15. Kapitel - Gegenwart

12. Dezember 1998

»Dort entlang!«

Stones Stimme drang nur verzerrt unter seiner halbdurchsichtigen Atemmaske hervor, und sein Gesicht war hektisch gerötet, wo es nicht von pulverfeinem weißem Staub bedeckt war. Sie folgte mit Blicken der Richtung, in die sein ausgestreckter Arm wies, erkannte nichts als Trümmer und Staub, nickte aber trotzdem. Sie hatte längst jede Orientierung verloren. Außerdem kannte er sich hier unten sowieso viel besser aus als sie. So schnell es der pochende Schmerz in ihrem Bein zuließ, folgte sie ihm. Die Hitze stieg. Selbst die Luft aus der kleinen Sauerstoffpatrone an ihrem Gürtel schmeckte warm.

Sie kämpften sich durch den Qualm und erreichten das Ende des Stollens. Stone deutete auf eine offenstehende Lifttür. Die Kabine dahinter war verschwunden.

Ein halbes Dutzend Drahtseile hing sonderbar schlaff herab, und der blutigrote Widerschein von Feuer erhellte den rechteckigen Schacht.

Stone begann ungeduldig mit beiden Händen zu gestikulieren, als sie zögerte, beugte sich durch die offenstehenden Türen und deutete auf eine Reihe kleiner, eiserner Trittstufen, die senkrecht an der Wand in die Tiefe führten.

»Los!« befahl er. »Ehe hier alles zusammenbricht!« ' Charity zögerte noch einmal einen endlosen Augenblick, aber dann trat sie entschlossen an ihm vorbei, griff nach der obersten Stufe und zog sich mit einem kraftvollen Ruck in den Schacht. Die Hitze wurde immer unerträglicher. Unter sich, sehr tief unter sich, konnte sie die brennenden Trümmer der abgestürzten Liftkabine erkennen, und der Aufzugschacht wirkte wie ein Kamin, in dem die glühendheiße Luft nach oben stieg.

Trotzdem ging es besser, als sie zu hoffen gewagt hatte. Sie hatte noch für eine halbe Stunde Sauerstoff, und ihr Kampfanzug hielt wenigstens die allerschlimmste Hitze fern. Rasch, aber sehr vorsichtig kletterte sie in die Tiefe.

Becker, du verdammter Idiot, dachte Charity immer wieder.

Stones Worte hatten sie getroffen wie eine Ohrfeige, obwohl sie keinen Moment an seinen Worten gezweifelt hatte. Sie hätte es sich selbst denken können, und schließlich hatte Becker es ja sogar gesagt - aber offenbar hatte sie sich schlichtweg geweigert, die Wahrheit zu akzeptieren; nämlich die, dass auch ein Mann wie Becker die Nerven verlieren und einen entsetzlichen Fehler begehen konnte.

Die Türen der nächsten Ebene waren geschlossen. Sie kletterten weiter. Die Hitze war kaum mehr auszuhalten. Sie konnten sich jetzt nur noch zwei, allerhöchstens drei Ebenen über der untersten Sohle des Bunkers befinden, und Charity begann sich ernsthaft zu fragen, wo Stone überhaupt hin wollte - ihres Wissens gab es außer der Notrutsche keinen zweiten Ausgang aus dem Bunker, schon gar nicht hier unten. Trotzdem kletterte sie weiter, bis er ihr das Zeichen gab, den Schacht zu verlassen. Die kleine Anstrengung, den Arm auszustrecken und sich in die Sicherheit des Korridores zu ziehen, überstieg fast ihre Kräfte.

Schweratmend ließ sie sich zu Boden sinken, riss die Sauerstoffmaske vom Gesicht und atmete gierig ein und aus. Die Luft hier unten schmeckte wesentlich schlechter als die aus der Patrone, sie war heiß und stank nach Qualm und Staub, aber sie hatte nur diesen winzigen Vorrat und musste sparsam sein.

Charity sah müde auf, als Stone neben ihr aus dem Schacht geklettert kam. Auch er nahm seine Maske herunter und atmete ein paarmal tief durch, ehe er sie sorgfältig wieder an seinem Gürtel befestigte und statt dessen das Lasergewehr vom Rücken nahm.

Charity verfluchte ihren eigenen Leichtsinn, selbst keine Waffe mitgenommen zu haben. Aber verdammt, so hatte geglaubt, wenigstens noch diese paar Minuten zu haben! Alles war so entsetzlich schnell gegangen!

»Wohin?« fragte sie.

Stone sah sich einen Moment lang mit deutlicher Hilflosigkeit um. Dann deutete er nach links. »Versuchen wir es. Vielleicht haben wir Glück, und sie sind noch nicht hier.«

Sie liefen weiter. Der Boden unter ihren Füßen zitterte noch immer leicht, und manchmal glaubte Charity wieder dieses schreckliche, hämmernde Geräusch zu hören, als wenn irgendwo Wände zusammenstürzten. Dann erkannte sie, dass es nur das Hämmern ihres eigenen Herzens war.

Endlich sah sie, wonach sie so lange vergeblich gesucht hatte: einen kreisrunden, feuerrot gestrichenen Stahldeckel, massiv wie eine Safetür und mit einem Schloss versehen, zu dem es nur ein knappes Dutzend Schlüssel gab. Die Fluchtrutsche.

Sie blieb stehen, lehnte sich einen Moment gegen die Wand, um wieder zu Atem zu kommen, und griff dann in die Tasche. Ihre Finger zitterten so stark, dass sie Mühe hatte, den kleinen, kompliziert geformten Schlüssel zu finden.

»Wir müssen weiter, Captain«, sagte Stone keuchend. »Sie können jeden Moment hier auftauchen!«

Charity schüttelte den Kopf. Sie wollte antworten, aber ihr Mund war plötzlich voller bitter schmeckendem Speichel. Sie hatte das Gefühl, sich übergeben zu müssen, wenn sie auch nur versuchte, zu sprechen. Unsicher kramte sie den Schlüssel hervor, taumelte auf das Panzerschott zu und versuchte ihn ins Schlüsselloch zu stecken. Ihre Hände zitterten so stark, dass es ihr nicht gelang.

»Helfen Sie mir, Stone«, sagte sie mühsam. »Ich... schaffe es nicht.«

Stone rührte sich nicht von der Stelle. Seine Augen waren weit vor Angst und Unglauben. »Sie wollen doch nicht wirklich da rein?« fragte er.

»Haben Sie eine bessere Idee?« keuchte Charity. »Verdammt, Stone, es ist aus! Der ganze Laden hier geht in ein paar Minuten in die Luft.« Sie begriff, dass er ihr nicht helfen würde, drehte sich wieder um und versuchte erneut, den Schlüssel in den schmalen, plastikversiegelten Schlitz zu schieben. Diesmal gelang es ihr, aber sie musste beide Hände zu Hilfe nehmen; die linke, um ihre rechte zu halten, die einfach zu stark zitterte. Wie wollte sie nur ein Raumschiff fliegen?

»Das werden Sie nicht tun«, sagte Stone ruhig. Seine Stimme klang hysterisch.

Vorsichtig ließ sie den Schlüssel los, drehte sich ganz langsam herum...

...und blickte genau in den Lauf seines Lasergewehres.

»Sind Sie... wahnsinnig geworden?« fragte sie entsetzt.

Stone schüttelte den Kopf. Charity sah, wie sein Zeigefinger nervös über den Abzug der tödlichen Waffe strich.

»Sie werden nicht dort hineingehen«, sagte er noch einmal. »Ich brauche Sie hier.«

»Stone, bitte«, sagte Charity verzweifelt. Ihre Gedanken überschlugen sich. Stone meinte es ernst, das spürte sie ganz genau.

Aber er war zu weit entfernt, als dass sie eine reelle Chance gehabt hätte, ihn zu überwältigen. Nicht mit ihrem verletzten Bein. »Sie... Sie können mitkommen«, sagte sie. »Ich sorge dafür, dass Sie einen Platz auf der CONQUEROR bekommen. Ich brauche sowieso Hilfe im Cockpit, und ...«

»Gehen Sie von der Tür weg«, unterbrach sie Stone. »Schnell!«

Charity nahm die Hände ein wenig höher und trat gehorsam zwei Schritte zur Seite. Stones Lasergewehr folgte ihrer Bewegung.

»Was... was haben Sie vor?« fragte Charity stockend. Sie verlagerte ihr Körpergewicht ein wenig, versuchte, das verletzte Bein zu entlasten, um Kraft für einen Sprung zu sammeln. Es war Wahnsinn, aber sie hatte keine Wahl. Er würde schießen, das wusste sie.

»Das werden Sie schon noch früh genug merken«, antwortete Stone. »Sie werden mich hier herausbringen, Captain. Und ich Sie. Aber wir schaffen es nur zusammen.«

Charity deutete mit einer Kopfbewegung auf die Panzertür. »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass Sie mitkommen können, Stone. Ich hätte Sie sowieso mitgenommen. Das Schiff ist groß genug. Stecken Sie die Waffe weg. Ich verspreche Ihnen, dass ...«

Sie sprang. Völlig ansatzlos federte sie auf Stone zu, drehte sich dabei halb um ihre Achse und zielte mit dem linken, unverletzten Fuß auf sein Handgelenk.

Und Stone drückte ab.

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