18 - Eine unvermutete Seelenverwandtschaft

»Marilla, kann ich kurz zu Diana gehen?«, fragte Anne, als sie an einem Abend im Februar atemlos die Treppe zum Ostgiebel heruntergelaufen kam.

»Ich sehe keinen Grund, warum du jetzt noch draußen im Dunkeln herumspazieren solltest«, lehnte Marilla entschieden ab. »Du bist doch vorhin erst mit Diana von der Schule gekommen und ihr habt über eine halbe Stunde lang unten am Zaun gestanden und aufeinander eingeschwätzt.«

»Aber sie will mich dringend sprechen«, beharrte Anne auf ihrer Bitte. »Sie hat mir etwas ganz Wichtiges zu sagen.«

»Und woher willst du das wissen?«

»Weil sie mir gerade das Zeichen gegeben hat. Wir haben Signale ausgemacht, von meinem zu ihrem Fenster. Wir stellen eine Kerze auf die Fensterbank und halten dann mehrere Male ein Stück Pappe vor die Kerze. Soundso viel mal hell und wieder dunkel heißt dann immer etwas. Das war meine Idee, Marilla.«

»Das glaube ich dir aufs Wort«, gab Marilla aus vollstem Fierzen zurück. »Und als Nächstes werdet ihr mir mit diesem Unfug noch die Gardinen anzünden.«

»Ach, wie sind ganz vorsichtig, Marilla. Und es ist interessant. Zweimal helldunkel heißt >Bist du da?<, dreimal heißt >ja< und viermal >nein<. Fünfmal helldunkel heißt »Komm so schnell wie möglich herüber, ich muss dir etwas ganz Wichtiges erzählen/ Und eben gerade hat Diana fünfmal die Kerze aufleuchten lassen. Ich sterbe, wenn ich nicht herausfinde, was es ist.«

»Nun, so weit wollen wir es nun doch nicht kommen lassen«, lenkte Marilla lachend ein. »Du kannst gehen. Aber in genau zehn Minuten bist du wieder zurück, verstanden?«

Anne hatte verstanden und war auf die Minute pünktlich wieder da, obwohl es sie gewaltige Anstrengungen gekostet haben musste, das aufregende Gespräch mit Diana auf zehn Minuten zu beschränken. »Oh, Marilla, stell dir das vor: Diana hat morgen Geburtstag! Ihre Mutter hat gesagt, sie darf mich einladen. Ich kann nach der Schule mit ihr nach Hause kommen und die ganze Nacht dort bleiben. Ihre Cousinen aus Newbridge kommen morgen Abend mit dem Pferdeschlitten nach Orchard Slope und holen Diana und mich zum Ball des Debattierclubs ab ... das heißt, wenn du mich mitfahren lässt. Ach, bitte, Marilla, ich darf doch mit, ja? Ich bin schon so aufgeregt!«

»Schlag dir das nur gleich aus dem Kopf, Anne. Du wirst nicht mitfahren. In deinem Bett bist du besser aufgehoben als auf irgendeinem Ball. Ich halte überhaupt nichts von solchen Veranstaltungen und erst recht nichts davon, kleine Mädchen an ihnen teilnehmen zu lassen.«

»Aber der Debattierclub ist der anständigste Verein der Welt, Marilla, da bin ich ganz sicher«, beteuerte Anne.

»Ich habe auch nicht das Gegenteil behauptet. Aber ich will nicht, dass du an irgendwelchen Bällen teilnimmst und die halbe Nacht außer Haus verbringst. Wir wollen gar nicht erst damit anfangen. Ich kann mich nur wundern, dass eine Frau wie Mrs Barry ihre Tochter mitfahren lässt.«

»Aber es ist ein ganz besonderes Ereignis«, warf Anne ein. Sie war den Tränen nahe. »Diana hat doch nur einmal im Jahr Geburtstag und Geburtstage sind keine gewöhnlichen Tage, Marilla. Prissy Andrews wird ein Gedicht aufsagen - ein Gedicht mit einer Moral drin, so weit ich weiß. Du siehst also, ich kann dort sogar noch etwas lernen. Der Chor wird vier Lieder singen - vier ganz feierliche Lieder, fast wie Kirchenlieder. Selbst der Pfarrer wird da sein und die Begrüßungsrede halten, das ist genauso gut wie eine Predigt. Bitte, lass mich doch mitfahren, Marilla!«

»Du hast doch gehört, was ich gesagt habe, nicht wahr? Zieh jetzt deine Stiefel aus und geh ins Bett. Es ist schon nach acht.«

»Da ist noch etwas anderes, Marilla«, sagte Anne mit der Verzweiflung eines Kartenspielers, der seinen allerletzten Trumpf ausspielt. »Mrs Barry hat gesagt, dass Diana und ich im Gästezimmer von Orchard Slope schlafen können. Stell dir das mal vor: Was für eine Ehre für deine kleine Anne - in einem Gästebett zu schlafen!«

»Du wirst leider auf diese Ehre verzichten müssen. Und jetzt ab ins Bett. Ich möchte kein Wort mehr davon hören.«

Als Anne mit tränenüberströmtem Gesicht die Küche verlassen hatte, öffnete Matthew, der während der ganzen Unterhaltung scheinbar in tiefem Schlummer auf dem Sofa gelegen hatte, plötzlich die Augen und sagte mit fester Stimme: »Marilla, ich finde, du solltest Anne mitfahren lassen.«

»Aber ich finde das nicht«, entgegnete Marilla. »Und wer erzieht dieses Kind, Matthew, du oder ich?«

»Nun ja, du natürlich«, gab Matthew zu.

»Dann misch dich gefälligst nicht ein.«

»Ich mische mich ja gar nicht ein. Es hat nichts mit Einmischen zu tun, wenn man seine eigene Meinung hat. Und meine Meinung ist, dass du Anne zu dem Ball fahren lassen solltest.«

»Na, du würdest die Kleine ja sogar zum Mond fliegen lassen, wenn sie wollte! - Ich habe nichts dagegen, dass sie eine Nacht drüben bei Diana bleibt. Aber mit diesem Ball, das gefällt mir ganz und gar nicht. Sie wird sich auf dem Schlitten eine dicke Erkältung holen und die Aufregung würde sie eine ganze Woche lang aus der Bahn werfen. Ich kenne Anne und weiß besser als du, was gut für sie ist, Matthew.«

»Ich finde, du solltest Anne gehen lassen«, wiederholte Matthew mit fester Stimme. Das Diskutieren war nicht seine Stärke, aber zäh an einer Meinung festhalten, das konnte er großartig. Marilla seufzte und hüllte sich in Schweigen.

Am nächsten morgen wandte sich Matthew auf dem Weg zur Scheune noch einmal an seine Schwester. »Ich meine, du solltest Anne fahren lassen, Marilla.«

Einen Moment lang zögerte Marilla noch, dann schickte sie sich in das Unausweichliche.

»Also gut, du kannst mitfahren«, sagte sie kurz darauf zu Anne, die gerade in der Küche Geschirr spülte.

Das tropfnasse Tuch noch in der Hand, drehte sich Anne um. »Oh, Marilla, sag das noch einmal.«

»Einmal ist genug, glaube ich. Du weißt ja, dass Matthew dahintersteckt. Ich wasche meine Hände in Unschuld. Wenn du dir eine Lungenentzündung holst, kannst du dich bei Matthew bedanken. - Anne Shirley, du tropfst mir ja das ganze Abwaschwasser auf den Boden! So was von einem unvorsichtigen Mädchen!«

Anne hörte kaum zu, so glücklich war sie. Später in der Schule wurde ihr immer deutlicher bewusst, dass sie es mit Sicherheit nicht überlebt hätte, wenn sie nicht zum Ball hätte gehen dürfen. An jenem Tag gab es kein anderes Gesprächsthema in Avonlea. Alle Jungen und Mädchen über neun Jahre würden beim Ball dabei sein - außer Carrie Sloane, deren Vater Marillas Ansichten über Veranstaltungen dieser Art zu teilen schien. Die arme Carrie vergoss den ganzen Nachmittag über stille Tränen.

Vor der Abfahrt waren Anne und Diana lange damit beschäftigt, sich für den Abend schön zu machen. Diana frisierte Annes Stirnhaare im modischen Pompadourstil und Anne band Dianas Schleifen mit einem speziellen Kniff, den nur sie beherrschte. Dann probierte sie mindestens ein halbes Dutzend Arten aus, ihre Haare am Hinterkopf zu kämmen. Schließlich wurde sie auch damit fertig und wartete mit roten Backen und glänzenden Augen darauf, dass es nun endlich losgehen sollte.

Es hatte Anne einen kleinen Stich versetzt, ihre einfache, schwarze Wollmütze und ihren schlichten grauen Stoffmantel mit Dianas flotter Pelzmütze und der modischen kurzen Jacke zu vergleichen. Zum Glück fiel ihr jedoch noch rechtzeitig ein, dass sie eine blühende Phantasie besaß, die sie in solchen Fällen einsetzen konnte.

Endlich kamen Dianas Cousinen mit dem großen, schweren Pferdeschlitten, um die beiden Mädchen abzuholen. Anne genoss die Fahrt zum Ball in vollen Zügen. Wie herrlich der Schnee unter den Kufen des Schlittens knirschte! Die Sonne ging in den glühendsten Farben unter und die verschneiten weißen Hügel hoben sich malerisch von dem dunkelblauen Wasser des Golfs von St.Lorenz ab. In der Ferne hörte man Gelächter und das Glockengebimmel vieler anderer Schlitten. In Annes Ohren klangen diese Geräusche wie die Stimmen von Elfen und Feen.

»Oh, Diana«, seufzte Anne und drückte die Hand ihrer Freundin, »ist das alles Traum oder Wirklichkeit? Sehe ich wirklich genauso aus wie sonst? Ich fühle mich so anders - der Welt wunderbar entrückt.«

»Du siehst sehr hübsch aus«, sagte Diana, die gerade ein Kompliment von einer ihrer Cousinen bekommen hatte und die Freude darüber gern weitergeben wollte. »Du hast eine richtig gute Gesichtsfarbe.«

Das Programm des Abends löste zumindest bei einem Mädchen unter den Zuschauern eine ganze Reihe von »freudigen Schauern« aus. Als Prissy Andrews in einem neuen rosa Seidenkleid, mit einer Perlenkette um den schönen weißen Hals und echten Nelken im Haar -es ging das Gerücht um, dass der Schulmeister die Blumen eigens für sie aus der Stadt hatte kommen lassen - auf die Bühne stieg, zitterte Anne voller Anteilnahme. Auch bei den anderen Gedichten, Liedern und kurzen Sketchen, die hier vorgetragen wurden, war sie mit jeder Faser ihres Wesens dabei.

Nur eine einzige Darbietung hatte bei ihr scheinbar kein Interesse wecken können, nämlich der Gedichtvortrag eines gewissen Schülers namens Gilbert Blythe. Gelangweilt blätterte sie in ihrem Programm, bis Gilbert fertig war, und saß dann steif und regungslos auf ihrem Stuhl, während Diana begeistert klatschte, bis ihr die Hände weh taten.

Es war schon elf Uhr, als die beiden Freundinnen nach Hause kamen und sich darauf freuten, gemeinsam noch einmal alle wichtigen Ereignisse des Abends besprechen zu können. Auf Orchard Slope lag alles schon in tiefstem Schlummer, das ganze Haus war still und dunkel. Auf Zehenspitzen schlichen die Mädchen in den Salon, von dem aus man in das Gästezimmer gelangen konnte. Der Raum war angenehm warm, im Kamin glühte noch ein Feuer.

»Lass uns erst mal hier bleiben und uns ausziehen«, schlug Diana vor. »Es ist so schön warm hier.«

»War es nicht ein himmlischer Abend?«, seufzte Anne voller Inbrunst. »Es muss herrlich sein, auf eine Bühne zu steigen und vor so vielen Menschen etwas vorzutragen. Meinst du, wir werden auch einmal mitmachen können, Diana?«

»Ja, natürlich, irgendwann schon. Die älteren Schüler treten dort immer auf. Gilbert Blythe war schon mehrmals dabei und er ist nur zwei Jahre älter als ich. Oh, Anne, wie konntest du nur so tun, als würdest du ihm nicht zuhören? Er hat dich mehrmals direkt angeschaut.«

»Diana«, erwiderte Anne mit feierlicher Stimme, »du bist meine Busenfreundin, aber ich kann selbst dir nicht erlauben, seinen Namen in meiner Gegenwart auszusprechen. - Bist du so weit? Komm, wir laufen. Wer zuerst im Bett ist...«

Die beiden kleinen, weiß gekleideten Gestalten nahmen einen großen Anlauf, sausten quer durch den Salon ins Gästezimmer und landeten mit einem Juchzer auf dem großen Bett. Auf einmal fing etwas unter ihnen an, sich zu bewegen ... Ein Schrei war zu hören. Gleich darauf eine entgeisterte Stimme: »Himmel Herrgott noch mal!«

Anne und Diana wusste hinterher nicht mehr zu sagen, wie sie aus dem Bett und aus dem Zimmer gekommen waren. Jedenfalls fanden sie sich nach wenigen Sekunden zitternd auf der Treppe wieder. »Was... was war das?«, stammelte Anne. Ihre Zähne klapperten vor Kälte und Angst.

»Das war Tante Josephine«, kicherte Diana. »Ich habe zwar keine Ahnung, wie sie in dieses Bett gekommen ist, aber es war ganz bestimmt Tante Josephine. Sie wird fürchterlich böse auf uns sein.«

»Wer um alles in der Welt ist Tante Josephine?«

»Meine Großtante, die Schwester meines Großvaters. Sie lebt in Charlottetown. Sie ist schon uralt - mindestens siebzig - und fürchterlich etepetete. Bestimmt wird sie ein schreckliches Theater veranstalten. Na ja, jetzt müssen wir eben bei Minnie May schlafen - du hast keine Ahnung, wie die im Schlaf herumzappelt!«

Am Morgen erschien Miss Josephine Barry nicht zum Frühstück. Dianas Mutter lächelte die beiden Mädchen an.

»Habt ihr euch gut amüsiert gestern Abend? Ich wollte eigentlich aufbleiben, bis ihr kommt, um euch zu sagen, dass Tante Josephine überraschend zu Besuch gekommen ist und ihr das Gästezimmer nun doch nicht bekommen könnt. Aber ich war so müde, dass ich einfach eingeschlafen bin. Ich hoffe, ihr habt die Tante nicht gestört, Diana?«

Diana hüllte sich in Schweigen, Anne und sie wechselten verstohlene Blicke. Gleich nach dem Frühstück ging Anne nach Hause und blieb auf diese Weise von dem ersten Gewittersturm verschont, der bald über den Barry’schen Haushalt hereinbrach. Erst als sie am späten Nachmittag zu Mrs Lynde hinüberlief, um eine Besorgung für Marilla zu erledigen, erfuhr sie von der ganzen Bescherung.

»Wie ich höre, habt ihr, Diana und du, die arme, alte Miss Barry fast zu Tode erschreckt?«, fragte Mrs Lynde mit ernster Stimme, zwinkerte ihr dabei jedoch vergnügt zu. »Mrs Barry hat vor ein paar Minuten bei mir hereingeschaut und mir alles erzählt. Sie macht sich große Sorgen. Die alte Miss Barry hat sich schrecklich aufgeregt. Sie wollte eigentlich einen ganzen Monat hier bleiben, aber jetzt hat sie erklärt, sie bliebe keinen Tag länger als unbedingt erforderlich und würde morgen schon in die Stadt zurückkehren. Sie hatte versprochen, Dianas Klavierstunden zu bezahlen, aber für so einen ungezogenen Wildfang will sie nun keinen Pfennig mehr ausgeben. - Na, das muss heute Morgen jedenfalls ein fürchterliches Donnerwetter gegeben haben. Den Barrys war das äußerst unangenehm. Die alte Miss Barry ist nämlich reich und sie haben immer versucht, besonders gut mit ihr zu stehen. Das hat mir Mrs Barry natürlich nicht erzählt, aber ich besitze genug Menschenkenntnis, um es mir an den Fingern abzuzählen.«

»Ach, was bin ich nur für ein Unglücksrabe«, sagte Anne traurig. »Andauernd handele ich mir Ärger ein und ziehe meine besten Freunde mit in den Schlamassel. Können Sie mir nicht sagen, woran das liegt, Mrs Lynde?«

»Das kommt daher, dass du so hitzköpfig und impulsiv bist, mein Kind - jawohl! Sowie dir etwas einfällt, sagst oder tust du es, ohne auch nur einen Moment lang darüber nachzudenken.«

»Ja, aber das ist doch gerade das Schöne daran!«, erklärte Anne. »Irgendetwas geht einem durch den Kopf und man hat das Gefühl, wenn man es nicht sofort rauslässt, platzt man vor Aufregung. Wenn man erst einmal eine Weile darüber nachgedacht hat, ist es doch nur noch halb so aufregend. Ist es Ihnen denn noch nie so gegangen, Mrs Lynde?«

Mrs Lynde schüttelte weise den Kopf. »Du musst lernen, zuerst nachzudenken, Anne. >Wer's eilig hat, der gehe langsam< - besonders, wenn es sich um Betten in fremden Gästezimmern handelt.«

Mrs Lynde schmunzelte über ihren eigenen Scherz, doch Anne blieb weiterhin nachdenklich. Sie fand die Situation ganz und gar nicht witzig. Als sie sich von Mrs Lynde verabschiedet hatte, lenkte sie ihre Schritte Richtung Orchard Slope. An der Küchentür traf sie Diana. »Deine Tante Josephine ist sehr böse auf uns, nicht wahr?«, flüsterte Anne.

»Ja«, antwortete Diana, »sie hat getobt vor Zorn, Anne. Und wie sie mit mir geschimpft hat! Sie sagte, ich sei das ungezogenste Mädchen, das ihr je begegnet sei, und meine Eltern sollten sich für meine misslungene Erziehung schämen. Keinen Tag länger wolle sie in unserem Haus bleiben. Von mir aus kann sie ruhig gehen, aber Mutter und Vater macht es doch etwas aus.«

»Warum hast du ihr nicht gesagt, dass es alles meine Schuld war?«, wollte Anne wissen.

»Hast du das wirklich von mir erwartet?«, fragte Diana entrüstet. »Ich bin keine Lügnerin, Anne Shirley. Wir waren beide schuld.«

»Nun gut, dann werde ich es ihr eben selbst sagen«, sagte Anne bestimmt.

Diana starrte ihre Freundin ungläubig an. »Anne Shirley, tu das bloß nicht! Sie ... sie wird dich bei lebendigem Leib auffressen.«

»Mach mir nicht noch mehr Angst, als ich sowieso schon habe«, flehte Anne sie an. »Lieber würde ich in das Rohr einer geladenen Kanone kriechen als zu deiner Tante Josephine zu gehen. Aber ich muss es tun, Diana. Zum Glück habe ich inzwischen einige Erfahrungen darin, Geständnisse abzulegen und mich zu entschuldigen.«

»Also gut, sie ist im Wohnzimmer«, sagte Diana. »Ich an deiner Stelle würde aber nicht zu ihr hingehen. Ich glaube nicht, dass du bei ihr irgendetwas erreichen wirst.«

Trotz dieser wenig ermutigenden Worte wandte sich Anne tapfer der Höhle des Löwen zu - oder anders ausgedrückt: Sie ging mit großen Schritten zur Wohnzimmertür und klopfte mehrmals an. Ein scharfes »Herein!« war die Antwort.

Miss Josephine Barry saß in strenger Haltung am Kamin und strickte. Man sah ihr sofort an, dass sie immer noch zornig war, so düster funkelten ihre Augen hinter den goldgefassten Brillengläsern. Erstaunt drehte sie sich auf ihrem Stuhl um. Eigentlich hatte sie Diana erwartet. Doch stattdessen stand nun ein blasses kleines Mädchen vor ihr, in dessen glänzenden Augen eine Mischung aus Angst, Mut und Verzweiflung lag.

»Wer bist du denn?«, fragte Miss Josephine Barry ohne jede Begrüßung.

»Ich bin Anne von Green Gables«, antwortete das Mädchen mit zittriger Stimme. »Und ich bin gekommen, um ein Geständnis abzulegen.«

»Ein Geständnis?«

»Es war allein meine Idee, Miss Barry. Diana würde es nie einfallen, einfach in ein fremdes Bett zu springen. Dazu ist sie viel zu wohlerzogen. Miss Barry, Sie haben gar keinen Grund, auf meine Freundin böse zu sein.«

»So, es gibt also keinen Grund? Ich würde sagen, Diana war bei dem Sprung letzte Nacht maßgeblich beteiligt!«

»Aber wir haben doch nur Spaß gemacht«, fuhr Anne unbeirrt fort. »Ich glaube, Sie sollten uns verzeihen, Miss Barry - jetzt, wo wir uns bei Ihnen entschuldigt haben. Oder verzeihen Sie wenigstens Diana und lassen Sie sie die Klavierstunden nehmen. Ich weiß nämlich genau, wie einem zu Mute ist, wenn man sich auf etwas freut und es dann doch nicht bekommt. Wenn Sie unbedingt mit jemandem böse sein müssen, dann seien Sie mit mir böse. Ich bin seit frühester Kindheit daran gewöhnt, dass Leute mit mir böse sind, ich kann es besser ertragen als Diana.«

Ein Teil des Zorns war bereits aus den Augen der alten Dame gewichen. Dafür war ihr Interesse an diesem Rotschopf erwacht, der so flehentlich für die Freundin bat.

»Als ich ein kleines Mädchen war, haben wir uns solche Späße nicht erlaubt. Kannst du dir eigentlich vorstellen, was es für eine alte Frau bedeutet, nach einer langen, anstrengenden Reise von zwei hüpfenden Mädchen aus ihrem kostbaren Schlaf gerissen zu werden?«

»Ich weiß nicht, wie das ist, aber ich kann es mir sehr gut vorstellen«, antwortete Anne eifrig. »Es muss ein unangenehmes Gefühl sein. Aber wenn Sie auch nur ein Fünkchen Phantasie besitzen, dann stellen Sie sich jetzt auch einmal vor, Sie wären an unserer Stelle gewesen: Wir wussten ja nicht, dass jemand in dem Bett lag, und wir sind zu Tode erschrocken, als Sie sich plötzlich unter uns bewegt haben! Außerdem konnten wir Ihretwegen nicht im Gästezimmer schlafen, obwohl man es uns versprochen hatte. Sie sind es wahrscheinlich schon gewohnt, in Gästezimmern zu übernachten. Aber stellen Sie sich einmal vor, Sie wären ein Waisenkind und hätten noch nie diese Ehre genossen.«

Inzwischen war auch der letzte Rest Zorn bei Miss Barry verraucht. Sie musste sogar laut lachen - was Diana, die ängstlich draußen in der Küche auf ihre Freundin wartete, einen großen Seufzer der Erleichterung entlockte.

»Ich fürchte, meine Phantasie ist ein bisschen eingerostet - es ist schon eine ganze Weile her, seitdem ich sie zuletzt benutzt habe«, sagte sie. »Doch ich muss zugeben, dein Anspruch auf Mitgefühl ist ebenso begründet wie der meine. Es kommt nur darauf an, von welcher Seite man die ganze Sache betrachtet. Setz dich doch und erzähl mir ein bisschen von dir.«

»Es tut mir Leid, das kann ich nicht«, sagte Anne bestimmt. »Ich würde es zwar sehr gerne tun, weil Sie eine interessante alte Dame und vielleicht sogar eine verwandte Seele sind, obgleich Sie auf den ersten Blick ganz und gar nicht so aussehen. Aber ich muss jetzt nach Hause, Miss Marilla Cuthbert wartet dort auf mich. Sie ist eine nette Frau, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, für meine Erziehung zu sorgen. Sie tut ihr Bestes, aber ich glaube, sie hat es manchmal nicht gerade leicht mit mir. Sie dürfen nicht schlecht über Marilla denken, weil ich in Ihr Bett gesprungen bin, Miss Barry. - Bevor ich gehe, möchte ich Sie aber noch bitten, Diana zu verzeihen und so lange in Avonlea zu bleiben, wie Sie es ursprünglich vorhatten.«

»Nun, das könnte ich vielleicht versprechen — wenn du mich ab und zu besuchen kommst und ein wenig mit mir plauderst«, antwortete Miss Barry.

Am Abend des gleichen Tages schenkte Miss Barry Diana einen silbernen Armreifen und eröffnete den erwachsenen Mitgliedern des Haushaltes, dass sie ihre Reisetasche wieder ausgepackt habe.

»Ich habe mich entschlossen hierzubleiben, um die kleine Anne besser kennen zu lernen«, sagte sie offen. »Sie macht mir Spaß und in meinem Alter ist das eine ziemliche Seltenheit.«

Als Marilla von der ganzen Sache erfuhr, sagte sie: »Ich habe ja gleich gewusst, dass dieser Ballabend nur wieder neue Schwierigkeiten mit sich bringen würde.« Allerdings war dieser Kommentar eher für Matthews Ohren bestimmt.

Miss Barry blieb einen ganzen Monat lang und noch länger. Sie war ein sehr viel angenehmerer Gast als sonst, denn Anne hielt sie bei guter Laune. Die beiden wurden feste Freunde.

Als Miss Barry wieder abreiste, sagte sie: »Denk dran, kleine Anne: Wenn du einmal in die Stadt kommst, musst du mich unbedingt besuchen. Du wirst als Ehrengast in meinem Gästezimmer schlafen.«

»Miss Barry war am Ende doch eine verwandte Seele«, vertraute Anne Marilla an. »Wer hätte das zuerst gedacht? Man merkt es zwar nicht immer so schnell wie damals bei Matthew und mir, aber nach einer Weile erkennt man es doch. Verwandte Seelen gibt es häufiger, als ich dachte. Ich bin gespannt, wie viele es noch auf der Welt gibt.«

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