungen Mädchen entwickelt«, gab Mrs Rachel zu, als Manila sie später noch bis zum Hohlweg begleitete. »Sie ist sicherlich eine große Hilfe für dich.«

»Ja, das stimmt«, sagte Marilla, »und sie ist sehr fleißig und zuverlässig geworden. Ich hatte schon Angst, sie würde diese Flausen nie loswerden, aber jetzt würde ich ihr in jeder Hinsicht vertrauen.«

»Ich hätte nie gedacht, dass sie sich so mausern würde, als ich sie vor drei Jahren zum ersten Mal gesehen habe«, sagte Mrs Rachel. »Liebe Güte! Ich werde nie vergessen, wie sie damals ihren Wutanfall bekam! An jenem Abend sagte ich zu Thomas: >Denk an meine Worte, Thomas. Marilla Cuthbert wird ihren Entschluss noch bitter bereuen.< Aber ich hatte Unrecht und ich bin froh darüber. Ich gehöre nicht zu jenen Leuten, die ihre eigenen Fehler nicht eingestehen können nein, das war noch nie meine Art und ich danke dem Himmel dafür. Ich habe einen Fehler gemacht, als ich Anne in Bausch und Bogen verurteilte. Allerdings war das auch kein Wunder, wenn man bedenkt, was für eine seltsame, unberechenbare kleine Hexe sie war! Mit den normalen Methoden der Kindererziehung war ihr nicht beizukommen. Es ist unglaublich, wie sie sich in den letzten drei Jahren gemacht hat - besonders auch im Aussehen. Sie ist ein richtig hübsches Mädchen geworden, obgleich ich nicht sagen kann, dass blasse, großäugige Mädchen mein Typ Kind sind. Die brünetten, kräftigen Mädchen wie Diana Barry und Ruby Gillis gefallen mir besser. Aber es ist seltsam ... ich weiß nicht genau, wie das kommt, aber wenn Anne und sie zusammen sind, sehen die anderen beiden neben ihr gewöhnlich und irgendwie aufgedonnert aus. Sie ist wie eine kleine weiße Narzisse unter großen roten Pfingstrosen - jawohl!«

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