14 - Der Sturm im Wasserglas

»Was für ein herrlicher Tag!«, sagte Anne und atmete tief. »Ist es nicht wunderbar, an einem Tag wie diesem leben zu dürfen? Mir tun all die Leute Leid, die noch nicht geboren sind und ihn deshalb verpassen müssen. Natürlich werden auch sie schöne Tage erleben - diesen aber nie. Und was für einen prächtigen Schulweg wir haben!«

»Viel schöner als über die Landstraße, dort ist es so heiß und staubig«, antwortete Diana, während sie überlegte, wie viele Happen wohl für jeden übrig blieben, wenn man die drei Stück Himbeerkuchen, die ihre Mutter ihr mitgegeben hat, durch zehn teilte.

Die Schülerinnen von Avonlea pflegten ihre Pausenmahlzeiten nämlich immer zu teilen, und wenn man drei Stücke Himbeerkuchen ganz allein gegessen oder sie nur mit seiner besten Freundin geteilt hätte, wäre man für ewig als Geizhals abgestempelt worden.

Anne hatte bald für alle Stationen ihres Weges den passenden Namen gefunden. Jeden Morgen trafen sie sich in der >Liebeslaube<, einem verwunschenen Hohlweg, und gingen von dort aus weiter bis zum >Veilchental<, einer kleinen grünen Senke im Schatten der großen Bäume, die Mr Beils Felder begrenzten. Danach kam der >Birkenpfad<, eine kleine, gewundene Allee, die auf die Hauptstraße führte. Von dort aus bis zur Schule war es dann nur noch ein Katzensprung. Die Schule von Avonlea war ein weiß verputztes Gebäude mit flachem Dach und breiten Fenstern. Innen war sie mit stabilen, altmodischen Tischen mit aufklappbaren Schreibplatten ausgestattet, auf denen ganze Generationen von Schülern ihre Initialen und geheimen Mitteilungen hinterlassen hatten. Das Schulhaus lag etwas abseits der Straße. Dahinter floss ein kleiner Bach, in den die Kinder morgens ihre Milchflaschen stellten, damit sie bis zur Mittagspause kühl blieben. Marilla hatte Anne am ersten Tag nach den Ferien mit gemischten Gefühlen zur Schule geschickt. Wie würde Anne sich mit den anderen Kindern vertragen? Und würde sie es schaffen, eine ganze Unterrichtsstunde lang den Mund zu halten?

Doch es lief besser als befürchtet. Strahlendster Laune kam Anne von ihrem ersten Schulbesuch zurück.

»Ich glaube, die Schule hier wird mir gefallen«, verkündete sie. »Den Lehrer finde ich allerdings nicht gerade besonders. Er zwirbelt die ganze Zeit an seinem Schnurrbart herum und macht Prissy Andrews schöne Augen. Prissy ist nämlich schon fast erwachsen, sie ist sechzehn und bereitet sich auf die Aufnahmeprüfung am Queen’s College in Charlottetown vor. Sie hat eine ganz helle Haut und braunes hochgestecktes Haar. Der Lehrer sitzt meistens bei ihr in der langen Bank ganz hinten - um ihr bei den Aufgaben zu helfen, sagt er. Aber Ruby Gillis hat gesehen, wie er etwas auf Prissys Tafel schrieb, und als sie es las, hat sie gekichert und ist rot geworden wie eine Tomate.«

»Anne Shirley, ich möchte nicht, dass du so von deinem Lehrer sprichst«, fiel ihr Marilla streng ins Wort. »Er ist dazu da, dir etwas beizubringen, und es ist deine Aufgabe, von ihm zu lernen. Solche Geschichten möchte ich nicht wieder hören, das sage ich dir gleich, ich hoffe, du hast dich anständig benommen.«

»Ja, Marilla«, antwortete Anne mit gutem Gewissen. »Das war allerdings auch nicht so schwer, wie du es dir vielleicht vorstellst. Ich sitze neben Diana. Unsere Bank steht direkt am Fenster und wir können zum >See der glitzernden Wasser< hinüberschauen. Die anderen Mädchen sind sehr nett und wir hatten in der Mittagspause sehr viel Spaß miteinander. Es ist schön, so viele Spielkameradinnen zu haben. Diana habe ich natürlich am liebsten. - Ich muss viel nachholen, glaube ich, die anderen sind schon im fünften Buch und ich bin erst im vierten. Dafür haben die anderen aber nicht so viel Phantasie wie ich, das hat sich schnell herausgestellt. Heute hatten wir Lesen, Erdkunde, Geschichte und Diktat. Mr Philipp meinte, meine Rechtschreibung sei eine Schande und er hat meine Tafel in die Höhe gehalten, damit alle sehen konnten, wie viele Fehler er angestrichen hatte. Das war mir schrecklich peinlich, Marilla. Zu einer Fremden hätte er wirklich etwas höflicher sein können. - Ruby Gillis hat mir in der Pause einen Apfel geschenkt und Sophia Sloane hat mir eine wunderschöne rosa Karte geborgt, auf der steht >Darf ich dich nach Hause begleiten?<. Ich muss sie ihr allerdings morgen wieder geben. Den ganzen Nachmittag über durfte ich Tillie Boulters Perlenring tragen. Jane Andrews hat mir erzählt, sie habe gehört, wie Prissy Andrews zu Sara Gillis gesagt hat, ich hätte eine schöne Nase. Das ist das erste Kompliment, das ich in meinem ganzen Leben bekommen habe. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was das für ein komisches Gefühl war! Marilla, findest du auch, dass ich eine schöne Nase habe? Ich weiß, du wirst mir die Wahrheit sagen.«

»An deiner Nase ist nichts auszusetzen«, antwortete Marilla trocken. Insgeheim dachte sie, dass Annes Nase tatsächlich bemerkenswert hübsch war, aber sie hatte nicht die geringste Absicht, ihr das mitzuteilen.

Dieses Gespräch lag schon drei Wochen zurück, als Anne und Diana an einem frischen Septembermorgen wieder den >Birkenpfad< hinuntergingen.

»Ich wette, Gilbert Blythe wird heute in der Schule sein«, sagte Diana. »Er hat den Sommer bei seinen Verwandten in New Brunswick verbracht und ist erst Samstagabend zurückgekommen. Er sieht schrecklich gut aus, Anne, und er neckt alle Mädchen. Manchmal ist es eine richtige Plage mit ihm.«

Dianas Tonfall ließ anklingen, dass ihr diese Plage eigentlich recht angenehm war.

»Gilbert Blythe?«, fragte Anne. »Ist das nicht der Name, der neben dem von Julia Bell an der Wand der Schulveranda steht?«

»Ja«, antwortete Diana und reckte stolz den Kopf in die Höhe, »aber ich bin mir ziemlich sicher, dass er Julia Bell gar nicht so gerne hat. Ich habe ihn sagen hören, dass man an ihren Sommersprossen das kleine Einmaleins abzählen könnte.«

»Oh, erzähl mir nichts von Sommersprossen«, bat Anne. »Ich habe selbst genug davon. Außerdem finde ich es ziemlich albern, die Namen von Jungen und Mädchen zusammen an die Wand zu schreiben. Ich möchte doch mal sehen, wer es wagt, meinen dort aufzuschreiben - nicht, dass ich meine, dass überhaupt einer auf die Idee käme«, fügte sie, ein wenig traurig, schnell hinzu.

»Unsinn«, tröstete Diana ihre Freundin. »Es ist doch nur ein Scherz. Und sei dir mal nicht so sicher, dass dein Name nicht dort erscheinen wird. Charlie Sloane ist ganz vernarrt in dich. Er hat gesagt, du seist das gescheiteste Mädchen in der ganzen Schule. Gescheit zu sein ist viel mehr wert, als nur gut auszusehen.«

»Nein, das ist es nicht«, widersprach Anne. »Ich wäre viel lieber hübsch als klug. Und Charlie Sloane kann ich nicht ausstehen. Aber es ist schön, die Beste in der Klasse zu sein.«

»Jetzt wirst du es damit nicht mehr so leicht haben. Gilbert ist in deiner Klasse und bisher ist er immer der Beste gewesen. Er ist schon vierzehn. Sein Vater ist vor vier Jahren krank geworden und da musste er mit ihm nach Alberta ziehen und konnte drei Jahre lang nicht zur Schule gehen, bis sie letztes Jahr zurückkamen.«

Als sie sich später im Klassenraum über ihre Tafeln beugten und Mr Philipp damit beschäftigt war, Prissy Andrews in der letzten Bank lateinische Vokabeln abzuhören, flüsterte Diana: »Das ist Gilbert Blythe, Anne. Er sitzt gleich gegenüber von dir auf der anderen Seite des Ganges. Findest du nicht auch, dass er gut aussieht?«

Vorsichtig drehte Anne sich zu dem Jungen um. Er war gerade in die schwierige Aufgabe vertieft, heimlich die langen blonden Zöpfe von Ruby Gillis mit einer Nadel an ihrem Stuhl zu befestigen - mit Erfolg. Denn als Ruby Gillis aufstehen wollte, um mit ihrer Rechenaufgabe zum Lehrer zu gehen, fiel sie mit einem kleinen Schrei auf ihren Stuhl zurück. Alle drehten sich zu ihr um und Mr Philipps sah sie so vernichtend an, dass sie zu weinen anfing. Gilbert Blythe aber beugte sich mit dem unschuldigsten Gesicht der Welt über seine Geschichtslektion. Als die Aufregung sich gelegt hatte, sah er zu Anne hinüber und zwinkerte ihr schelmisch zu.

»Dein Gilbert Blythe sieht wirklich gut aus«, flüsterte Anne Diana zu, »aber ich finde es ziemlich frech von ihm, einem fremden Mädchen zuzuzwinkern.«

Der Morgen verlief ohne weitere Zwischenfälle. Erst am Nachmittag braute sich der große Sturm zusammen.

Mr Philipps erklärte gerade Prissy Andrews mit Inbrunst ein Algebraproblem, während seine Schüler überwiegend mehr oder weniger das taten, was ihnen gerade einfiel: Sie aßen grüne Äpfel, flüsterten mit ihrem Nachbarn, malten Bilder auf ihre Schiefertafeln oder schossen sich zwischen den Bänken kleine Papierbälle zu. Die ganze Zeit über versuchte Gilbert Blythe, Anne Shirleys Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen - jedoch ohne Erfolg. Anne war weit weg. Das Kinn auf beide Hände gestützt, den starren Blick auf die Landschaft jenseits des Fensters gerichtet, reiste sie durch ein schillerndes Traumland. Von dem, was um sie herum vorging, sah und hörte sie nichts.

Gilbert Blythe war nicht gewohnt, sich vergeblich um die Aufmerksamkeit eines Mädchens zu bemühen. Er wollte es ihr schon zeigen, diesem rothaarigen Geschöpf mit dem kleinen spitzen Kinn und den großen Augen, die so anders waren als die Augen all der anderen Mädchen in Avonlea. Gilbert lehnte sich über den Gang zu Anne hinüber, nahm einen ihrer roten Zöpfe in die Hand, hob ihn hoch und rief: »He, Karotte! Karotte!«

Blinder Zorn stand in Annes Augen geschrieben, als sie sich zu Gilbert umwandte. Ihre schönen Traumbilder hatten ein jähes Ende gefunden. Blitzschnell sprang sie auf, griff nach ihrer Schiefertafel und schlug sie mit voller Wucht über Gilberts Kopf. Es knackte laut - Anne hatte so heftig zugeschlagen, dass die Tafel in zwei Teile zerbrach.

Ein Raunen ging durch den Klassenraum. So etwas hatte es in der Schule von Avonlea noch nie gegeben.

Mit großen Schritten kam Mr Philipp auf Anne zu und packte sie an der Schulter.

»Anne Shirley, was hat das zu bedeuten?«, fragte er zornig.

Anne gab keine Antwort. Sollte sie etwa noch vor der ganzen Klasse wiederholen, wie dieser Junge sie genannt hatte? Da meldete sich Gilbert zu Wort.

»Das war meine Schuld, Mr Philipp«, sagte er tapfer, »ich habe sie geärgert.«

Mr Philipps würdigte Gilbert jedoch keines Blickes.

»Es geht nicht an, dass eine meiner Schülerinnen sich so unbeherrscht und rachsüchtig zeigt«, sagte er in ernstem Ton, so als ob die bloße Tatsache, seine Schule zu besuchen, alle schlechten Eigenschaften automatisch verbannen würde. »An die Tafel mit dir, Anne. Und dort bleibst du den ganzen Nachmittag über stehen.«

Es wäre Anne lieber gewesen, wenn er sie geschlagen hätte. Das wäre leichter für sie zu ertragen gewesen, als dort vorne vor der ganzen Klasse stehen zu müssen. Doch sie gehorchte. Mit blassem Gesicht schritt sie zur Tafel. Mr Philipp nahm ein Stück Kreide und schrieb: »Ann Shirley ist jähzornig und ungezogen. Sie muss lernen, sich zu beherrschen.« Dann las er die beiden Sätze laut vor, sodass selbst die Erstklässler, die noch nicht lesen konnten, Bescheid wussten.

Unter dieser schriftlichen Anklage verbrachte Anne den Rest des Nachmittags. Sie war vollkommen stumm, weinte nicht und ließ auch nicht den Kopf hängen. Ihr Zorn war stärker als das Gefühl der Demütigung. Mit funkelnden Augen und geröteten Wangen stellte sie sich ihren Mitschülern. Dianas mitfühlenden Blicken genauso wie Charlie Sloanes entrüstetem Kopfschütteln oder Josie Pyes schadenfrohem Lächeln. Was Gilbert Blythe anging, so schaute sie nicht ein einziges Mal zu ihm hinüber. Sie würde ihn niemals wieder anschauen!

Als der Unterricht endlich vorbei war, ging Anne mit hocherhobenem Kopf aus dem Klassenraum. Gilbert Blythe versuchte sie im Vorraum abzufangen.

»Es tut mir schrecklich Leid, dass ich mich über deine Haare lustig gemacht habe, Anne«, flüsterte er mit zerknirschtem Gesicht. »Ehrlich! Sei doch nicht mehr böse, Anne.«

Doch Anne würdigte ihn keines Blickes. Sie tat so, als hätte sie ihn weder gehört noch gesehen.

»Oh, wie konntest du nur, Anne?«, fragte Diana später in halb vorwurfsvollem, halb bewunderndem Tonfall, als sie zusammen die Landstraße hinuntergingen. Diana wusste, dass sie Gilberts flehentliche Bitte nicht hätte ausschlagen können.

»Ich werde Gilbert Blythe niemals verzeihen«, sagte Anne fest. »Und Mr Philipps hat meinen Namen ohne e geschrieben. Dieser Dolch hat mich mitten ins Herz getroffen, Diana.«

Diana war sich nicht ganz sicher, wie sie Annes letzten Satz deuten sollte, aber ihr war klar, dass es sich um etwas sehr Schlimmes handeln musste.

»Du solltest das nicht so ernst nehmen«, wollte Diana sie besänftigen. »Gilbert hänselt doch alle Mädchen. Zu mir sagt er immer >schwarze Dohle<. Aber ich habe ihn noch niemals vorher für irgendetwas um Entschuldigung bitten hören.«

»Das sind zwei völlig verschiedene Dinge, ob man zu jemandem >schwarze Dohle< sagt oder »Karotte«!«, erwiderte Anne entschieden. »Gilbert Blythe hat mich bis ins Mark verletzt.«

Trotz dieser großen Worte hätte die ganze Geschichte ohne weiteres im Sande verlaufen können, wenn nicht kurz darauf ein zweiter Zwischenfall die Gemüter weiter erhitzt hätte. Ein Sturm, der sich erst einmal so richtig zusammengebraut hatte, entlädt sich dann auch meist mit voller Wucht.

Die Schulkinder von Avonlea verbrachten ihre Mittagspause gern unter Mr Beils Nussbäumen, die jenseits eines großen Feldes ein gutes Stück von der Schule entfernt standen. Von dort aus konnten sie das Wohnhaus des Lehrers jederzeit im Auge behalten. Erst wenn sie sahen, dass er am Ende der Pause sein Haus verließ, liefen sie zur Schule zurück. Nicht selten kam es vor, dass sie ein paar Minuten zu spät dort eintrafen und sich keuchend und prustend auf ihre Plätze schleichen mussten.

Am Tag nach Annes unerfreulichem Zusammenstoß mit Gilbert Blythe hatte Mr Philipps wieder einmal das dringende Bedürfnis verspürt, »andere Saiten aufzuziehen« und seine Schüler zur Vernunft zu bringen. Deshalb kündigte er lautstark an, dass es mit dem Herumtreiben in der Mittagspause nun vorbei sei und er jeden Schüler, der den Klassenraum nach der Pause zu spät beträte, hart bestrafen werde.

Natürlich gingen die Jungen und einige der Mädchen auch an diesem Tag zu den Nussbäumen hinüber. Sie hatten sich vorgenommen, früher als gewöhnlich wieder zur Schule zurückzulaufen. Doch die Nüsse schmeckten zu gut, dass sie die Zeit vergaßen. Erst die laute Stimme von Jimmy Glover, der auf dem höchsten Baum hockte, schreckte sie auf: »Der Lehrer kommt!«

Anne, die nicht nach Nüssen gesucht hatte, sondern sich in einer entfernten Ecke unter den Bäumen mit Blumen geschmückt und ihren Träumen nachgehangen hatte, war eine gute Läuferin. Mit voller Kraft lief sie los, überholte sogar noch einige der Jungen und betrat atemlos das Klassenzimmer, als Mr Philipps gerade seinen Hut an den Haken hängte.

Der erzieherische Elan des Lehrers war eigentlich schon längst verflogen, er wollte sich auch nicht der lästigen Mühe unterziehen, ein Dutzend Schüler bestrafen zu müssen. Doch sein Wort musste er halten, um nicht unglaubwürdig zu erscheinen. Er schaute sich nach einem Sündenbock um. Sein Blick fiel auf Anne, die - immer noch ganz erhitzt vom Laufen - mit roten Wangen und glänzenden Augen auf ihrem Platz saß.

»Anne Shirley, da du offensichtlich so erpicht bist auf die Gesellschaft der Jungen, wollen wir dich heute Nachmittag einmal so richtig verwöhnen«, sagte er bissig. »Nimm die Blumen aus dem Haar und setz dich neben Gilbert Blythe.«

Die anderen Schüler kicherten. Diana, die vor Mitgefühl ganz blass geworden war, zupfte die Blumen aus Annes Haar und drückte fest die Hand ihrer Freundin. Fassungslos starrte Anne ihren Lehrer an. »Hast du nicht gehört, was ich gesagt habe, Anne?«, fuhr Mr Philipps sie an.

»Doch, Sir«, antwortete Anne zögernd. »Aber ich habe nicht gedacht, dass Sie es ernst meinen.«

»Wenn ich etwas sage, dann meine ich es auch!«, donnerte er.

Einen Moment lang sah es so aus, als wollte Anne seinem Befehl trotzen, doch dann erkannte sie, dass es keinen Ausweg für sie gab. Erhobenen Hauptes stand sie auf, ging zu Gilbert Blythe hinüber und setzte sich. Dann beugte sie sich weit nach vorn und vergrub ihr Gesicht in beiden Armen.

Für Anne war der Weltuntergang in sichtbare Nähe gerückt. Es war ja schon schlimm genug, aus einem Dutzend Schuldiger als Einzige eine Strafe zu bekommen - aber dass sie sich ausgerechnet auch noch neben Gilbert Blythe setzen musste, das brachte das Fass endgültig zum Überlaufen! Anne war zutiefst aufgewühlt vor Scham, Zorn und gedemütigtem Stolz.

Die anderen Schüler kicherten noch eine Weile über die neue Sitzordnung in der Klasse, doch als Anne ihren Kopf überhaupt nicht mehr hob und Gilbert sich mit glühenden Wangen in seine Rechenaufgaben vertiefte, wandten sie sich bald wieder ihren eigenen Aufgaben zu und überließen Anne ihrem Schicksal. Eine Stunde später rief Mr Philipps seine älteren Schüler zum Geschichtsunterricht auf. Anne hätte eigentlich aufstehen müssen, aber sie rührte sich nicht von der Stelle. Doch Mr Philipps, der gerade einige Verse »Für Pricilla« gedichtet hatte und noch über einen schwierigen Reim nachdachte, bemerkte das gar nicht, in einem unbeobachteten Moment nahm Gilbert eine kleine rosa Karte mit der Goldaufschrift »Du bist süß« aus seiner Tasche und schob sie unter Annes Arm. Anne fasste mit spitzen Fingern nach der Karte, ließ sie auf den Boden fallen und zertrat sie mit dem Absatz. Ohne Gilbert auch nur anzuschauen, nahm sie wieder ihre frühere Haltung ein.

Als der Unterricht vorbei war, ging Anne zu ihrer Bank hinüber, holte alle ihre Bücher, Hefte und Schreibutensilien heraus und nahm sie in einem dicken Stapel unter den Arm.

»Ich gehe nicht mehr zur Schule«, erklärte sie Diana auf dem gemeinsamen Heimweg.

Überrascht schaute Diana ihre Freundin an. Ob das wohl ihr Ernst war? »Meinst du, Marilla wird dir das erlauben?«, fragte sie.

»Sie muss«, antwortete Anne. »Solange dieser Lehrer da ist, werde ich keinen Fuß mehr in die Schule setzen!«

»Ach, Anne!« Diana machte ein Gesicht, als würden ihr jeden Moment die Tränen kommen. »Ich finde, du bist gemein. Was soll ich denn machen ohne dich? Mr Philipps wird mich neben diese schreckliche Josie Pye setzen - das weiß ich ganz genau, sie sitzt nämlich als Einzige allein. Bitte, komm morgen wieder mit mir zur Schule, Anne!«

»Ich würde fast alles in der Welt für dich tun, Diana«, sagte Anne traurig. »Ich würde mich vierteilen und steinigen lassen, nur um dir zu helfen. Aber zur Schule kann ich nicht mehr gehen. Hör auf, mich darum zu bitten. Es zerreißt mir das Herz.«

Diana ließ jedoch nicht locker. »Denk doch nur an all den Spaß, den du vermissen wirst! Wir bauen uns unten am Bach ein wunderschönes neues Haus und nächste Woche spielen wir Brennball, bestimmt hast du noch nie in deinem Leben Ball gespielt. Es ist fürchterlich aufregend. Und Alice Andrews bringt nächste Woche ein neues Buch mit, das wir unten am Bach Kapitel für Kapitel laut lesen wollen. Du liest doch so gerne vor, Anne.«

Nichts konnte Anne erweichen. Sie hatte einen festen Entschluss getroffen: Nie mehr würde sie zu Mr Philipps in die Schule gehen!

Das erzählte sie auch gleich Marilla, als sie wenig später nach Hause kam.

»Unsinn!«, sagte Marilla.

»Das ist überhaupt kein Unsinn«, erwiderte Anne und schaute Marilla mit ernsten, vorwurfsvollen Augen an. »Verstehst du denn nicht, Marilla? Man hat mich beleidigt!«

»Beleidigt! Was soll der Unfug? Du gehst morgen wie immer zur Schule.«

»Nein, das tue ich nicht.« Anne schüttelte ruhig den Kopf. »Ich gehe nicht mehr zur Schule, Marilla. Ich werde zu Hause lernen und mir dabei so viel Mühe geben wie irgend möglich. In die Schule gehe ich aber nicht mehr zurück, das steht fest!«

Marilla war der entschlossene Ausdruck in Annes Blick nicht entgangen. Es würde schwer sein, sie wieder umzustimmen. Klugerweise schwieg sie deshalb und zog es vor, die Sache erst einmal auf sich beruhen zu lassen.

Ich werde nachher zu Rachel hinübergehen und sie um Rat fragen, dachte sie. Sie hat zehn Kinder groß gezogen und kann mir sicherlich helfen, eine Lösung für dieses Problem zu finden. Wahrscheinlich kennt sie die ganze Geschichte sowieso schon.

Als Marilla in Mrs Lyndes Küche trat, fand sie die alte Dame wie immer gut gelaunt auf ihrem Fensterposten.

»Du kannst dir sicherlich schon denken, weshalb ich komme«, eröffnete Marilla etwas verlegen das Gespräch.

Mrs Rachel nickte. »Wegen Annes Ärger in der Schule wahrscheinlich«, sagte sie. »Tillie Boulter hat auf ihrem Heimweg von der Schule bei mir vorbeigeschaut und mir die ganze Sache erzählt.«

»Ich weiß nicht, was ich tun soll«, gab Marilla zu. »Sie ist fest entschlossen, nicht mehr zur Schule zu gehen. Eigentlich habe ich schon seit dem ersten Schultag mit Problemen gerechnet - es lief alles einfach zu gut. Was soll ich nun tun, Rachel?«

»Nun, da du mich um Rat fragst, Marilla«, sagte Mrs Lynde mit ihrer liebenswürdigsten Stimme - Mrs Lynde liebte es nun einmal, von anderen um Rat gefragt zu werden »ich würde zunächst einmal überhaupt nichts tun - jawohl! Meiner Meinung nach war Mr Philipps im Unrecht, aber das können wir natürlich schlecht zu den Kindern sagen. Ich halte sowieso nichts davon, die Mädchen zur Strafe neben den Jungen sitzen zu lassen. Tillie Boulter war richtig empört. Sie hat sofort Annes Partei ergriffen und meinte, alle anderen Schüler hätten auch auf ihrer Seite gestanden. Anne scheint bei ihnen recht beliebt zu sein. Ich hätte nie gedacht, dass sie so gut mit ihnen auskommt.«

»Du meinst also wirklich, ich sollte ihr einfach ihren Willen lassen und sie zu Hause behalten?«, fragte Marilla verwundert.

»Ja. Das Wort >Schule< würde ich ihr gegenüber gar nicht mehr erwähnen. Verlass dich drauf, Marilla, in ein oder zwei Wochen wird sie sich beruhigt haben und von selbst auf die Idee kommen, wieder zur Schule zu gehen. Wenn du sie aber jetzt dazu zwingst, könnte der Ärger nur noch schlimmer werden. Je weniger Aufhebens um die ganze Sache gemacht wird, desto besser. Was den Unterricht angeht, so wird sie sowieso nicht allzu viel verpassen. Mr Philipps ist der schlechteste Lehrer, den wir je hatten. Er kann keine Ordnung halten. Außerdem vernachlässigt er die Kleinen und widmet fast seine ganze Zeit den großen Schülern, die er auf die Aufnahmeprüfung am Queen’s College vorbereitet. Er hätte die Stelle gar nicht erst bekommen, wenn sein Onkel nicht so einen großen Einfluss bei der Schulbehörde hätte. Ehrlich — ich frage mich, wie das mit der Schulbildung hier auf der Insel noch enden soll.«

Mrs Rachel schüttelte den Kopf, als wollte sie zum Ausdruck bringen, dass die Dinge sehr viel besser laufen würden, wenn sie in der Schulbehörde das Sagen hätte.

Marilla befolgte den Rat ihrer Nachbarin und erwähnte die ganze Geschichte gegenüber Anne mit keinem Wort. Anne lernte aus ihren Büchern, erledigte ihre Aufgaben im Haus und ging mit Diana spielen. Wenn sie Gilbert zufällig auf der Straße traf oder ihm in der Sonntagsschule begegnete, strafte sie ihn mit eisiger Verachtung. Sein offensichtliches Bemühen, sich wieder mit ihr zu versöhnen, blieb ohne jeden Erfolg. Auch Dianas Versuche, als Friedensstifterin aufzutreten, waren zum Scheitern verurteilt. Anne war fest entschlossen, Gilbert Blythe bis an ihr Lebensende leidenschaftlich zu hassen.

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