Spiegel der Seele

An jenem Morgen war mir nach philosophischen Äußerungen zumute. In trauriger Erinnerung schüttelte ich den Kopf und sagte: »Kein Wissen gibt's, der Seele Bildung im Gesicht zu lesen. Er war ein Mann, auf den ich gründete ein unbedingt Vertraun.«

Es war ein ziemlich kühler Sonntagmorgen, und George und ich saßen an einem Tisch in einem Bagel-Cafe. Ich erinnere mich, daß George gerade seinen zweiten Sesam-Bagel aufgegessen hatte, der großzügig mit Frischkäse und Weißfisch belegt war.

Er sagte: »Stammt das aus einer der Geschichten, die du regelmäßig für weniger anspruchsvolle Magazine zusammenzimmerst?«

»Zufälligerweise ist das ein Shakespeare-Zitat«, erwiderte ich. »Aus Macbeth.«

»Ach ja, deine Vorliebe für Plagiate habe ich ganz vergessen.«

»Wenn man ein passendes Zitat benutzt, ist das kein Plagiat. Was ich sagen wollte - ich hatte einmal einen Freund, den ich für einen Mann mit scharfem Verstand und gutem Geschmack hielt. Ich habe ihn zum Essen eingeladen. Mitunter habe ich ihm sogar Geld geliehen. In den überschwenglichsten Tönen habe ich sein Aussehen und seinen Charakter gelobt. Und stell dir vor, all das habe ich getan, ohne auch nur einen Gedanken daran zu verschwenden, daß er von Beruf Literaturkritiker war -wenn man das denn einen Beruf nennen will.«

George sagte: »Und trotz all deiner selbstlosen Taten, hat dein Freund einmal eines deiner Bücher besprochen und es gnadenlos verrissen.«

»Ach?« sagte ich. »Hast du die Rezension gelesen?«

»Nein. Ich habe mich nur gefragt, wie die Rezension eines deiner Bücher wohl ausfallen könnte, und mir ist sofort die einzig mögliche Antwort eingefallen.«

»Mich hat nicht gestört, daß ihm mein Buch nicht gefallen hat, George - zumindest nicht mehr, als eine solche belanglose Feststellung jeden Schriftsteller stören würde -, aber daß er Ausdrücke wie >seniler Schwachsinn< verwendet hat, ging mir dann doch zu weit. Seine Behauptung, das Buch sei für Achtjährige geschrieben, die jedoch besser daran täten, Ringelreihen zu spielen, ging eindeutig unter die Gürtellinie.« Ich seufzte und setzte an: »Kein Wissen gibt's ...«

»Das sagtest du bereits«, unterbrach mich George.

»Er schien so freundlich zu sein, so angenehm, so dankbar selbst für die kleinsten Aufmerksamkeiten. Woher sollte ich wissen, daß er in Wirklichkeit ein bösartiger, heuchlerischer Schweinehund war?«

George sagte: »Er war Kritiker. Das liegt in seiner Natur. Einen solchen Beruf ergreift man nur, wenn man selbst die eigene Mutter verleumden würde. Ich kann gar nicht glauben, daß du dich auf so lächerliche Weise hast an der Nase herumführen lassen. Du bist schlimmer als mein Freund Vandevater Robinson, und ich sage dir, er ist einmal als Kandidat für den Nobelpreis für Naivität im Gespräch gewesen. Seine Geschichte ist recht eigentümlich ... «

»Bitte«, sagte ich, »die Rezension ist in der aktuellen New York Review of Books erschienen - fünf Spalten Gift und Galle. Ich bin wirklich nicht in der Stimmung für eine deiner Geschichten.«

Das habe ich mir schon gedacht [sagte George], und du hast vollkommen recht. Sie wird dich von deinen unbedeutenden Sorgen ablenken.

Mein Freund Vandevater Robinson war ein ausgesprochen talentierter junger Mann. Er war gutaussehend, kultiviert, intelligent und kreativ. Er hatte die besten Schulen besucht und war in ein reizendes junges Mädchen namens Minerva Schlump verliebt.

Minerva war eine meiner Patentöchter und hing sehr an mir - was durchaus verständlich ist. Jemand, der so anständig ist wie ich, kann einer jungen Dame von recht stattlicher Figur natürlich nicht erlauben, daß sie ihn ständig umarmt oder auf seinem Schoß sitzen will. Aber Minerva hatte ein so einnehmendes Wesen, so kindlich und unschuldig und vor allem so handfest, daß ich in ihrem Fall eine Ausnahme machte.

Natürlich verzichtete ich in Gegenwart von Vandevater auf dergleichen Vertraulichkeiten, denn er konnte sehr unvernünftig sein, wenn er eifersüchtig war.

Diese seine Schwäche hat er einmal in Worte gefaßt, die mich tief berührten. »George«, sagte er, »seit meiner Kindheit wollte ich mich in eine junge Frau von überragender Tugendhaftigkeit, unberührter Reinheit und - wenn ich das so sagen darf - porzellanhafter Unschuld verlieben. Minerva Schlump - ich wage es kaum, diesen göttlichen Namen auszusprechen - ist die Frau, die ich immer gesucht habe. Ich weiß, daß ich mich in ihr nicht täuschen kann. Sollte ich jemals herausfinden, daß mein Vertrauen mißbraucht worden ist, wüßte ich nicht, wie ich weiterleben soll. Ich würde ein verbitterter alter Mann werden, der seinen Trost nur noch in so armseligen Dingen wie einer Villa, Bediensteten, einem Klub und einer reichen Erbschaft sucht.«

Der Ärmste. Er täuschte sich in der jungen Minerva keineswegs. Sie mochte sich zwar mit Vergnügen auf meinen Schoß setzen, doch ich wußte sehr gut, daß sie das ohne einen Hintergedanken tat. Das war jedoch das einzige, worin er sich nicht täuschte. Der junge Mann besaß einfach kein Urteilsvermögen. Verzeih mir, wenn ich das so offen sage, aber er war genauso unbedarft wie du. Ihm mangelte es an dem Wissen, die Seele eines Menschen im Gesicht ... Ja, ich weiß, du sagtest das bereits. Ja, ja, du hast es zweimal gesagt.

Erschwerend kam hinzu, daß Vandevater gerade eine Stelle als Kriminalbeamter bei der New Yorker Polizei angetreten hatte.

Es war schon immer sein Wunsch gewesen (abgesehen davon, das perfekte Mädchen zu finden), Kriminalbeamter zu werden. Er wollte einer jener scharfsinnigen, hakennasigen Herren werden, die jeden Bösewicht in Angst und Schrecken versetzen. Zu diesem Zweck studierte er in Groton und Harvard Kriminologie und las mit großer Gewissenhaftigkeit jene bedeutenden Kriminalberichte, die von Autoritäten wie Sir Arthur Conan Doyle und Agatha Christie zu Papier gebracht wurden. Das alles, sowie der Einfluß seiner Familie, dessen er sich ohne Zögern bediente, und die Tatsache, daß sein Onkel Bürgermeister von Queens war, verschaffte ihm eine Stelle bei der Polizei.

Überraschenderweise war ihm kein Erfolg vergönnt. Seine Fähigkeit, aus Beweisen, die andere gesammelt hatten, unumstößliche logische Schlüsse zu ziehen, ohne auch nur seinen Sessel zu verlassen, war unübertroffen. Leider war er vollkommen unfähig, selbst Beweise zu sammeln.

Er neigte in unfaßbarem Maße dazu, alles, was andere Leute ihm erzählten, für bare Münze zu nehmen. Jedes Alibi - ganz gleich wie fadenscheinig - stürzte ihn in Zweifel. Ein stadtbekannter Betrüger mußte ihm nur sein Ehrenwort geben, schon glaubte er alles, was er ihm erzählte.

Das hatte sich bald so weit herumgesprochen, daß sich sämtliche Verbrecher - vom einfachsten Handtaschendieb bis zum höchsten Politiker oder Unternehmer - nur noch von Vandevater vernehmen lassen wollten.

»Wir wollen Vandevater«, rieten sie.

»Ihm werde ich alles erzählen«, sagte der Taschendieb.

»Ich werde ihn über die von mir sorgfältig geplanten Ereignisse in Kenntnis setzen«, sagte der Politiker.

»Ich werde ihm erklären, daß ich ein Trinkgeld für den Schuhputzer brauchte und der Regierungsscheck über einhundert Millionen Dollar zufällig in der Portokasse lag«, sagte der Unternehmer.

Welchen Fall Vandevater auch übernahm, stets kam der Verdächtige wieder auf freien Fuß. Er hatte so etwas wie ein >entlastendes Händchen< - ein Ausdruck, den einer meiner literarischen Freunde einmal für ihn geprägt hat. (Natürlich kannst du dich daran nicht erinnern - ich spreche auch nicht von dir. Würde ich dich etwa als >literarisch< bezeichnen?)

Die Monate gingen dahin, und die Anzahl der Fälle, die vor Gericht kamen, verringerte sich immer mehr. Unzählige reumütige Einbrecher, Straßenräuber und Schwerverbrecher kehrten mit makellos reiner Weste zu ihren Freunden und Verwandten zurück.

New Yorks Elite hatte natürlich bald herausgefunden, was sich da abspielte und was die Ursache des Ganzen war. Vandevater arbeitete bereits seit zweieinhalb Jahren bei der Polizei, als ihm auffiel, daß man ihm nicht mehr mit der üblichen Kameradschaft begegnete und seine Vorgesetzten ihn mit einem nachdenklichen Blick begrüßten. Eine Beförderung war nicht in Sicht, obwohl Vandevater -wann immer es ihm passend erschien - seinen Onkel, den Bürgermeister erwähnte.

Er wandte sich an mich, wie es junge Männer in Not häufig tun, um in der Weisheit eines Mannes von Welt Zuflucht zu suchen. (Ich weiß nicht, was du damit meinst, mein Freund, ob ich dir einen solchen Mann empfehlen könnte. Bitte unterbrich mich nicht mit deinen unpassenden Einwürfen.)

»Onkel George«, sagte er, »ich glaube, ich stecke in Schwierigkeiten.« (Er nannte mich immer Onkel George, weil ihn die Würde und Eleganz meines wohlfrisierten weißen Haars so sehr beeindruckten. Kein Vergleich zu deinen ungepflegten Koteletten.)

»Onkel George«, sagte er, »ich verstehe nicht, warum ich noch nicht befördert wurde. Ich gelte immer noch als Berufsanfänger auf der untersten Stute. Mein Büro liegt in der Mitte des Flurs, und mein Toilettenschlüssel paßt nicht. Mich selbst würde das natürlich nicht weiter stören, aber meine liebste Minerva ist in ihrer Unschuld auf die Idee gekommen, daß ich möglicherweise ein Versager bin, und dieser Gedanke bricht ihr das Herz. >Ich will keinen Versager heiraten<, sagt sie und zieht einen Schmollmund. >Man wird mich auslachen.««

»Hast du irgendeine Erklärung für diese Schwierigkeiten, mein Junge?« fragte ich.

»Nein, ich habe nicht die geringste Ahnung. Zugegeben, ich habe bisher noch nicht einen Fall gelöst, aber ich glaube nicht, daß es daran liegt. Schließlich kann man nicht alle Fälle lösen, nicht wahr?«

»Lösen die anderen Kriminalbeamten denn wenigstens den einen oder anderen Fall?« fragte ich.

»Hin und wieder schon. Aber die Art und Weise, wie sie dabei vorgehen, erschüttert mich zutiefst. Sie sind immer so furchtbar mißtrauisch und skeptisch, starren einen Verdächtigen so herablassend an und sagen dann: >Ach, ja?< oder >Das sagen Sie!<. Das ist einfach erniedrigend. Als Amerikaner tut man so etwas nicht.«

»Könnte es sein, daß der Verdächtige lügt und sie einen Grund haben, ihm mit Skepsis zu begegnen?«

Vandevater grübelte einen Augenblick nach. »Das ist durchaus möglich. Was für eine entsetzliche Vorstellung!«

»Nun gut«, sagte ich, »laß mich ein wenig darüber nachdenken.«

Noch am selben Abend rief ich Azazel herbei, den zwei Zentimeter großen Dämon, der mir hin und wieder mit seinen rätselhaften Kräften zur Seite steht. Ich weiß nicht, ob ich dir schon von ihm erzählt habe, aber - Ach, habe ich das tatsächlich?

Nun, er erschien in dem kleinen Elfenbeinkreis auf meinem Schreibtisch, vor dem ich meine besonderen Räucherstäbchen verbrenne und die uralten Beschwörungsformeln anstimme - aber die Einzelheiten sind geheim.

Er war in eine lange, wallende Robe gekleidet. Zumindest schien sie im Vergleich zu den zwei Zentimetern, die er von der Schwanzspitze bis zu den Hörnern maß, lang und wallend. Er hatte einen Arm erhoben und sprach mit seiner piepsigen Stimme irgendwelche Worte, während sein Schwanz hin und her zuckte.

Offensichtlich war er gerade mit etwas beschäftigt. Irgendwie scheint er immer mit irgend etwas Unwichtigem beschäftigt zu sein. Ich erwische ihn nie schlafend oder in entspannter Stimmung. Stets hat er gerade etwas zu tun und ist dann wütend, weil ich ihn dabei unterbrochen habe.

Diesmal ließ er jedoch den Arm sinken, als er mich bemerkte, und lächelte mich an. Zumindest glaube ich, daß er lächelte, denn seine Gesichtszüge sind schwer zu erkennen, und als ich einmal eine Lupe benutzen wollte, um ihn besser sehen zu können, war er zutiefst beleidigt.

Er sagte: »Was soll's - ein wenig Abwechslung wird mir guttun. Meine Rede beherrsche ich sehr gut, und der Erfolg ist mir sicher.«

»Wovon sprichst du, oh Mächtiger? Obwohl natürlich alle deine Taten von Erfolg gekrönt sind.« (Er scheint eine gewisse Vorliebe für solche Schmeicheleien zu hegen. In dieser Hinsicht ist er dir ziemlich ähnlich.)

»Ich bewerbe mich um ein öffentliches Amt«, sagte er zufrieden. »Ich möchte zum Grod-Fänger gewählt werden.«

»Darf ich in aller Bescheidenheit fragen, ob du mich Unwissenden darüber in Kenntnis setzen könntest, was ein Grod ist?«

»Nun, ein Grod ist ein kleines Haustier, das sich bei meinem Volk großer Beliebtheit erfreut. Manche dieser Tiere haben jedoch keine Lizenz, und die Aufgabe eines Grod-Fängers ist es, diese einzufangen. Grods sind winzige Wesen, die sich durch teuflische Gerissenheit und enorme Dickköpfigkeit auszeichnen. Ein Grod-Fänger muß also über große Macht und Intelligenz verfügen. Es gibt viele, die mit einem höhnischen Lachen behaupten: »Azazel wird nie im Leben zum Grod-Fänger gewählte Aber ich werde es ihnen schon zeigen. Also, was kann ich für dich tun?«

Ich erklärte ihm die Situation, und Azazel schien überrascht zu sein. »Willst du damit sagen, daß ihr auf dieser armseligen Welt nicht feststellen könnt, ob das, was jemand behauptet, der objektiven Wahrheit entspricht?«

»Wir verfügen über ein Gerät, das sich >Lügendetektor< nennt«, erwiderte ich. »Es mißt den Blutdruck, die elektrische Leitfähigkeit der Haut und dergleichen mehr.

Damit kann man feststellen, ob jemand lügt. Allerdings spricht das Gerät auch an, wenn jemand sehr nervös oder angespannt ist.«

»Natürlich. Aber verfügt nicht jede Spezies, die genug Intelligenz besitzt, um die Wahrheit zu verzerren, über eine ganz bestimmte Drüsenfunktion? Oder ist euch dieses Prinzip etwa unbekannt?«

Ich ging über seine Frage hinweg. »Gibt es irgendeine Möglichkeit, einen vollkommen unerfahrenen Kriminalbeamten mit der Fähigkeit auszustatten, diese Drüsenfunktion wahrzunehmen?«

»Ohne eine eurer primitiven Maschinen? Allein mit den Fähigkeiten seines Geistes?«

»Ja.«

»Dir ist klar, daß es sich hier um das Gehirn eines Vertreters deiner Spezies handelt? Es ist zwar groß, aber unendlich primitiv.«

»Vollkommen klar.«

»Nun gut, ich will es versuchen. Du mußt mich zu ihm bringen oder ihn hierher holen - oder mir auf irgendeine andere Weise die Möglichkeit geben, ihn zu untersuchen.«

»Sicher.«

Und so geschah es.

Etwa eine Woche später besuchte mich Vandevater, einen besorgten Ausdruck in seinem wohlgeformten Gesicht.

»Onkel George«, sagte er, »etwas Ungewöhnliches ist passiert. Ich habe einen jungen Mann vernommen, der ein Spirituosengeschäft überfallen hatte. Er erzählte mir in recht anrührenden Einzelheiten, wie er zufällig an dem Laden vorbeigekommen sei - in Gedanken bei seiner armen Mutter, die an Kopfschmerzen litt, nachdem sie eine halbe Flasche Gin getrunken hatte. Er habe den Laden betreten, um sich zu erkundigen, ob es ratsam sei, Gin zu trinken, wenn man zuvor eine vergleichbare Menge Rum konsumiert hatte. Da hätte ihm der Besitzer vollkommen unerwartet eine Pistole und den Inhalt seiner Registrierkasse in die Hand gedrückt. Der verwirrte und erstaunte junge Mann hätte beides angenommen, und just in diesem Augenblick sei ein Polizist in den Laden gekommen. Er sagte, er hätte geglaubt, das Geld sei als Entschädigung für die Schmerzen gedacht, die seine arme Mutter erlitten hatte. Als er mir all das erzählte, hatte ich plötzlich das merkwürdige Gefühl, daß er ... äh ... schwindelte.«

»Tatsächlich.«

»Ja. Das ist das Erstaunlichste, was mir jemals widerfahren ist.« Vandevater senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Ich wußte plötzlich nicht nur, daß der junge Mann die Waffe bereits bei sich getragen hatte, als er den Laden betrat, sondern auch, daß seine Mutter gar keine Kopfschmerzen gehabt hatte. Kannst du dir vorstellen, daß jemand über seine Mutter Lügenmärchen erzählt?«

Genauere Nachforschungen ergaben, daß Vandevaters Instinkt ihn nicht getrogen hatte. Der junge Mann hatte tatsächlich Lügen über seine Mutter erzählt.

Von diesem Augenblick an verbesserte sich Vandevaters Fähigkeit ständig.

Innerhalb eines Monats hatte er sich in eine scharfsinnige, abgebrühte Maschine zur Aufdeckung von Unwahrheiten verwandelt.

Seine Abteilung sah voller Erstaunen zu, wie Vandevater einen Angeklagten nach dem anderen überführte. Mochte jemand noch so sehr beteuern, in tiefes Gebet versunken gewesen zu sein, als die Almosenschale geplündert wurde - Vandevaters geschicktem Verhör vermochte er nicht standzuhalten. Den Rechtsanwalt, der -ganz aus Versehen - Treuhandgelder für die Renovierung seines Büros verwendet hatte, brachte er rasch in Verlegenheit. Buchhalter, die zufällig eine Telefonnummer vom Steuerbetrag abgezogen hatten, verwickelten sich in Widersprüche. Drogendealer, die ein fünf Kilo schweres Paket Heroin in einer Cafeteria entgegengenommen hatten, in der Überzeugung, es handele sich dabei um Süßstoff, wurden augenblicklich mit ihrer eigenen Logik geschlagen.

Bald nannte man ihn >Vandevater den Siegreichem, und der Polizeipräsident persönlich übergab ihm unter dem Beifall der versammelten Polizeimannschaft einen Schlüssel, mit dem sich die Toilettentür öffnen ließ, ganz zu schweigen davon, daß sein Büro an das Ende des Flurs verlegt wurde.

Ich beglückwünschte mich dazu, daß alles gut gegangen war und Vandevater nun, da sein Erfolg gesichert war, die schöne Minerva Schlump heiraten konnte. Da erschien Minerva selbst an der Tür meines Apartments.

»Oh, Onkel George«, flüsterte sie leise und ihr geschmeidiger Körper schwankte. Sie war offenbar kurz davor, das Bewußtsein zu verlieren.

Ich hob sie hoch und hielt sie fünf oder sechs Minuten fest, während ich überlegte, auf welchem Sessel ich sie absetzen könnte.

»Was hast du denn, Liebes?« fragte ich, als ich mich vorsichtig ihrer entledigt und ihre Kleider glattgestrichen hatte.

»Oh, Onkel George«, sagte sie, und Tränen quollen aus ihren hübschen Augen. »Es ist Vandevater.«

»Er hat dich doch wohl nicht mit unschicklichen Annäherungsversuchen erschreckt?«

»Oh, nein, Onkel George. Er ist viel zu wohlerzogen, um so etwas vor der Hochzeit zu versuchen, obwohl ich ihm versichert habe, daß ich für den Einfluß der Hormone, der junge Männer mitunter überwältigt, durchaus Verständnis habe und ihm im Falle eines solchen bedauerlichen Vorkommnisses selbstverständlich verzeihen würde. Doch trotz all meiner Beteuerungen läßt er sich zu nichts hinreißen.«

»Was ist es dann, Minerva?«

»Oh, Onkel George, er hat unsere Verlobung gelöst.«

»Das ist unglaublich. Es kann kaum zwei Menschen geben, die besser zueinander passen. Warum denn nur?«

»Er sagt, ich würde ... Unwahrheiten erzählen.«

Meine Lippen bildeten widerstrebend das Wort >Lügen<.

Sie nickte. »Dieses abscheuliche Wort hat er nicht benutzt, aber er hat es gemeint. Erst heute morgen hat er mich in anbetungsvoller Hingabe angesehen und gefragt: >Meine Geliebte, bist du mir auch immer treu gewesen?< Und wie stets habe ich ihm gefühlvoll erwidert: >So treu, wie der Sonnenstrahl der Sonne ist und das Rosenblatt der Rose.< Doch dann verengten sich seine Augen und er sagte haßerfüllt: >Aha, deine Worte entsprechen nicht der Wahrheit. Du hast geflunkert.< Ich stand da wie vom Donner gerührt. Ich sagte: >Vandevater, mein Liebster, wie meinst du das?< Er erwiderte: >So, wie ich es gesagt habe. Ich habe mich in dir getäuscht, wir können nicht mehr länger zusammen sein.< Mit diesen Worten ist er gegangen. Ach, was soll ich jetzt bloß tun? Was soll ich bloß tun? Wo soll ich denn jetzt einen neuen erfolgreichen Verlobten hernehmen?«

Ich sagte nachdenklich: »Vandevater irrt sich in solchen Dingen normalerweise selten - zumindest seit einigen Wochen. Bist du ihm tatsächlich untreu gewesen?«

Eine leichte Röte bedeckte Minervas Wangen. »Eigentlich nicht.«

»Und uneigentlich?«

»Nun, vor einigen Jahren, als ich noch ein ganz junges Mädchen war, mit siebzehn, habe ich einen jungen Mann geküßt. Zugegeben, ich habe ihn fest an mich gedrückt -aber nur, damit er mir nicht entwischt, nicht weil ich ihn so sehr gemocht hätte.«

»Verstehe.«

»Das war keine sehr angenehme Erfahrung. Naja, zumindest nicht sehr. Als ich Vandevater kennengelernt habe, war ich verwundert darüber, um wie vieles besser mir ein Kuß von ihm gefiel als der jenes anderen jungen Mannes. Natürlich wollte ich diese befriedigende Erfahrung so oft wie möglich wiederholen. Während meiner Beziehung mit Vandevater habe ich hin und wieder - aus rein wissenschaftlichem Interesse - andere junge Männer geküßt, nur um sicher zu gehen, daß nicht einer von ihnen, nicht einer, es mit meinem lieben Vandevater aufnehmen konnte. Ich kann dir versichern, Onkel George, daß ich ihnen jede Freiheit gestattet habe, was die Art und Weise des Küssens anbelangte, sie durften mich sogar festhalten und an sich drücken, doch keiner von ihnen konnte Vandevater das Wasser reichen. Und trotzdem behauptet er, ich sei ihm untreu gewesen.«

»Wie lächerlich«, sagte ich. »Mein Kind, dir wurde Unrecht getan.« Ich küßte sie vier oder fünf Mal und sagte dann: »Das hat dir sicher bei weitem nicht so viel Vergnügen bereitet wie Vandevaters Küsse, oder?«

»Laß mich sehen«, sagte sie und küßte mich ebenfalls vier oder fünf Mal mit großer Kunstfertigkeit und Hingabe. »Natürlich nicht«, sagte sie.

»Ich werde mit ihm reden«, sagte ich.

Noch am selben Abend besuchte ich ihn in seinem Apartment. Er saß übellaunig in seinem Wohnzimmer und lud seinen Revolver, um ihn dann wieder zu entladen.

»Zweifellos«, sagte ich, »denkst du daran, dich umzubringen.«

»Niemals«, sagte er mit einem trockenen Lachen. »Weshalb sollte ich mich umbringen? Weil ich ein unbedeutendes Weibsstück verloren habe? Eine Lügnerin? Soll sie doch bleiben, wo der Pfeffer wächst!«

»Du bist im Unrecht. Minerva ist dir immer treu gewesen. Ihre Hände, Lippen und ihr Körper haben nie die Hände, Lippen oder den Körper eines anderen Mannes berührt.«

»Ich weiß, daß das nicht stimmt«, sagte Vandevater.

»Und ich sage dir, das es stimmt«, erwiderte ich. »Ich habe ausführlich mit dem weinenden Mädchen gesprochen, und sie hat mir die tiefsten Geheimnisse ihres Lebens anvertraut. Sie hat einmal einem jungen Mann einen Handkuß zugeworfen. Damals war sie fünf Jahre alt und er war sechs, und seither zermartert sie sich den Kopf über diesen einen Augenblick des Liebeswahns. Eine solche Unanständigkeit hat sich niemals wiederholt, und doch ist es das, was du wahrgenommen hast.«

»Sprichst du die Wahrheit, Onkel George?«

»Sieh mich mit deinem unfehlbaren, scharfsinnigen Blick an, und ich werde noch einmal wiederholen, was ich gerade gesagt habe. Und dann kannst du mir sagen, ob ich die Wahrheit gesprochen habe.«

Ich wiederholte die Geschichte noch einmal, und er sagte verwundert: »Du sprichst die absolute, die reine Wahrheit, Onkel George. Glaubst du, Minerva wird mir jemals verzeihen?«

»Natürlich«, sagte ich. »Trage sie auf Händen und mache weiter Jagd auf den Abschaum der Unterwelt in den Spirituosengeschäften, Vorstandsbüros und Rathausfluren, aber richte deinen scharfsinnigen Blick niemals auf die Frau, die du liebst. Die vollkommene Liebe gründet sich nur auf vollkommenem Vertrauen. Und du mußt ihr vollkommen vertrauen.«

»Das werde ich, das werde ich«, rief er.

Und das hat er seither auch getan. Inzwischen ist er zum besten Kriminalbeamten der Polizei und in den Rang eines Wachtmeisters mit besonderem Aufgabenbereich aufgestiegen. Sein Büro befindet sich im Erdgeschoß, direkt neben der Waschmaschine. Er hat Minerva geheiratet, und sie leben in vollkommener Harmonie miteinander.

Sie überprüft die überragenden Qualitäten von Vandevaters Küssen wieder und wieder, in einem nicht enden wollenden Taumel der Glückseligkeit. Manchmal ist sie sogar willens, eine ganze Nacht mit einem Mann zu verbringen, der für eine Untersuchung in Frage kommt, doch das Ergebnis bleibt stets das gleiche. Vandevater ist unübertroffen. Inzwischen ist sie Mutter zweier Söhne, von denen einer eine leichte Ähnlichkeit mit Vandevater besitzt.

Soviel zu deiner Behauptung, mein Freund, daß meine und Azazels Bemühungen stets katastrophale Folgen haben.

»Dennoch«, sagte ich, »wenn ich deiner Geschichte Glauben schenke, dann hast du gelogen, als du Vandevater erzählt hast, Minerva hätte nie einen anderen Mann berührt.«

»Das habe ich getan, um das unschuldige junge Mädchen zu retten.«

»Aber wieso hat Vandevater nicht bemerkt, daß du lügst?«

»Ich nehme an«, sagte George und wischte sich Frischkäse von den Lippen, »das lag an meinem unantastbar würdevollen Auftreten.«

»Ich habe da eine andere Theorie«, sagte ich. »Ich glaube, daß weder du noch dein Blutdruck, die elektrische Leitfähigkeit deiner Haut oder deine kaum wahrnehmbaren hormonellen Reaktionen den Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge feststellen können. Und deshalb gelingt das auch sonst niemandem, der sich auf diese Anhaltspunkte verläßt.«

»Lächerlich«, sagte George.

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