16 - Zurück in der Schule

Am folgenden Nachmittag saß Anne am Küchenfenster und beugte sich über ihre Näharbeit. Ab und zu schaute sie gedankenverloren nach draußen. Da fiel ihr Blick plötzlich auf Diana, die völlig unerwartet aus dem Hohlweg vor Green Gables auftauchte. Im Handumdrehen war Anne aus dem Haus und lief ihrer Freundin entgegen. Erstaunen und Hoffnung schimmerten in ihren Augen. Doch die Hoffnung schwand, als sie Dianas niedergeschlagenes Gesicht sah. »Deine Mutter hat noch nicht nachgegeben?«

Diana schüttelte traurig den Kopf. »Sie sagt, ich darf nie wieder mit dir spielen. Ich habe geweint und gebettelt und ihr versichert, dass es nicht deine Schuld war, aber es hat nichts genutzt. Es war schon schwierig genug, auch nur die Erlaubnis zu bekommen, dir wenigstens noch Lebewohl zu sagen. Sie hat mir nur zehn Minuten gegeben und gesagt, sie würde genau auf die Uhr schauen.«

»Zehn Minuten! Das ist nicht gerade lang für einen Abschied auf ewig.« Anne standen dicke Tränen in den Augen. »Oh, Diana, willst du mir versprechen, mir immer treu zu bleiben und die Freundin deiner Jugendtage nie zu vergessen, was für Menschen auch immer in dein Leben treten?«

»Das verspreche ich dir«, schluchzte Diana, »und ich werde nie eine andere Busenfreundin haben - ich könnte niemals jemanden so lieb haben wie dich.«

»Oh, Diana - du hast mich wirklich lieb?«

»Aber natürlich. Wusstest du das denn nicht?«

»Nein.« Anne seufzte tief. »Ich dachte, dass du mich magst, aber ich habe nie zu hoffen gewagt, dass du mich lieb hast. Sag es doch bitte noch einmal.«

»Ich habe dich lieb, Anne, und ich werde dich immer lieb haben, da kannst du dir ganz sicher sein.«

»Und ich werde dich auch immer lieb haben, Diana«, erwiderte Anne mit feierlich erhobener Hand. »Das Andenken an dich wird wie ein heller Stern über meinen einsamen Tagen leuchten - genau wie es in der Geschichte stand, die wir zusammen gelesen haben, weißt du noch? Gewährst du mir eine Locke von deinen wunderbaren schwarzen Flechten? Ich werde sie als ewiges Andenken an meinem Busen tragen.«

»Hast du etwas zum Schneiden dabei?« Diana wischte sich die Tränen ab und kehrte zu den praktischen Fragen des Lebens zurück.

»Ja, ich habe zufällig meine Schere in der Schürzentasche, ich war nämlich gerade beim Nähen«, antwortete Anne. Dann schnitt sie Diana feierlich eine Haarsträhne ab. »So leb denn wohl, meine geliebte Freundin. Von heute an müssen wir wie Fremde leben, doch in meinem Herzen wirst du ewig wohnen.«

Anne blieb am Hohlweg stehen und winkte Diana traurig nach, bis ihre kleine Gestalt wieder hinter den Büschen verschwunden war. Dieser romantische Abschied hatte sie mit dem Lauf der Dinge ein wenig versöhnen können.

»Jetzt ist alles aus«, sagte sie zu Marilla in der Küche. »Ich werde nie wieder eine Freundin haben. Dabei wird es viel schlimmer sein als vorher, denn wenn man einmal eine richtige Busenfreundin gehabt hat, weiß man, was man verloren hat. Diana hat mir eine Locke von ihrem Haar geschenkt und ich will mir einen kleinen Beutel nähen, in dem ich sie um den Hals tragen kann. Bitte, sorge dafür, dass der Beutel mir ins Grab gelegt wird, ich glaube nämlich nicht, dass ich noch lange leben werde. Vielleicht wird der Anblick meiner Leiche Mrs Barrys Herz erweichen und sie wird Diana zu meinem Begräbnis gehen lassen.«

»Ich glaube nicht, dass du an gebrochenem Herzen sterben wirst, solange du noch reden kannst, Anne«, gab Marilla trocken zurück.

Am folgenden Montagmorgen sah sie zu ihrer Überraschung Anne mit ihren Büchern unter dem Arm und einem entschlossenen Gesichtsausdruck aus ihrem Zimmer kommen.

»Ich gehe wieder zur Schule«, verkündete sie. »Das ist alles, was ich jetzt noch im Leben habe, seit man mir meine Freundin unbarmherzig entrissen hat. in der Schule kann ich sie wenigstens anschauen und unserer gemeinsamen Zeit gedenken.«

»Du solltest lieber deiner Rechen- und Schreibarbeiten gedenken«, sagte Marilla und verbarg mit ihrem strengen Tonfall die Freude über Annes Entscheidung. »Ich hoffe, wir werden nun nichts mehr von Schiefertafeln hören, die über anderer Leute Köpfe zerbrochen werden. Benimm dich gefälligst.«

»Ich werde versuchen eine Musterschülerin zu werden«, versprach Anne. »Das wird allerdings nicht gerade lustig sein, fürchte ich. Mr Philipps sagt, Minnie Andrews sei eine Musterschülerin und Minnie hat auch nicht einen Funken Phantasie. Sie ist langweilig und unscheinbar, sie kann sich über nichts richtig freuen. Aber wo ich jetzt sowieso traurig bin, wird es mir vielleicht auch nicht so schwer fallen.«

In der Schule wurde Anne mit offenen Armen empfangen. Beim Spielen hatte man ihre Phantasie vermisst, beim Singen ihre helle Stimme und beim Vorlesen in der Pause ihre schauspielerischen Fähigkeiten. Ruby Gillis schob ihr während der Bibelstunde drei dicke, saftige Pflaumen herüber und Ella May MacPherson schenkte ihr ein wunderschönes Bild von einem riesigen gelben Stiefmütterchen, das sie aus dem Umschlag eines Blumenkatalogs ausgeschnitten hatte. Sophia Sloane wollte ihr ein brandneues Muster zum Stricken feiner Spitze zeigen, Katie Boulter schenkte ihr ein leeres Parfümfläschchen, in dem sie Wasser zum Putzen ihrer Tafel aufbewahren konnte, und Julia Bell schrieb ihr die folgenden Zeilen auf ein Stück rosa Schreibpapier:


Für Anne

Wenn Dunkelheit die Welt umgibt,

Die Stern’ am Himmel stehen,

Dann weißt du, dass ein Mensch dich liebt,

Auch wenn er fern mag gehen.




»Es ist so schön, gemocht zu werden, Marilla«, schloss Anne ihren begeisterten Bericht am Abend.

Doch die Mädchen waren nicht die Einzigen in der Schule, die sie >mochten<. Als Anne nach der Mittagspause zurück zu ihrer Bank ging - Mr Philipps hatte ihr den Platz neben der Musterschülerin Minnie Andrews zugewiesen-, lag dort ein großer, rotbackiger Apfel auf ihrem Platz. Anne wollte gerade zu einem herzhaften Biss in den Apfel ansetzen, als ihr voller Schrecken einfiel, dass diese leckeren roten Äpfel nur an einem einzigen Ort in Avonlea zu bekommen waren: in dem alten Obstgarten der Blythe-Farm am anderen Ende des >Sees der glitzernden Wasser<. Anne ließ den Apfel fallen, als hätte sie eine glühende Kohle in der Hand, und wischte sich betont gründlich die Hände an ihrem Taschentuch ab. Der Apfel lag noch immer unberührt auf ihrem Tisch, als der kleine Timothy Andrews am nächsten Morgen den Klassenraum ausfegte und den Schatz an sich nahm. Der reich verzierte Griffel für zwei Cents -normale Griffel kosteten nur einen -, den Charlie Sloane ihr nach der Pause zusteckte, fand da schon eine freundlichere Aufnahme. Anne freute sich sichtlich über das Geschenk und belohnte den großzügigen Spender mit einem Lächeln, das den völlig in sie vernarrten Jungen in den siebten Himmel versetzte und ihn zu derart schlimmen Fehlern in seinem Diktat verleitete, dass Mr Philipps ihn nach der Schule nachsitzen und alles noch einmal schreiben ließ. Annes Freude über den herzlichen Empfang in der Schule wurde nur durch die Tatsache getrübt, dass Mrs Barry Diana verboten hatte, mit Anne zu sprechen. Doch die beiden Freundinnen schrieben sich innige Briefe, die sie mit großem Geschick von einer Seite des Klassenzimmers zur anderen schmuggelten und in denen sie sich weiterhin ewige Treue schworen.

Marilla hatte eigentlich nur mit neuen Schwierigkeiten gerechnet, als Anne wieder zur Schule ging. Doch alles ging gut. Vielleicht hatte das Beispiel ihrer neuen Banknachbarin, der Musterschülerin Minnie Andrews, doch etwas abgefärbt - jedenfalls kam sie von nun an mit Mr Philipps besser aus. Fest entschlossen, Gilbert Blythe in keiner Weise nachzustehen, stürzte Anne sich mit Herz und Seele in die Arbeit. Bald wuchs sich ihre Feindschaft zu einem heftigen Wettkampf um den Platz des Klassenbesten aus.

Während der von Natur aus gutmütige Gilbert durchaus noch auf Versöhnung aus war, hegte Anne nach wie vor einen bitteren Groll gegen ihn. Liebe und Hass waren bei ihr gleich starke Gefühle. Niemals hätte sie zugegeben, dass sie mit Gilberts Leistungen in der Schule wetteiferte, denn das hätte ja bedeutet, ihn in irgendeiner Weise anzuerkennen. Anne übersah Gilbert geflissentlich, sie tat so, als ob er Luft für sie wäre. Doch auch wenn Anne es nicht wahrhaben wollte: Die beiden versuchten nun ständig, sich gegenseitig zu überflügeln. Einmal war Gilbert der Beste in Rechtschreibung, ein anderes Mal Anne; an einem Morgen hatte Gilbert seine Hausaufgaben ohne Fehler erledigt und sein Name wurde auf den Ehrenplatz an der Tafel geschrieben, am nächsten Morgen nahm Annes Name diesen Platz ein. Es war ein Unglückstag für Anne, als sie einmal beide gleich gut waren und beide Namen zusammen an die Tafel geschrieben wurden. Für sie war das fast so schlimm, als wenn die Namen draußen an der Wand der Veranda gestanden hätten.

Wenn sie am Ende des Monats Arbeiten schrieben, war die Spannung fürchterlich. Im ersten Monat erreichte Gilbert die bessere Note, im zweiten Monat schlug ihn Anne mit einigem Vorsprung. Allerdings wurde ihr Triumph dadurch geschmälert, dass ihr Gilbert vor der ganzen Klasse freundlich gratulierte. Ihr wäre es lieber gewesen, er hätte niedergeschmettert den Raum verlassen.

Mr Philipps mochte kein besonders guter Lehrer gewesen sein, aber eine Schülerin, die so auf das Lernen versessen war wie Anne, konnte auch er nicht aufhalten. Am Ende des Schuljahrs wurden Anne und Gilbert beide in die fünfte Klasse versetzt und durften nun eine Reihe neuer Fächer hinzunehmen: Latein, Geometrie, Französisch und Algebra. In Geometrie wurde Anne jedoch bald eine Niederlage beschert.

»Es ist ein furchtbares, phantasieloses Zeug, Marilla«, stöhnte sie. »Ich werde einfach nicht daraus schlau. Mr Philipps sagt, ich sei die größte Niete in Geometrie, die er je gesehen hätte. Aber Gil . . . ich meine, einige von den anderen in der Klasse verstehen sofort, worum es dabei geht. Das ist ganz schön peinlich für mich, Marilla. Sogar Diana kommt besser damit zurecht als ich. Aber es macht mir nichts aus, wenn Diana besser ist. Obgleich wir jetzt wie Fremde leben müssen, ist meine Liebe für sie immer noch unauslöschlich. Manchmal bin ich sehr traurig, wenn ich an sie denke. Aber ehrlich gesagt, Marilla: In einer so interessanten Welt wie der unseren kann man einfach nicht lange traurig bleiben, oder?«

Загрузка...