6. Dezember 1998
Es wurde wieder hell, als sie das dritte Mal zwischenlanden mussten, und diesmal hatten sie weniger Glück. Der Flug durch die Nacht war ein Alptraum gewesen.
Unter ihnen waren keine Lichter gewesen. Hier und da hatten sie ein Feuer gesehen, aber sie hatten sich gehütet, ihm nahe zukommen.
Zumindest eines war kein Problem gewesen: Treibstoff. Mike war einfach nur dem Highway nach Westen gefolgt, und seine Rechnung war aufgegangen. Unter den Tausenden von Wagen, die auf dem grauen Betonband liegengeblieben waren, hatten sie zweimal Tanklaster voller Benzin entdeckt, so dass das Nachtanken weder gefährlich noch zeitraubend geworden war. Mike hatte den Helikopter einfach auf der Straße aufgesetzt und mit laufendem Motor aufgetankt, während Charity mit entsicherter Waffe Wache hielt. Sie hatten Stanleys Warnung nicht vergessen. Und sie hatten während der ganzen Nacht keinen einzigen Außerirdischen gesehen.
Sie entdeckten auch jetzt keinen, aber auch keinen Tankwagen.
Es war hell geworden, und vor fünf Minuten hatte Mike fluchend auf den Reservetank umgeschaltet, nachdem der Motor zu spucken begonnen hatte. Seitdem glitten sie in zwanzig Metern Höhe über den Highway hinweg.
»Wie lange noch?« fragte Charity.
Mike zuckte die Achseln. »Keine Ahnung. Vielleicht fünf Minuten. Aber ich will nichts riskieren. Schlimmstenfalls landen wir neben irgendeinem Wagen und zapfen den Tank an.«
Sein Tonfall machte deutlich, dass ihm die Idee nicht gefiel. Sie waren beide müde. Sie hatten vierundzwanzig Stunden nicht geschlafen. Und sie flogen über ein Land, das sich im Krieg befand, auch wenn sie davon bisher noch nichts gemerkt hatten. Es kam Charity fast absurd vor, dass sie den Gegner, der eine ganze Welt in die Knie gezwungen hatte, bisher kein einziges Mal zu Gesicht bekommen haben sollten.
»Schau, da vorne.« Mike deutete auf einen kleinen, rechteckigen Umriss, der am Ende des monotonen Betonbandes aufgetaucht war und allmählich heranwuchs.
Plötzlich atmete er erleichtert auf. »Das Glück ist mit den Dummen«, verkündete er. »Ein Drive-In. Komplett mit Tankstelle und Motel.« Er grinste. »Ich spendiere dir einen kalten Hamburger, sobald wir getankt haben, einverstanden?«
Charity rang sich mühsam dazu durch, sein Lächeln wenigstens andeutungsweise zu erwidern, nahm den Feldstecher von den Knien und blickte aufmerksam zu der kleinen Ansammlung schäbiger Gebäude hinüber. Alles wirkte vollkommen normal: Vor dem Restaurant stand ein halbes Dutzend Autos, und ein Stück neben der Tankstelle lag ein riesiger, hellgrün gestrichener Tankwagen.
»Bingo«, sagte sie. »Da steht ein Tanker. Die nächsten dreihundert Meilen sind uns sicher.« Und damit hätten sie dann die Hälfte geschafft. Viel mehr, als sie zu hoffen gewagt hatten...
Mike nahm vorsichtig Gas weg, flog eine Schleife und näherte sich dem Motel von der der Straße abgewandten Seite, während Charitys Blick aufmerksam über die umliegende Landschaft glitt. Sie hatten abermals Glück - es gab im Umkreis von mehreren Meilen nichts als flache Steppe, auf der kaum ein Strauch wuchs.
Keine Gefahr, von einem Angreifer aus dem Hinterhalt überrascht zu werden.
»Okay«, sagte Mike. »Wir machen es wie beim letzten Mal - ich tanke, du stehst Schmiere.« Er grinste. »Pfeif dreimal, wenn die Bullen kommen.«
Sie landeten fünf Meter neben dem Tanker. Mike ließ den Gashebel ganz vorsichtig los und wartete mit angehaltenem Atem darauf, dass der Motor ausging, aber das tapfere Maschinchen lief munter weiter. Charity fragte sich, wie lange der fünfundzwanzig Jahre alte Motorblock die Dauerbelastung noch aushaken würde, bevor er ihnen schlichtweg um die Ohren flog.
Sie stieß die Tür auf, sprang mit einem federnden Satz aus dem Hubschrauber und hob sofort ihr Gewehr. Auf der anderen Seite kletterte Mike umständlich aus der Maschine heraus, reckte sich ausgiebig und strich sich müde über Gesicht und Augen, ehe er sich daran machte, den Hubschrauber zu umkreisen und auf den Tankwagen zuzugehen.
Er erreichte ihn nie.
Wahrscheinlich war es ihre Müdigkeit, die sie hatte leichtsinnig werden lassen.
Es ging alles so schnell, dass Charity nicht einmal dazu kam, einen warnenden Ruf auszustoßen. Die Tür des Motels flog mit einem scheppernden Laut auf, und ein halbes Dutzend Bewaffneter stürmte ins Freie; im selben Moment tauchte ein Gewehrlauf im Fenster des Lastwagens auf. Charity erstarrte mitten in der Bewegung.
»Gut so«, sagte eine Stimme. Sie kam irgendwo aus dem Dunkel hinter dem Gewehr, und sie klang sehr entschlossen, aber auch voller Angst. »Mach jetzt lieber keine falsche Bewegung, Kleine. Leg dein Gewehr weg, aber hübsch langsam.«
Charity gehorchte. Aus den Augenwinkeln sah sie, wie auch Mike behutsam die Arme hob und zu einer Stelle am hinteren Ende des zwölf Meter langen Trucks blickte. Hinter den Zwillingsreifen des Lasters war eine geduckte Gestalt aufgetaucht.
Auch sie hielt ein Gewehr.
»Hören Sie«, sagte sie vorsichtig. »Wir sind nicht Ihre Feinde.«
Sie bekam keine Antwort und hob vorsichtshalber die Arme noch ein wenig höher.
Zwei Sekunden später verschwand der Gewehrlauf aus dem Fenster der Fahrerkabine, und die Tür wurde aufgestoßen. Ein vielleicht zwanzigjähriger blonder Junge in einem zerschlissenen Overall sprang aus dem Wagen. Das Gewehr in seinen Händen war eine uralte Remington, die wahrscheinlich nicht einmal auf zwanzig Meter genau schoss. Aber das nutzte ihr verdammt wenig - der Junge war kaum drei Meter von ihr entfernt, und er sah ganz so aus, als wäre er zu allem entschlossen. Außerdem war er halb wahnsinnig vor Angst.
»Wir sind auf eurer Seite«, sagte sie noch einmal. »Wirklich.«
Der Junge antwortete nicht, aber in die Angst in seinem Blick mischte sich etwas wie vorsichtige Erleichterung. Trotzdem blieb er misstrauisch. Er wollte ihr gerne glauben, das spürte sie, aber er konnte es nicht.
Sie versuchte die Hände herunterzunehmen und provozierte damit eine rasche, drohende Bewegung des Gewehres. »Tun Sie lieber nichts, wozu Sie keine Zeit mehr hätten, es zu bereuen«, sagte der Junge.
Charity unterdrückte ein Seufzen. In welchem Film hatte er diesen Satz aufgeschnappt? dachte sie. Aber sie gehorchte trotzdem.
Aus dem Motel näherte sich ihnen jetzt eine Gruppe von fünf oder sechs Männern.
Zwei von ihnen gingen auf den Helikopter zu, während die anderen hinter dem Jungen stehen blieben. Zwei weitere Gewehre und der Lauf einer kleinen Damenpistole richteten sich auf Charity.
»Hören Sie«, sagte sie, »wir sind amerikanische Soldaten, keine Marsmenschen. Ihre Vorsicht in allen Ehren, aber ich bin müde und mir tut jeder einzelne Knochen im Leib weh. Kann ich jetzt vielleicht endlich die Hände herunternehmen?«
Sie hatte ziemlich scharf gesprochen, und der rüde Ton erzielte die Wirkung, die sie sich erhofft hatte. Der Junge wirkte plötzlich nicht mehr halb so sicher; schließlich nickte er.
»Sagt Stan Bescheid«, sagte er, an einen der anderen Männer gewandt. »Wir haben sie. Ich glaube nicht, dass es Russen sind.«
Russen? Charity riss die Augen auf und starrte den Jungen an.
Was zum Teufel...
Ihre Überraschung entging dem Jungen keineswegs, und natürlich deutete er es völlig falsch. Das misstrauische Funkeln in seinen Augen wurde wieder stärker.
»Oder?« fragte er.
»Natürlich nicht«, antwortete Charity hastig. »Verdammt, schauen Sie sich meine Uniform an - sehe ich aus wie ein russischer Soldat?«
Der Junge kam tatsächlich einen Schritt näher und blickte misstrauisch auf das kleine Sternenemblem über ihrer Brust. »US Space Force?« Er starrte sie an, drehte den Kopf und blickte zum Helikopter hinüber. Plötzlich grinste er. »Komische Raumschiffe habt ihr neuerdings.«
Seine Bemerkung brach den Bann.
Charity konnte regelrecht sehen, wie die Spannung aus den Gesichtern der anderen wich, und auch der Junge atmete hörbar auf.
Trotzdem zögerte sie noch einen Moment, die Hände herunterzunehmen.
Diese Männer waren mehr als nur nervös. Eine einzige falsche Bewegung, und ihre Reise fände ein vorzeitiges Ende.
Sie setzten sich in Bewegung und gingen zum Motel hinüber. Der Motor des Helikopters erstarb mit einem seufzenden Geräusch, als sie die halbe Strecke geschafft hatten, aber Charity sah sich nicht einmal um. Irgendwie würden sie das Ding schon wieder in Gang kriegen, dachte sie. Und wenn nicht... nun, sie waren ohnehin schon sehr viel weiter gekommen, als sie erwartet hatte. Im Moment interessierte sie sich sehr viel mehr für ein Bett. Mike und sie brauchten dringend Schlaf.
Im Inneren des Motels hielten sich etwa zehn Menschen auf - ein paar Angestellte, ein ältliches Ehepaar, dem man seine Angst selbst auf zwanzig Meter Entfernung ansah, ein Mann in kariertem Hemd, den sie ganz instinktiv als den Fahrer des Tanklasters einschätzte, und ein junges Pärchen in Lederkleidung.
Sie erinnerte sich flüchtig, eine Harley draußen auf dem Parkplatz gesehen zu haben. Strandgut, dachte sie, das der nie erklärte Krieg in diesem Motel zusammengetrieben hatte.
Ein übergewichtiger Mann in einem schlecht sitzenden Anzug kam auf sie und Mike zu, als sie das Lokal betraten. Mit Ausnahme des älteren Ehepaares war er der einzige, der keine Waffe trug, und doch wusste sie, dass sie dem Führer dieser kleinen Gemeinschaft gegenüberstand.
»Sie sind Stan?« fragte sie.
Er nickte. Sein Blick war vollkommen ausdruckslos, während er Mike und sie musterte. »Und Sie Captain Laird, wenn ich mich nicht irre.«
»Jedenfalls heiße ich nicht Lairdowska«, antwortete Charity säuerlich. »Wie zum Teufel kommen Sie auf die Schnapsidee, dass wir Russen sein könnten?«
Stan zuckte unbeeindruckt die Achseln. »Gibt nur zwei Möglichkeiten, oder? Die Ameisen oder die Roten. Wie Ameisen sehen Sie nicht aus, Captain.«
Ameisen? dachte sie verwirrt.
Dann begriff sie.
Keiner von diesen Menschen wusste, was wirklich passiert war - wahrscheinlich waren sie vor fünf Tagen hier einfach durch Zufall zusammengekommen, und alles, was sie gesehen hatten, war der große Blitz. Seither saßen sie hier fest.
Sie verzichtete auf eine Antwort auf Stans Bemerkung, steuerte einen der Tische an und ließ sich seufzend daran nieder. Plötzlich war sie nur noch müde. Und sie hatte entsetzliche Angst vor den Fragen, die sie stellen würden.
»Sie sehen aus, als könnten sie eine kleine Stärkung vertragen«, sagte Stan, nachdem sich auch Mike zu ihnen gesetzt hatte. »Polly - mach unseren Gästen etwas zu Essen. Und einen starken Kaffee.« Er lächelte, als er Charitys dankbaren Blick bemerkte, zog sich einen Stuhl heran und ließ sich rittlings darauf nieder. Nach und nach kamen auch die anderen heran, bis Mike, Charity und er von einem guten Dutzend Männern und Frauen umringt waren.
»Was ist passiert?« fragte Stan schließlich. Charity sah widerstrebend auf, und er musste spüren, dass sie ihm nicht antworten wollte, denn er fügte mit einer entschuldigenden Geste hinzu: »Wir sind seit einer Woche von allem abgeschnitten, wissen Sie? Hier funktioniert fast nichts mehr. Hat es ... Krieg gegeben?«
Charity schüttelte den Kopf, nickte und schüttelte gleich darauf wieder den Kopf. Mike warf ihr einen warnenden Blick zu, aber sie ignorierte ihn. Sie konnte diese Leute einfach nicht belügen, obwohl sie das sichere Gefühl hatte, einen schlimmen Fehler zu begehen, wenn sie antwortete.
»Nicht mit den Russen, wenn Sie das meinen«, sagte sie. »Ich fürchte, drüben sieht es auch nicht anders aus als hier.«
»Es waren die Ameisen?«
Eine sonderbare Bezeichnung für die Außerirdischen, dachte Charity. Sie nickte.
»Sie haben sie gesehen?«
»Ein paar«, antwortete der junge Mann in der Motorradkleidung. »Vor zwei Tagen. Haben sich drüben in den Hügeln rumgetrieben. Aber sie sind nicht hergekommen.«
Wären sie es, dachte Charity, dann wärst du kaum noch am Leben, mein Freund.
Dann sah sie wieder Stan an und versuchte zu lächeln. »Sie sind nicht die einzigen, die abgeschnitten sind«, sagte sie vorsichtig.
Stans Gesicht verdüsterte sich. »Der große Knall, nicht?« sagte er. »Sie haben dieses ganze verdammte Land lahmgelegt.«
»So ungefähr«, gestand Charity.
»Sie können nicht hier bleiben«, sagte Mike. »Es kann Monate dauern, bis Hilfe kommt. Und die Außerirdischen ...«
»Die sollen nur kommen«, unterbrach ihn der Junge, der Charity überrascht hatte. »Wir haben Lebensmittel für ein halbes Jahr. Und genug Munition, um sie auf den Mars zurückzuschicken.«
Stan schwieg dazu. Seinem Gesicht war nicht die mindeste Regung anzusehen.
Aber Charity spürte genau, was in ihm vorging. Außer ihr und Mike war er vielleicht der einzige, der wusste, was wirklich auf sie zukam.
»Ihr Hubschrauber«, sagte Stan plötzlich. »Wieso fliegt er? Hier funktioniert nichts mehr.«
»Ein paar Techniker in New York haben ihn hingekriegt«, antwortete Charity ausweichend. »Ich habe allerdings keine Ahnung, wie lange er durchhält.«
»Aber wenn er funktioniert, dann müssen doch auch andere Maschinen wieder arbeiten«, sagte der Motorradfahrer. »Ich meine - unsere Jungs werden doch kommen und diese verdammten Aliens zurückjagen, oder?«
Charity wollte antworten, aber Stan war schneller. Mit einer befehlenden Geste wandte er sich an den anderen. »Halten Sie den Mund, Patrick. Sie sehen doch, dass die beiden völlig fertig sind. Ich schlage vor, wir lassen Sie jetzt erst einmal in Ruhe. Sie werden essen und sich dann gründlich ausschlafen, Captain. Sie sehen aus, als könnten Sie beides gebrauchen.«
Sie hatten weder für das eine noch für das andere Zeit, aber Charity widersprach nicht. Ihre Chance, SS Nulleins lebend zu erreichen, war nicht besonders groß, wenn Mike oder sie am Steuerknüppel des Helikopters einschliefen. Dankbar nickte sie Stan zu.
Er lächelte. »Machen Sie sich keine Sorgen um ihren Hubschrauber«, sagte er. »Wir tanken ihn auf, und Patrick kann sich die Maschine ansehen. Er versteht eine Menge von Motoren. Morgen früh können Sie weiterfliegen.«
Charity zögerte noch immer, obwohl sie im Grunde recht gut wusste, dass sie gar keine andere Wahl hatte, als Stans Angebot anzunehmen. Sie war nicht einmal sicher, ob er sie überhaupt gehen lassen würde, wenn sie darauf bestanden. Sie kannte ihn und die anderen ja erst seit wenigen Minuten.
Was, wenn Stanley mit seiner Warnung recht gehabt hatte? Was, wenn...
Wenn ich allmählich anfange, hinter jeder freundlichen Geste eine Falle zu wittern? dachte sie. Ihre Menschenkenntnis sagte ihr, dass sie diesen Leuten hier vertrauen sollte.
Mike nahm ihr die Entscheidung ab, indem er nickte. »Wir nehmen Ihr Angebot an, Stan«, sagte er. »Falls wir Ihnen nicht zur Last fallen.«
»Bestimmt nicht«, sagte Stan. »Im Gegenteil, Lieutenant. Wir haben auf jemanden wie Sie gewartet. Aber ganz so billig«, fügte er nach einer winzigen Pause hinzu, »kommen Sie uns nicht davon. Sie müssen uns alles erzählen, wenn Sie gegessen haben - einverstanden?«
»Ein Steak gegen Informationen?« Mike zuckte die Achseln.
»Warum nicht?«
Und wahrscheinlich, fügte Charity in Gedanken hinzu, war das ohnehin die Währung, in der in Zukunft in diesem Land bezahlt werden würde.
Falls es überhaupt noch eine Zukunft gab.
Sie musste vier oder fünf Stunden geschlafen haben. Dem Stand der Sonne nach zu urteilen, war es kurz vor Mittag, als sie die Augen aufschlug, und es dauerte einen Moment, bis sie spürte, dass sie nicht mehr allein im Zimmer war. Dann fuhr sie mit einem Ruck hoch und griff nach der Pistole, die unter ihrem Kopfkissen lag.
Stan hob erschrocken die Hände. »Nicht!« sagte er hastig. »Ich bin es nur.«
Charity blickte ihn einen Moment lang verwirrt an, dann senkte sie die Waffe.
»Haben Sie noch nie gehört, dass man anklopft, wenn man das Schlafzimmer einer Dame betritt, Stan?« fragte sie müde.
»Vor allem, wenn sie eine Waffe unter dem Kopfkissen hat«, fügte Stan hinzu. »Ich weiß. Nehmen Sie sie ruhig herunter, Miss Laird. Ich will nur mit Ihnen reden. Ohne die anderen«, fügte er hinzu. Er machte einen Schritt auf sie zu und blieb abermals stehen.
»Legen Sie das Ding zur Seite«, bat er noch einmal. »Ich will wirklich nur reden.«
Mit einem verlegenen Lächeln legte sie die Waffe auf das Bett, stand auf und taumelte schlaftrunken zum Waschbecken. Der Wasserhahn drehte sich quietschend, aber es kam kein Tropfen heraus. Nein, dachte sie ärgerlich - sie war wirklich noch nicht ganz wach.
Stan lächelte, kam mit zwei raschen Schritten zu ihr herüber und goss frisches Wasser aus einem großen Porzellankrug in das Becken.
Charity seufzte. Ob sie sich irgendwann einmal daran gewöhnen würde, dass sie um gut zweihundert Jahre zurückgeworfen worden waren? Kaum.
Sie wusch sich flüchtig, fühlte sich aber hinterher kein bisschen wacher.
»Also?« sagte sie. Sie sah Stan nicht an, sondern ging zum Fenster und blickte hinaus. Alles sah so friedlich aus. Sie schauderte.
»Sie haben uns nicht die Wahrheit gesagt, heute morgen, nicht wahr?« begann Stan.
Charity betrachtete ihr eigenes Spiegelbild in der verschmutzten Scheibe. »Wollen Sie sie denn hören?«
»Ich glaube schon«, sagte Stan. Er klang fast ein bisschen verärgert. »Wie schlimm ist es wirklich?«
»Schlimmer«, sagte Charity hart. »Sie haben New York vernichtet, wenn Sie es ganz genau wissen wollen. Und wahrscheinlich jede andere Großstadt in diesem ganzen Land.«
Stan wurde ein bisschen blass, nahm die Nachricht aber ansonsten fast ausdruckslos hin.
»Die Hilfe, auf die Sie warten, wird nicht kommen, Stan«, fuhr sie fort, ein wenig sanfter, weil ihr ihre eigenen Worte schon wieder leid taten.
»Es gibt keine Hilfe mehr. Die Army ist paralysiert, und ich fürchte, die Ameisen werden kaum warten, bis sie sich wieder erholt hat.« Sie schüttelte traurig den Kopf und wünschte sich, sich nicht vor zwei Jahren das Rauchen abgewöhnt zu haben.
Vielleicht sollte sie Stan um eine Zigarette bitten. Dann fuhr sie fort: »Ich würde Ihnen gerne den Rat geben, von hier zu verschwinden, Stan, aber ich kann es nicht. Ich wüsste nicht, wohin ich Sie schicken sollte, wissen Sie? Ich glaube, Sie haben es hier ganz gut getroffen. Wenigstens leben Sie noch.«
»Keine Hilfe?« murmelte Stan, als hätte er alles, was sie danach gesagt hatte, gar nicht gehört. Charity überlegte, ob sie sich vielleicht in ihm getäuscht hatte.
Vielleicht war er nicht so stark, wie sie und Mike angenommen hatten, sondern spielte nur den Führer.
Sie schüttelte den Kopf. »Wenn Sie auf die Air Force warten, Stan«, sagte sie sanft, »muss ich Sie enttäuschen. Das fünfundzwanzig Jahre alte Wrack dort draußen ist die Air Force.«
»Aber warum?« murmelte Stan. »Es ist bisher nichts passiert.«
»Hier«, sagte Charity - obwohl sie zugeben musste, dass Stan nicht völlig unrecht hatte. Sie hatten keine Außerirdischen gesehen, seit sie New York verlassen hatten, und das, obwohl sie jetzt beinahe tausend Meilen weit geflogen waren.
Aber die Karte in Stanleys Büro behauptete das Gegenteil.
»Vermutlich konzentrieren sie sich im Moment darauf, den Widerstand zu zerschlagen«, sagte sie. »Ich denke, dass Sie hier noch eine Weile Ruhe haben werden, Stan. Die meisten unserer Waffen funktionieren nicht mehr, aber das heißt nicht, dass wir wehrlos sind. Es dauert eine Weile, eine ganze Welt zu erobern.«
Sie lachte bitter.
»Keine Hilfe?« murmelte Stan noch einmal. Er wirkte erschüttert, so sehr, wie sie es noch nie zuvor bei einem Menschen gesehen hatte. Und plötzlich begriff sie. Das Dutzend Menschen, das das Schicksal hier zusammengeführt hatte, hatte ihn zu ihrem Führer gewählt, aber er hatte ihnen wahrscheinlich nur Mut geben können, weil sie alle glaubten, dass irgendwann Hilfe kommen würde.
Wenn sie die Wahrheit erfuhren, würde ihre Gemeinschaft so schnell zerbrechen, wie sie entstanden war.
»Sie sollten versuchen, sich in die Berge durchzuschlagen«, sagte sie. »Das ist der einzige Rat, den ich Ihnen geben kann, Stan. Es ist ein verdammt langer Weg, zu Fuß, aber ...«
»Wir werden fahren«, sagte Stan. Charity sah ihn überrascht an.
»Patrick hat sich ihren Hubschrauber angesehen«, erklärte Stan. »Keine Sorge, er hat nichts angerührt. Aber er sagt, es wäre eigentlich ganz leicht, wenn man nur einmal wüsste, wie man es macht. Wir werden ein paar der Wagen flott machen und so viel Benzin mitnehmen, wie wir können. Ich... ich weiß nur noch nicht genau, wie ich es ihnen beibringen soll.«
»Soll ich es tun?« fragte Charity.
Stan schüttelte traurig den Kopf.
»Das ist meine Aufgabe«, sagte er. »Aber ich ... werde warten, bis Sie wieder abgeflogen sind.« Er seufzte, ließ sich auf einen Stuhl sinken und verbarg das Gesicht in den Händen. Er tat Charity sehr, sehr leid.
Aber sie sagte nichts mehr, sondern wartete, bis er nach einer Weile wieder aufstand und sie allein ließ, ehe sie sich umzog und ihr Gepäck wieder zusammenpackte.
Sie aßen noch einmal zusammen, ehe sie abflogen. Charity war sicher, dass Stan niemandem etwas von ihrem Gespräch verraten hatte, aber die anderen schienen zu spüren, dass irgend etwas nicht stimmte. Sie redeten sehr wenig, und so absurd es war - Charity hatte das sichere Gefühl, dass nicht nur Stan erleichtert war, als sie schließlich aufstanden und erklärten, es wäre Zeit aufzubrechen.
Diesmal saß Charity hinter dem Steuerknüppel. Sie winkte Stan und den anderen zum Abschied zu, zog den Helikopter vorsichtig höher und flog noch eine Schleife um das Drive-In. Mike runzelte vielsagend die Stirn, aber er war klug genug, nichts zu sagen.
Aber sie brachte die Maschine auch anschließend nicht wieder auf Kurs, sondern flog auf die Berge zu. Mike sah sie verwirrt an.
»Was soll das?« fragte er barsch.
Charity deutete mit einer Kopfbewegung auf die Hügelkette vier oder fünf Meilen vor ihnen. »Der Junge hat gesagt, er hätte die Fremden dort beobachtet«, antwortete sie. »Ich will mir das ansehen.«
»Und wozu?« Mike gab sich nicht einmal mehr Mühe, seine Verärgerung zu verbergen.
»Vielleicht, weil ich gerne weiß, was hinter mir ist«, antwortete Charity. Aber das war nicht der wahre Grund - die Wahrheit war, dass sie sich auf eine völlig widersinnige Art für das Schicksal der Menschen am Drive-In verantwortlich fühlte. Und das mindeste, was sie für sie tun konnten, war, sich davon zu überzeugen, dass sie in Sicherheit waren.
Sie waren es nicht.
Eine grässliche Szenerie breitete sich unter ihnen aus. Wo vor Tagen noch nichts als unberührte Steppe und Sand und ein paar Büsche gewesen waren, lag jetzt eine ungeheuerliche Masse chitinglitzernder gepanzerter Körper, zwischen denen sich eine seltsame schwarze Pyramide erhob. Charity konnte das Gefühl nicht besser in Worte fassen - es war schlicht und einfach unangenehm, das schwarze Bauwerk anzusehen. Etwas in ihr krampfte sich zusammen, wenn sie es versuchte.
Zitternd setzte sie den Feldstecher ab, reichte ihn an Mike weiter und kroch wieder ein Stück den Hügel hinab, hinter dem sie den Hubschrauber gelandet hatten.
Ein flaues Gefühl breitete sich in ihrem Magen aus, als sie daran dachte, was ihnen wahrscheinlich passiert wäre, hätte sie den Hügel überflogen, um sich das dahinterliegende Tal aus der Luft heraus anzusehen, wie sie es ursprünglich vorgehabt hatte.
Mike kam zurück. Er war sehr blass, und seine Hände zitterten, als er ihr den Feldstecher zurückgab. Er sagte kein Wort, aber Charity spürte, dass er darauf wartete, dass sie aufstehen und zum Hubschrauber zurückgehen würde. Statt dessen klappte sie das Fernglas mit einer raschen Bewegung auf, kramte einen Film aus der Brusttasche ihrer Uniform und legte ihn ein.
»Was zum Teufel hast du vor?« fauchte Mike.
»Das siehst du doch«, antwortete Charity, kaum weniger gereizt als er. »Ich mache ein paar Aufnahmen. Ich will wissen, was sie dort unten treiben.«
Sie gab Mike keine Gelegenheit, zu widersprechen, sondern robbte den sandigen Hang wieder hinauf, schob sich vorsichtig auf den Hügelkamm und setzte den Feldstecher abermals an. Der Mikrocomputer in seinem Inneren funktionierte nicht mehr, und sie verstand absolut nichts vom Fotografieren, aber sie hoffte, dass Beckers Spezialisten wenigstens einigermaßen schlau aus den Aufnahmen werden würden, die sie machte.
Mike tauchte wieder neben ihr auf. Sie rechnete mit neuen Vorwürfen, aber er schwieg, während sie den Feldstecher langsam von links nach rechts schwenkte und alle paar Sekunden auf den Auslöser drückte.
»Das ist unglaublich«, murmelte Mike. »Es... ergibt keinen Sinn. Großer Gott - Sternenschiffe und Materietransmitter und dann das da!«
Charity antwortete nicht, aber sie verstand ihn. Was sich unter ihnen ausbreitete, das war... einfach absurd.
Ihre genaue Zahl war schwer zu schätzen, aber Charity vermutete, dass es Tausende dieser bizarren Kreaturen sein mussten, die sich in dem flachen Hügeltal sammelten. Durch das Fernglas hatte sie beobachtet, dass sie aus dem pyramidenförmigen Gebäude im Zentrum des Lagers kamen; ein dünner, aber unaufhörlicher Strom aller nur denkbaren Horrorkreaturen, von denen einige nur mit Mühe aus dem halbrunden Eingang der Pyramide herauskriechen konnten.
Es waren nicht nur die riesigen Käferwesen, die das Tal bevölkerten, oder ihre vierarmigen Reiter, sondern ein ganzes Sammelsurium der absonderlichsten Kreaturen, die nur eines gemeinsam hatten - sie alle wirkten auf die eine oder andere Art gefährlich. Und mit Ausnahme der Vierarmigen, die die Sturmtruppen der Fremden zu sein schienen, waren es ausnahmlos Tiere.
»Vielleicht doch«, sagte sie plötzlich. Sie senkte den Feldstecher, fuhr sich müde mit dem Handrücken über die Augen und deutete mit einer Kopfbewegung ins Tal hinab. »Es ergibt Sinn, wenn man ...«
Sie suchte nach den passenden Worten, fand sie nicht und zuckte die Achseln. »Wenn man anders denkt als wir«, sagte sie schließlich.
»Und wie?« Mikes Tonfall machte deutlich, dass auch er sich Gedanken über diese Frage gemacht hatte. Und vielleicht war er zu dem gleichen, schrecklichen Ergebnis gekommen wie sie.
»Ich vermute, das da sind nur die Sturmtruppen«, sagte Charity. »Die große Dampfwalze, die sie vorausschicken, weißt du?«
»Es sind Tiere«, sagte Mike betont.
»Und?« fragte Charity. »Wir schicken Raketen oder Roboter und sie Tiere - wo ist der Unterschied? Vielleicht haben sie sie zu keinem anderen Zweck gezüchtet.«
»Aber ...«
»Verdammt noch mal, würde es etwas ändern, wenn dort unten zehntausend Roboter aufmarschiert wären?« unterbrach ihn Charity gereizt. »Diese Monster funktionieren perfekt, oder? Du kannst ja runtergehen und dich bei ihnen beschweren, dass sie sich nicht an die Spielregeln halten!«
»Es ist so ... so unmenschlich«, sagte Mike nach einer Weile.
»Sie sind keine Menschen«, erinnerte Charity gereizt. »Und wer immer sie sind, das da unten sind nicht unsere wirklichen Gegner. Es sind ihre Panzer.« Aber sie verstand, was Mike meinte. Neben der ungeheuerlichen Gefahr, die diese Armee aus Horrorkreaturen darstellte, gab es auch noch einen psychologischen Effekt, und sie war nicht einmal sicher, ob er nicht sogar beabsichtigt war. Nicht nur Mike wäre es einfach leichter gefallen, gegen eine Armee gefühlloser Roboter mit Strahlenwaffen zu kämpfen. Diese Invasion der Ungeheuer lahmte schon durch ihren bloßen Anblick.
»Und wahrscheinlich haben sie es schon auf Dutzenden von Welten getan«, knüpfte sie an ihre unterbrochene Rede an. »Sie schicken diese Ungeheuer, und wenn alles vorbei ist, kommen sie selbst und sammeln die Trümmer auf.«
Sie setzte endgültig den Feldstecher ab, verstaute ihn sorgsam in der ledernen Hülle an ihrem Gürtel und begann langsam den Hang wieder hinabzukriechen.
Mike folgte ihr. Auf halber Strecke erhoben sie sich und rannten geduckt zum Hubschrauber. Charity schickte ein Dankgebet zum Himmel, dass der Wind gegen sie stand und das Rotorengeräusch vom Hügel fortwehte.
Sie hoben ab. Charity flog sehr vorsichtig, kam höher als fünf, sechs Meter, und so langsam, wie es die Maschine überhaupt zuließ.
Erst, als sie sich eine gute Meile vom Hügel und damit dem Camp der Fremden entfernt hatte, wagte es Charity, den Hubschrauber ein wenig höher zu steuern und in eine sanfte Linkskurve zu lenken.
»Was hast du jetzt schon wieder vor?« fragte Mike ärgerlich.
»Ich warne Stan und die anderen«, erwiderte Charity. »Falls du nichts dagegen hast.«
Mike sagte nichts, aber sein Blick sprach Bände, und er schwieg auf eine ganz bestimmte, nicht sehr freundliche Art. Charity war ziemlich sicher, dass er sie nach der nächsten Zwischenlandung nicht noch einmal an den Steuerknüppel lassen würde. Verdammt, was war nur mit ihm los? dachte sie. Er hatte sich verändert, seit sie New York verlassen hatten. Sie war plötzlich sehr sicher, dass sie sich voneinander trennen würden, sobald sie ihr Ziel erreicht hatten.