11. Kapitel - Gegenwart

12. Dezember 1998

Der Kontrollraum glich einem Hexenkessel. Das Licht flackerte in hektisch pulsierendem Rot, und die Sirenen schrillten und schrillten. Sie hielt nach Becker Ausschau, konnte ihn aber nirgends entdecken, was aber kein Wunder war: In dem riesigen Computersaal herrschte das reinste Chaos.

Die Karte auf dem Wandschirm war verschwunden; statt dessen zeigte der riesige Monitor jetzt einen Ausschnitt einer der oberen Etagen; welche, konnte Charity nicht genau erkennen, denn das Bild war voller Staub und Rauch und fliegender Trümmer. Sie sah fliehende Menschen, hinter ihnen ein riesiger Schatten.

In die aufgeregten Rufe der Zentralbesatzung mischten sich gellende Schreie und das gedämpfte Krachen von Explosionen.

Endlich entdeckte sie Becker - er stand auf der anderen Seite der Zentrale, auf halber Höhe der Treppe, die zu der rundum laufenden Empore hinaufführte.

Charity rief seinen Namen, winkte aufgeregt mit den Armen und schaffte es tatsächlich, seine Aufmerksamkeit zu erregen. Becker blieb stehen, erwiderte ihr Winken und wartete ungeduldig, bis sie sich durch das Chaos in der Zentrale zu ihm durchgekämpft hatte.

»Was ist passiert?« fragte sie erregt.

Becker deutete mit einer fast wütenden Kopfbewegung auf den Bildschirm.

»Sie sind durchgebrochen«, sagte er. Charity fiel erst jetzt auf, dass er in Schweiß gebadet war.

»Durch die Tore?«

Becker schüttelte abgehackt den Kopf. »Nein. Es ... es sieht so aus, als kämen sie direkt aus dem Boden.«

Aber das war unmöglich! dachte Charity fassungslos. Über ihnen war eine halbe Meile Granit! Ungläubig wandte sie sich um und starrte auf den riesigen Videoschirm.

Und wie um Beckers Worte auf grässliche Weise zu bestätigen, klärte sich in diesem Moment das Bild. Der Staub, der den Blick der Kamera bisher verschleiert hatte, legte sich ein wenig, und sie sahen zum ersten Mal den Gegner, der die sicherste Bunkeranlage der Welt gestürmt hatte: Sie erkannte jetzt, welchen Teil der Bunkeranlage die Kamera zeigte - es war nicht die Eingangshalle, sondern die dritte Ebene, ein riesiger Wohn- und Lagerkomplex, der bereits mehr als dreihundert Meter unter dem Boden lag. Die Rückwand der gewaltigen Halle, auf die die Kameraoptik gerichtet war, war zusammengebrochen.

Die mannsdicken Stahlbetonpfeiler, die die Decke getragen hatten, waren wie Streichhölzer zusammengeknickt, und auch in den Wänden und im Boden gähnten Risse.

Und inmitten dieses Chaos aus Trümmern und wirbelndem Staub...

Charity stöhnte vor Entsetzen.

Es war ein Monster; ein Ungeheuer im wahrsten Sinne des Wortes: ein gigantischer, sicher mehr als zwanzig Meter langer und gut fünf Meter durchmessender Wurm von schwarzbrauner Farbe, ohne irgendwelche erkennbaren Gliedmaßen oder Sinnesorgane.

Sein Körper befand sich in beständiger, zuckender Bewegung, als lebte jedes einzelne seiner zahllosen Segmente für sich. Ein gigantisches Maul öffnete und schloss sich wie das eines Fisches auf dem Trockenen.

Charity erkannte eine fünffach gestaffelte Reihe kräftiger stumpfer Zähne.

Ein dünner, blutroter Laserstrahl stach nach dem Ungeheuer. Er traf, aber eine Wirkung war nicht zu erkennen. Das braunschwarze Fleisch schien die geballte Ladung an Lichtenergie einfach aufzusaugen, wie ein ausgetrockneter Schwamm einen Wasserstrahl.

Das Bild schwankte. Selbst durch hundert Meter massiven Fels hindurch spürte Charity das Zittern, als ein weiterer Teil der Rückwand zusammenbrach.

Aus dem Chaos tauchte ein zweiter dieser gigantischen Wurmkreaturen auf, und diesmal erkannte sie deutlich den kreisrunden Schacht, aus dem sie hervorgekrochen kam. Einen Schacht, der direkt in den gewachsenen Fels der Rockys hineinführte und sanft anstieg...

»Großer Gott!« stammelte Becker. »Sie . . sie fressen sich durch den Berg!«

Wieder zuckten Laserstrahlen über das Bild. Charity sah, wie die schwarze Panzerhaut des Ungeheuers in einem sanften, sehr dunklen Rot zu glühen begann, dann Blasen zu werfen und zu schwelen - und plötzlich bäumte sich der Wurm auf, warf sich in blinder Agonie hin und her - und begann sich in rasender Schnelligkeit in den Boden hineinzugraben!

Die Laserstrahlen folgten ihm wie ein Gespinst aus tödlichem Licht, aber dann geschah das, was Charity befürchtet hatte - einer nach dem anderen erloschen die dünnen Lichtfäden, als die Waffen einfach leergeschossen waren. Nach kaum einer Minute war der monströse Wurm verschwunden. Wo er gelegen hatte, gähnte ein fünf Meter durchmessendes, kreisrundes Loch im Boden.

»Das reicht«, sagte Becker. Sehr viel lauter und zu einem Mann irgendwo in dem Durcheinander unter ihnen gewandt fügte er hinzu:

»Rob - sagen Sie diesen Idioten, dass sie aufhören sollen zu schießen! Rückzug!«

»Was haben Sie vor?« fragte Charity erschrocken.

Becker schürzte fast trotzig die Lippen. »Was glauben Sie, Captain Laird?« fragte er. »Ich tue das, was ich schon vor zwei Tagen hätte tun sollen. Ich sprenge. Vielleicht geben sie auf wenn sie denken, dass hier unten alles zerstört ist.«

»Aber Sie ...«

Becker schnitt ihr mit einer barschen Bewegung das Wort ab.

»Sie kennen Ihre Befehle, Captain«, sagte er. »Gehen Sie!«

»Gehen?« Charity schrie fast. »Sie müssen verrückt sein, Becker! Es dauert Stunden, das Schiff startklar zu machen. Die CONQUEROR ...«

»Ist seit einer Woche startklar«, unterbrach sie Becker unwillig. »Verdammt, halten Sie mich für einen Idioten, Laird? Holen Sie Ihre Ausrüstung und warten Sie in der Schleuse auf uns. Das ist ein Befehl.«

Eine einzige, endlose Sekunde lang starrte Charity ihn nur an, dann drehte sie sich wortlos um und verließ die Zentrale.

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