24 - Anne, die Lilienmaid

»Natürlich musst du die Elaine spielen, Anne«, sagte Diana. »Ich hätte nie den Mut dazu, mich auf dem Wasser treiben zu lassen.«

»Und ich erst recht nicht«, meinte Ruby Gillis zitternd. »Ich habe nichts dagegen, wenn wir zu zweit oder zu dritt im Boot sitzen und uns treiben lassen, dann macht es Spaß. Aber daliegen und so zu tun, als wäre ich tot - das könnte ich einfach nicht über mich bringen. Ich würde vor Angst tatsächlich sterben.«

»Natürlich wäre es sehr romantisch«, räumte Jane Andrews ein, »aber ich könnte es auch nicht. Ich würde mich immerzu aufsetzen und schauen, ob ich auch nicht zu weit forttreibe - und das würde alles kaputtmachen, nicht wahr, Anne?«

»Aber eine Elaine mit roten Haaren, das sieht doch lächerlich aus!«, murrte Anne. »Ich habe keine Angst und würde von Herzen gerne die Elaine spielen, die Lilienmaid, sie hat helle Haut und herrlich lange blonde Haare. Erinnert euch doch: >Elaines gold glänzendes Haar fiel üppig auf ihre Schultern< Ein rothaariges Mädchen kann unmöglich die Lilienmaid sein.«

»Dein Teint ist fast so hell wie der von Ruby«, erwiderte Diana. »Außerdem wirkt dein Haar so viel dunkler, seitdem du es abgeschnitten hast.«

»Oh, findest du wirklich?«, rief Anne und wurde vor Freude ganz rot. »Ich habe das selbst auch schon manchmal gedacht, aber ich habe mich nie getraut, jemanden danach zu fragen. Meinst du, man könnte es jetzt kastanienbraun nennen, Diana?«

»Ja, es ist jetzt wirklich schön«, sagte Diana und bewunderte die kurzen, seidigen Locken, die Annes Gesicht umrahmten.

Es war Annes Idee gewesen, ein Gedicht von Tennyson in Szene zu setzen. Sie hatten es im vorigen Winter in der Schule gelesen und so ausführlich besprochen, dass ihnen Lancelot, Guinevere und König Artus mit der Zeit richtig vertraut waren. Wie oft hatte Anne seitdem heimlich bedauert, nicht auf Camelot geboren worden zu sein. Damals war das Leben bestimmt viel romantischer.

Annes Idee war von den anderen Mädchen mit Begeisterung aufgenommen worden. Die Mädchen hatten herausgefunden, dass ein Kahn, den man bei der Landestelle von Orchard Slope ins Wasser ließ, auf den See hinaustrieb, unter der Holzbrücke hindurchschwamm und an einer bestimmten Stelle hinter der nächsten Biegung des Sees wieder an Land stieß. Diese Strecke schien für Elaine, die Lilienmaid, wie geschaffen zu sein.

»Gut, ich werde Elaine spielen«, willigte Anne schließlich ein. »Ruby, du bist König Artus, Jane ist Guinevere und Diana ist Lancelot. Zuerst müsst ihr allerdings noch die Brüder und Väter spielen. Auf den stummen alten Diener, der die Leiche begleitet, müssen wir verzichten, im Boot ist einfach kein Platz mehr. Wir brauchen allerdings noch ein Leichentuch aus schwarzer Seide für die Barke. Das könnte der alte Schal deiner Mutter sein, Diana.«

Eilig wurde der Schal herbeigeholt, Anne legte ihn auf den Boden des Kahns, streckte sich dann darauf aus, schloss die Augen und faltete die Hände über der Brust.

»Oh, Gott! Sie sieht wirklich aus wie tot«, flüsterte Ruby Gillis. »Ich habe Angst! Meint ihr wirklich, dass das richtig ist, was wir machen? Mrs Lynde sagt, Theaterspielen sei eine Sünde.«

»Sei still, Ruby, und fang jetzt nicht mit Mrs Lynde an«, schimpfte Anne. »Du verdirbst die ganze Wirkung! Außerdem liegt das Hunderte von Jahren zurück, da war Mrs Lynde noch gar nicht geboren. Jane, sorg du für alles Weitere. Es geht doch nicht an, dass Elaine noch sprechen muss, obgleich sie schon längst tot ist.«

Jane folgte Annes Weisung, in Ermangelung eines goldenen Tuches wurde Anne mit einer alten Klavierdecke zugedeckt; eine große blaue Iris in Annes gefalteten Händen ersetzte die weiße Lilie.

»So, alles ist fertig«, sagte Jane. »Jetzt müssen wir ihre kalte Stirn küssen. Diana, du musst sagen: >Lebewohl für immer, Schwester<, und du, Ruby: >Lebewohl, teure Schwester< - und zwar so traurig wie möglich. Anne, du meine Güte, so lächle doch ein bisschen! Es heißt doch: >Elaine lag da, als würde sie lächeln.< So ist es schon besser. Lass uns jetzt den Kahn abstoßen.«

Der Kahn wurde in den Weiher geschoben und stieß dabei unter Wasser gegen eine alte, scharfe Stange. Diana, Jane und Ruby warteten so lange, bis er in der Mitte des Sees war, und liefen dann hastig in den Wald, um rechtzeitig die Stelle am Ufer zu erreichen, wo sie als Lancelot, Guinevere und König Artus die sterblichen Überreste der Lilienmaid in Empfang nehmen sollten.

Ein paar Minuten lang trieb Anne langsam auf dem Wasser und genoss die romantische Situation aus tiefstem Herzen. Doch plötzlich geschah etwas äußerst Unromantisches: Der Kahn begann zu lecken. Elaine musste zum Leben erwachen, ihre Kleider, ihre goldene Decke und ihr schwarzes Leichentuch zusammenraffen und auf einen Ausweg sinnen. Die Stange unter dem Wasser hatte den alten Kahn beim Anstoßen leck geschlagen. Immer höher stieg das Wasser - nicht mehr lange und der Kahn würde untergehen. Die Ruder hatten die Mädchen natürlich am Ufer zurückgelassen.

Anne gab einen kurzen, hellen Schrei von sich - niemand konnte sie hören. Nun war sie tatsächlich totenblass geworden, doch sie verlor nicht die Selbstbeherrschung. Es gab noch eine Chance - eine einzige Chance.

»Ich hatte furchtbare Angst«, erzählte sie Mrs Allan am nächsten Tag. »Der Kahn schien eine Ewigkeit zu brauchen, bis er die alte Holzbrücke erreichte. Ich betete, aber ich behielt dabei meine Augen offen, denn ich wusste: Wenn Gott mich retten wollte, würde er den Kahn nahe genug an einem der Brückenpfeiler entlangtreiben lassen, sodass ich mich an ihm festklammern konnte. Sie wissen ja, die Pfeiler bestehen aus alten Baumstämmen, an denen man sich gut festhalten kann. Also betete ich und passte gleichzeitig auf, um meine Chance nicht zu versäumen. Ich sagte nur: >Bitte, bitte, lieber Gott, lass den Kahn dicht an einem Pfeiler vorantreiben. Den Rest schaffe ich dann schon!< Das sagte ich immer wieder - unter solchen Umständen denkt man nicht lange nach, um irgendein blumiges Gebet zu erfinden. Meine Bitte wurde jedenfalls erhört, denn der Kahn schwamm haarscharf an einem Pfeiler vorbei. Ich schlang den Schal und das Tuch über meine Schultern und klammerte mich an dem dicken Baumstumpf fest. Da hing ich nun und wusste nicht weiter. Es war eine äußerst unromantische Situation, aber daran habe ich in dem Moment gar nicht gedacht. Wenn man gerade dem sicheren Grab in sprudelnden Tiefen entgangen ist, macht man sich keine großen Gedanken über Romantik. Ich sprach ein kurzes Dankesgebet und richtete dann meine ganze Aufmerksamkeit darauf, mich ordentlich festzuhalten. Mir war klar, dass ich auf Hilfe angewiesen war, um mich aus dieser misslichen Lage zu befreien.«

Der Kahn driftete unter der Brücke hindurch und sank dann recht schnell in der Mitte des Sees. Ruby.Jane und Diana, die etwas weiter unten am Ufer warteten, sahen ihn vor ihren Augen im Wasser versinken. Einen Moment lang standen sie da wie gelähmt. Dann schrien sie entsetzt auf und rannten so schnell sie konnten durch den Wald auf die Hauptstraße. Anne hörte ihre Stimmen und hoffte auf schnelle Hilfe.

Die nun folgenden Minuten zogen sich für die unglückliche Lilienmaid wie Stunden in die Länge. Warum kam niemand, um sie zu retten? Wohin waren die Mädchen bloß gelaufen? Hoffentlich waren sie nicht alle auf einmal in Ohnmacht gefallen! Wer würde sie dann hier herausholen? Und wenn sie mit der Zeit so müde würde, dass sie sich nicht mehr festhalten könnte? Anne schaute unter sich in die grüne Tiefe. Ihre Phantasie malte sich Schreckliches aus.

Und dann - gerade als sie dachte, sie könnte den Schmerz in den Armen und Handgelenken keinen Moment länger ertragen - kam Gilbert Blythe in Harmon Andrews’ Ruderboot geradewegs auf sie zugerudert!

»Anne Shirley! Was um alles in der Welt machst du denn da?«, rief er. Ohne auf eine Antwort zu warten, fuhr er dicht an den Brückenpfeiler heran und streckte Anne seine Hand entgegen. Es gab keinen Ausweg: Anne musste Gilbert Blythes Hand nehmen und sich von ihm in das Boot ziehen lassen. Wütend und trotzig, den triefnassen Schal und das Klaviertuch noch im Arm, setzte sie sich erhobenen Hauptes ins Heck des Bootes. In einer solchen Situation war es äußerst schwierig, die Würde zu wahren.

»Was ist geschehen, Anne?«, fragte Gilbert und griff nach den beiden Rudern.

»Wir haben Elaine gespielt«, erklärte Anne widerwillig, ohne ihren Retter auch nur anzuschauen. »Ich musste mich in einer Barke nach Camelot treiben lassen. Aber der Kahn lief plötzlich voll Wasser, der Pfeiler war meine letzte Hoffnung. Und nun sei bitte so freundlich und rudere mich ans Ufer.«

Gilbert war so freundlich. Anne übersah seine Hand, die er ihr hilfreich entgegenstreckte, und sprang schnell an Land.

»Ich bin dir sehr dankbar«, sagte sie kühl und wollte gehen.

Doch Gilbert war ebenfalls aus dem Boot gesprungen und hielt sie sanft am Arm fest. »Anne«, sagte er hastig, »hör zu. Wollen wir uns nicht versöhnen? Es tut mir schrecklich Leid, dass ich mich damals über deine Haare lustig gemacht habe. Ich wollte dich nicht kränken, es sollte nur ein Spaß sein. Außerdem ist es doch schon so lange her. Ich finde deine Haare jetzt sehr hübsch, ehrlich. Lass uns doch Freunde sein!«

Einen Moment lang zögerte Anne. Trotz ihres verletzten Stolzes verspürte sie ein neues, seltsames Gefühl, wenn sie in Gilberts braune Augen sah. Ihr Herz schlug heftig. Doch ihr alter Groll gewann rasch wieder die Oberhand. Alles trat ihr lebendig vor Augen: Gilbert hatte sie »Karotte« genannt und vor der ganzen Schule lächerlich gemacht. Sie hasste Gilbert Blythe! Und sie würde ihm nie verzeihen!

»Nein«, sagte sie ungerührt. »Wir werden nie Freunde sein, Gilbert Blythe.«

»Wie du willst!« Zornig sprang Gilbert zurück in seinen Kahn. »Dann werde ich dich auch nie wieder darum bitten, Anne Shirley.«

Mit schnellen, heftigen Schlägen ruderte er auf die Mitte des Sees zurück. Anne stieg den steilen, von Farnkraut überwucherten Uferpfad hinauf. Sie hielt ihren Kopf hoch erhoben, doch innerlich spürte sie ein Gefühl von Reue. Fast wünschte sie sich, sie hätte Gilbert eine andere Antwort gegeben. Natürlich hatte er sie damals tödlich beleidigt, aber... Sie fühlte sich müde und erschöpft. Am liebsten hätte sie sich jetzt einfach hinfallen lassen und ein paar Tränen vergossen. Auf halber Strecke nach Orchard Slope kamen ihr Jane und Diana entgegen. Die beiden waren völlig aufgelöst. Auf Orchard Slope hatten sie niemanden angetroffen. Mr und Mrs Barry waren beide ausgegangen. Dort hatten sie die weinende Ruby Gillis zurückgelassen und waren nach Green Gables hinübergelaufen, wo ebenfalls niemand zu Hause war.

»Oh, Anne!«, Diana fiel ihrer Freundin um den Hals und fing vor Erleichterung und Freude an zu schluchzen. »Oh, Anne ... wir dachten, du wärst . . . ertrunken . . . und wir fühlten uns wie Mörder, weil... wir unbedingt wollten, dass du die Elaine spielst. Und Ruby ist völlig außer sich ... oh, Anne, wie hast du es nur geschafft?«

»Ich habe mich an einem der Brückenpfeiler festgehalten«, erklärte Anne matt. »Gilbert Blythe ist im Boot von Mr Andrews herbeigekommen und hat mich ans Ufer gerudert.«

»Oh, das war aber nett von ihm! Und wie romantisch!«, schwärmte Jane. »Jetzt wirst du bestimmt auch wieder mit ihm sprechen.«

»Das werde ich nicht!«, versetzte Anne. »Und das Wort >romantisch< möchte ich in diesem Zusammenhang nicht hören. - Es tut mir so Leid, dass ich euch geängstigt habe. Es war alles meine Schuld. Ich scheine vom Pech verfolgt zu sein. Alles, was ich tue, bringt mich oder meine Lieben in Gefahr. Wir haben den Kahn deines Vaters kaputtgemacht, Diana, und ich habe so eine gewisse Vorahnung, dass man uns in Zukunft verbieten wird, auf dem See zu rudern.«

Annes Vorahnung erwies sich als zuverlässiger, als Vorahnungen sonst zu sein pflegen. Die Bestürzung bei den Barrys und Cuthberts war groß, als sie von den Ereignissen des Nachmittags erfuhren. »Wirst du nie Vernunft annehmen, Anne?«, grollte Marilla.

»Oh, doch, Marilla, eines Tages schon«, antwortete Anne zuversichtlich. »Ich glaube, meine Aussichten, vernünftig zu werden, sind besser als je zuvor.«

»Ach ja, und warum das?«, fragte Marilla.

»Nun«, erklärte Anne, »ich habe heute eine neue und wertvolle Lektion gelernt. Seitdem ich nach Green Gables gekommen bin, habe ich Fehler gemacht und jeder Fehler hat mich von einem Makel befreit. Die Schichttorte zum Beispiel hat mich von der Unachtsamkeit beim Kochen geheilt und meine grünen Haare haben mir meine Eitelkeit ausgetrieben. Und das Missgeschick von heute wird mich in Zukunft davon abhalten, allzu romantisch zu sein. Ich bin zu dem Schluss gekommen, dass es in Avonlea sowieso wenig Zweck hat. Damals auf Camelot war es bestimmt viel einfacher — und vor allem ungefährlicher. Ich bin mir ziemlich sicher, dass du in dieser Hinsicht bei mir bald eine große Besserung beobachten wirst, Marilla.«

»Das hoffe ich sehr«, erwiderte Marilla nicht ohne Zweifel.

Als Marilla hinausgegangen war, legte Matthew, der die ganze Zeit über in seiner Ecke gesessen hatte, seine Hand auf Annes Schulter. »Gib nicht deine ganze Romantik auf, Anne«, flüsterte er, »ein bisschen davon ist ganz gut - nicht zu viel, natürlich. Aber ein wenig solltest du ruhig behalten, Anne.«

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