6. Kapitel - Vergangenheit


29. November 1998

Der Abend, an dem die Invasion wirklich begann, unterschied sich kaum von denen davor: Die Welt befand sich seit drei Monaten in einer Art Schockzustand, und daran hatte sich nichts geändert, seit die Nachricht vom Verschwinden der Wissenschaftler und Soldaten aus der Nähe des Sternenschiffes an die Öffentlichkeit gedrungen war. Becker und seine Leute hatten alles versucht, aber natürlich ließ es sich nicht geheim halten. Und natürlich geschah genau das, was Tausende von berufsmäßigen Schwarzsehern prophezeit hatten: Die Welt stürzte ins Chaos. Aber dies war Charitys ganz persönliche Geschichte, und sie gehörte zu den wenigen - vielleicht Glücklichen -, die sehr wenig von all den entsetzlichen Begleiterscheinungen dieser noch gar nicht stattgefundenen Invasion mitbekamen, ganz einfach, weil sie viel zu tief in der Geschichte drinsteckte, viel zu sehr beschäftigt war, um Zeit zu einem großen Überblick zu finden.

Natürlich war sie informiert: An tausend Orten auf der Welt brach Panik aus, es entstanden Sekten, Kriege flammten auf oder erloschen jäh, die Selbstmordrate stieg um etliche tausend Prozent; und selbst wenn das Schiff in diesem Moment abhob und wieder im Weltraum verschwände, wäre der angerichtete Schaden mit einem direkten Angriff durchaus zu vergleichen.

Aber die Fremden würden nicht gehen. Irgendwie wusste Charity es. Sie hatte es gespürt, schon im aller ersten Moment, als sie dort oben im Inneren dieses riesigen leeren Schiffes stand und den titanischen Block sah, und Soerensen hatte es gespürt, und alle anderen hatten es in ihren Blicken gelesen. Was immer sie vorhatten, es hatte noch nicht einmal richtig begonnen.

Sie stand auf, schaltete den Fernseher ab, der wieder einmal eine Satellitenaufnahme des Schiffes zeigte - das Bild hatte sich in den letzten zwölf Wochen nicht verändert -, und trat auf den Balkon hinaus. Die Stadt lag still und fast dunkel unter ihr, und es war bereits empfindlich kalt, vor allem hier oben, fünfzehn Stockwerke über der Straße. New York schien ausgestorben zu sein. Nur wenige Autos krochen unter ihr über den Asphalt, die Leuchtreklamen und die Nachtbeleuchtungen der Bürohochhäuser waren abgeschaltet...

Die Notstandsgesetze galten noch immer, und erstaunlicherweise wurden sie auch eingehalten.

Charity fragte sich, wie lange das Leben in dieser Zehn-Millionen-Stadt noch so weiterlaufen konnte, ehe alles zusammenbrach. Wenn dieser Belagerungszustand, in den sie sich freiwillig begeben hatte, noch lange anhielt, brauchten die Außerirdischen gar nicht mehr zu kommen.

Sie seufzte, leerte ihren Martini - es war der dritte an diesem Abend, und somit der letzte, den sie sich selbst gestattete - und sah auf die Uhr. Es war nach zehn.

Mike war vor einer halben Stunde hinuntergegangen, um irgendwo ein paar Hamburger aufzutreiben, aber er war längst überfällig. Sie machte sich Sorgen um ihn. Die Stadt war nicht mehr sicher. Jeder dritte Wagen, der noch auf der Straße war, trug das fleckige Grün der Nationalgarde.

Sie spielte einen Moment lang ganz ernsthaft mit dem Gedanken, ihr Martiniglas am ausgestreckten Arm über die Balkonbrüstung zu halten und dann in die Tiefe fallen zu lassen, und tat es dann doch nicht. Ihr Blick wanderte nach oben, suchte den Sternenhimmel ab.

Es war kalt, aber wie viele kalte Novembernächte war auch diese ganz besonders klar. Über ihr flimmerten Tausende von Sternen.

Alles sah so friedlich aus. So verdammt friedlich, als herrsche dort oben nichts als die große Leere, als gäbe es dort nichts, was eines Tages hierher kommen und ...

Ja, und was? dachte sie. Bereiteten sie wirklich einen Angriff vor? Und wenn ja, warum? So viele Fragen, auf die sie vermutlich niemals eine Antwort finden würden.

Fröstelnd drehte sie sich um und ging in die Wohnung zurück.

Sie schloss die Balkontür nicht, obwohl die Novemberkälte dadurch weiter ins Zimmer strömte.

Immer öfter in letzter Zeit hatte sie das Gefühl, ersticken zu müssen, wenn sie in einem geschlossenen Raum war.

Sie ging zum Regal, nahm sich ein Buch und versuchte zu lesen, ohne auch nur einen Blick auf den Titel zu werfen. Nach einer Weile merkte sie, dass sie seit fünf Minuten die gleiche Seite anstarrte, und legte es wieder aus der Hand. Verdammt, auch sie war nur ein Mensch, und auch sie hatte ein Recht, Angst zu haben.

Vielleicht sogar ein bisschen mehr als der Rest der Menschheit, ganz einfach, weil sie ein bisschen mehr wusste als die allermeisten anderen. So zum Beispiel, dass keiner der Männer, die sie und die Russen in den vergangenen drei Monaten zum Nordpol geschickt hatten, zurückgekommen war. Oder zum Beispiel, dass ein paar von Beckers überschlauen Mitarbeitern in gerade diesem Moment dabei waren, eine Wasserstoffbombe mit einem primitiven Aufschlagzünder zusammenbastelten, die sie im allerschlimmsten Fall aus dem Orbit heraus auf die Sternenscheibe werfen wollten.

Charity bezweifelte, dass dieser Plan auch nur die geringste Aussicht auf Erfolg hatte. Was immer diese Außerirdischen waren, die da am Nordpol hockten und einen ganzen Planeten nur durch ihre bloße Anwesenheit in Lähmung versetzten - dumm waren sie gewiss nicht.

Sie warf das Buch achtlos in eine Ecke, stand wieder auf und begann ruhelos im Zimmer auf und ab zu gehen. Die Untätigkeit, zu der sie seit zwei Tagen verdammt war, machte sie rasend. Nach drei Monaten Dauerstress hatte sie sich nach ein paar Tagen Ruhe gesehnt, aber es zeigte sich, dass diese Ruhe keine Erholung, sondern der pure Nervenkrieg war. Sie kam sich vor wie jemand, der auf dem elektrischen Stuhl saß und darauf wartete, dass der Knopf gedrückt wurde. Seit zwölf Wochen. Außerdem hatte sie Hunger.

Wo blieb Mike mit diesen verdammten Hamburgern?

Sie musste sich noch geschlagene zehn Minuten gedulden, bis sie die Aufzugtür hörte und dann Mikes schnelle - beunruhigend schnelle, dachte sie - Schritte. Sie war bei der Tür, eine Sekunde, bevor er den Klingelknopf berührte. Und sie sah sofort, dass etwas passiert war. Er war blass. Sein Atem ging schnell, als wäre er die fünfzehn Stockwerke hinaufgerannt, statt mit dem Aufzug zu fahren.

»Was ist passiert?« fragte sie.

Mike antwortete nicht auf ihre Frage, sondern drängte sich an ihr vorbei und lief ins Wohnzimmer. Hastig schaltete er den Fernseher ein und gestikulierte ihr, zu ihm zu kommen.

»Verdammt, was ist los?« fragte Charity noch einmal.

»Etwas tut sich beim Sternenschiff«, fiel ihr Mike ins Wort. »Zum Teufel, wieso hast du das Ding nicht angelassen, wie ich es gesagt habe?«

Charity verzichtete auf eine Antwort, zumal in diesem Moment der Fernsehschirm aufleuchtete und das vertraute Bild des Sternenschiffes zeigte, übertragen von einem Satelliten, der in dreihundertfünfzig Meilen Höhe über dem Nordpol geparkt war.

Das hieß - es war nicht ganz das vertraute Bild. Es hatte sich verändert, aber es dauerte einen Moment, bis Charity auffiel, was es war. Dann erschrak sie.

Etwas kam aus dem Schiff heraus; genauer gesagt, fünfhundertundzwölf unbekannte Objekte, denn genau soviel Löcher waren in die Oberseite der riesigen Stahlscheibe gestanzt. Und in jedem dieser Löcher war jetzt eine silberne, kreisrunde Scheibe erschienen. Wenn die Löcher - wie Charity wusste - einen Durchmesser von fünf Metern hatten, mussten diese Flugobjekte etwa drei Meter messen. Ganz langsam stiegen sie höher, Millimeter für Millimeter, wie es durch die verkleinerte Abbildung aussah, in Wirklichkeit aber mit ganz erstaunlicher Geschwindigkeit. Charity konnte weder Düsenflammen noch irgendeine andere Art von Antrieb erkennen. Die Scheiben glitten einfach in die Höhe, als existiere so etwas wie Schwerkraft für sie nicht. So viel zum Thema primitive Technik, dachte sie düster.

»Großer Gott, ich glaube, es geht los«, murmelte Mike. »Was ist das?«

Aus dem Fernseher drang jetzt die Stimme eines Kommentators, der überflüssigerweise erklärte, was einige Milliarden Menschen live auf der Mattscheibe miterlebten.

Charity hörte gar nicht hin. Wie Mike trat sie näher an den Apparat heran und beugte sich vor, als könnte sie so mehr Einzelheiten erkennen.

Die kleine Flotte silberfarbener Flugscheiben stieg allmählich höher, wobei sie sich sowohl vom Schiff als auch voneinander entfernten, so dass sie eine riesige, allmählich expandierende Halbkugel über der Sternenscheibe bildeten.

»Es geht los«, sagte Mike noch einmal.

Er hatte recht. Es ging unheimlich schnell - und ohne jegliche Warnung: Von einer Sekunde auf die andere wurde aus dem gemächlichen Dahingleiten der kleinen Silbermünzen ein rasender Flug in die Höhe. Die geordnete Formation zerplatzte wie unter einer lautlosen Explosion, als die Scheiben in alle Himmelsrichtungen davonrasten, und dann - erlosch das Bild. Der Fernseher flimmerte nur noch.

Mike stöhnte. »Das war's«, flüsterte er. »Sie haben den Satelliten heruntergeholt.«

Ohne noch ein weiteres Wort zu verlieren, wandten sie sich um und zogen ihre Uniformen an. Nicht einmal zwei Minuten später verließen sie das Apartment.

Bei den Jungs im Pentagon musste eine gehörige Schraube locker sein, dachte Charity, diese Bilder live über die Mattscheiben zu schicken.

Draußen auf den Fluren war schon der Teufel los. Der Korridor war voller Menschen und Lärm. Jemand schrie hysterisch, aber noch war die Panik nicht wirklich losgebrochen. Die Leute hatten noch nicht ganz begriffen, was sie gerade gesehen hatten. Und Charity hatte keine besondere Lust, noch in diesem Haus zu sein, wenn sie es begriffen.

Sie berührte Mike am Arm und deutete auf den Treppenschacht.

»Komm. Ehe er auch verstopft ist.«

Sie liefen los, aber sie waren nicht die ersten, die auf diesen Gedanken kamen.

Ein dicker Mann, der einen gewaltigen Koffer mit sich schleppte und eine kaum weniger dicke Frau hinter sich herzerrte, blockierte die Treppe, und aus der Tiefe des Schachtes drangen jetzt die ersten Schreie herauf.

»Sie kommen!« keuchte der Dicke. »Gott im Himmel, steh uns bei, sie kommen. Sie werden uns alle umbringen.«

Da kannst du sogar recht haben, dachte Charity düster. Trotzdem zwang sie sich zu einem Lächeln, trat einen halben Schritt zurück und wartete, dass der Dicke mit seinem Koffer sich an ihr vorbeischob und die Treppe freigab.

Aber er dachte nicht daran. Statt dessen blieb er stehen und starrte sie und Mike an. »Sie... Sie sind Soldaten«, sagte er und wies auf ihre Uniformen. »Sie werden sie abschießen, nicht? Sie werden sie doch vertreiben, oder?« Er ließ seinen Koffer fallen und streckte die Hände nach Charity aus.

Mike packte Charity kurzerhand am Arm, drängte den Dicken mit Gewalt zur Seite und zerrte sie hinter sich her. Die Schreie aus dem Treppenschacht wurden lauter. Irgendwo krachte ein Schuss.

Er ließ sie erst los, als sie das Dach erreicht und die Feuertür hinter sich zugeworfen hatten. Charity trat wütend einen Schritt zurück und funkelte ihn an.

»War das nötig?« fragte sie scharf. »Verdammt, der arme Kerl hatte nur -«

»Nur ein bisschen Angst«, unterbrach sie Mike grob. »Nicht wahr? So wie zehn Millionen anderer in dieser Stadt.« Er deutete mit einer wütenden Geste in den Himmel hinauf. »Was hattest du vor? Ihn mitzunehmen? Der Hubschrauber ist leider nicht groß genug, um zehn Millionen Anhalter aufzunehmen.«

Charity starrte ihn an, aber sie bezweifelte, dass Mike ahnte, was in diesem Moment hinter ihrer Stirn vorging. Es ging schon los, dachte sie betäubt. Die Fernsehübertragung war noch nicht einmal fünf Minuten her, aber es ging schon los. Selbst Männer wie Mike begannen sich zu verändern.

Schaudernd wandte sie sich um, trat an die Dachbrüstung und blickte in die Tiefe.

Auf den Straßen waren mehr Autos aufgetaucht, aber noch immer wirkte die Szenerie relativ friedlich. Es würde nicht mehr lange so bleiben. In ein paar Minuten war dort unten die Hölle los.

Keiner von diesen Narren, die sich in ihre Autos geschwungen hatten und versuchten, die Stadt zu verlassen, würde auch nur bis zur Brücke kommen.

Sie sah nach oben - wo blieb der Hubschrauber? -, und plötzlich musste sie sich eingestehen, dass auch sie keinen Deut anders empfand. Auch sie wollte nicht als weg hier. Sicher, es war ihre Pflicht - der Plan war auf die Sekunde genau ausgearbeitet, für den Fall, der jetzt eingetreten war, aber das änderte nichts daran, dass sie eine unendliche Erleichterung bei dem Gedanken empfand, in wenigen Augenblicken in einen Helijet steigen und aus dem Hexenkessel entkommen zu können, in den sich die Stadt verwandeln würde.

Mikes Hand deutete schräg nach oben, und sie folgte der Bewegung. Der kleine Lichtpunkt, auf den Mike gedeutet hatte, wuchs heran und näherte sich rasend schnell. Ein hohes, an- und abschwellendes Heulen mischte sich ins Geräusch des Windes und die Schreie, die aus dem Haus herauf drangen. Der Helijet. Er kam pünktlich. Beckers militärischer Apparat schien mit der Präzision einer riesigen, sorgfältig gewarteten Maschine anzulaufen. Der Gedanke beruhigte Charity allerdings nicht besonders. Sie hatte das sehr sichere Gefühl, dass bald jemand eine große Menge Sand ins Getriebe von Beckers kleiner Vernichtungsmaschinerie werfen würde.

Sie traten vom Landeplatz zurück, als der Helijet heulend herunterkam. Seine Bewegungen waren nicht ganz präzise - er verzichtete darauf, das Haus einmal zu umkreisen, um sich davon zu überzeugen, dass der Landeplatz auch frei und ein Aufsetzen ungefährlich war, sondern stürzte beinahe vom Himmel. Eine Gestalt erschien in der offenstehenden Tür, und eine Hand winkte ungeduldig. Geduckt rannten Mike und sie auf den Copter zu und sprangen hinein.

Die Maschine hob ab, kaum dass sie eingestiegen waren.

Es begann zu regnen, während der Jetcopter dem abgesperrten Teil des La-Guardia-Flughafens entgegenstürzte; so schnell und so tief, dass Charity mehr als einmal Angst hatte, sie würden die Dächer der Hochhäuser streifen, über die sie hinwegheulten. Der HeliCopter musste eine Spur aus zertrümmerten Fensterscheiben und geplatzten Trommelfellen hinter sich herziehen.

Der Flug selbst dauerte nur wenige Minuten, aber sie kreisten fast eine Viertelstunde über dem Platz, ehe der Pilot endlich die Erlaubnis zur Landung bekam und aufsetzte, sehr hart und nur wenige Dutzend Schritte vom Abfertigungsgebäude entfernt, das zu einer provisorischen Kommandozentrale umgewandelt worden war.

Als sie den Copter verließen, begriff sie den Grund für die Wartezeit - das Flugfeld war voller Maschinen - HeliCopter, Jets, kleine rotorgetriebene Sportmaschinen und gewaltige Transporter, deren buckelige Leiber sich wie die Rücken riesiger stählerner Wale in die Nacht erhoben. Und es kamen ständig mehr. Offensichtlich hatte jeder Pilot in Reichweite des Flugplatzes den Befehl bekommen, seinen Kurs zu ändern und La Guardia anzufliegen. Ein paar Meilen entfernt zog sich eine schnurgerade doppelte Linie aus weißem Licht über das Flugfeld: der in aller Hast errichtete Stacheldrahtzaun, mit dem die Nationalgarde das Flugfeld in zwei ungleichmäßige Hälften geteilt hatte. Die kleinen Lichter von Autoscheinwerfern krochen durch die Nacht auf diese hellerleuchtete Linie zu, und gerade, als Charity und Mike hinter ihrem Führer das Abfertigungsgebäude betraten, erhob sich ein halbes Dutzend kleiner Hubschrauber vom Flugfeld und glitt im Tiefflug auf den Zaun zu.

Männer, klein wie Spielzeugsoldaten, nahmen längs des Zaunes Aufstellung. Voller Verbitterung begriff Charity, dass der Kommandant der Truppe ganz offensichtlich mit Angriffen rechnete - Angriffen der Zivilbevölkerung, nicht der Fremden. Großer Gott, was geschah mit ihnen? Sie vernichteten sich gegenseitig, noch bevor die Fremden überhaupt angegriffen hatten!

Das Abfertigungsgebäude war völlig überfüllt. Die riesige Eingangshalle schien vor grünen und blauen Uniformen überzuquellen. Hunderte von Stimmen schrien Hunderte von Befehlen, und ein ganzes Dutzend Lautsprecher versuchte sich gegenseitig zu übertönen. Von der riesigen Multivisionswand unter der Decke herab verkündete ein Nachrichtensprecher mit ernstem Gesicht schlechte Neuigkeiten, die im chaotischen Lärm der Stimme untergingen.

Irgendwie brachte ihr Führer das Kunststück fertig, sie und Mike einigermaßen unbeschadet durch dieses Chaos zu schleusen. Sie erreichten einen Aufzug, vor dessen geschlossenen Türen zwei Männer der Nationalgarde Wache hielten, mit grimmigen Gesichtern und mit drohend vor die Brust gehaltenen Maschinenpistolen.

Die Männer traten beiseite, als ihr Führer einen Ausweis zückte und gebieterisch in die Höhe hielt. Einen Augenblick später glitten die Lifttüren wie von Geisterhand bewegt auseinander, und sie betraten die Kabine, die sie rasch und ohne anzuhalten in die Höhe transportierte.

Ihr Ziel war die Glaskuppel des Towers. Auch hier oben herrschte mehr Gedränge als gewohnt, aber es war zumindest nicht so überfüllt, dass man keinen Schritt tun konnte, ohne irgend jemandem auf die Zehen zu steigen oder den Ellenbogen in die Nieren zu rammen. An den grünleuchtenden Radarschirmen und Computerpulten saßen jetzt Soldaten, und der Mann, der mit hinter dem Rücken verschränkten Händen vor der Panoramascheibe stand und auf die Rollbahn hinunterblickte, trug die Uniform eines Brigadegenerals.

Aber davon abgesehen, dachte Charity, war der Anblick geradezu absurd normal. Sie spürte nicht einmal etwas von dem Schrecken, der unten in der Halle allgegenwärtig gewesen war.

Alle Gespräche, die sie hörte, wurden sehr leise geführt.

Der Mann vor dem Fenster drehte sich herum, als sie ihm bis auf drei Schritte nahe gekommen waren. Charity kannte sein Gesicht nicht, aber sein Blick sagte ihr, dass er sie kannte - natürlich.

Sie wollte salutieren, der General jedoch winkte ab. »Lassen Sie diesen Unsinn, Captain Laird«, sagte er. »Ich bin General Hardwell. Willkommen bei uns.«

Seine Stimme klang kalt, und nicht besonders sympathisch, aber er lächelte. Irgendwo draußen über dem Flughafen begann eine Sirene zu schrillen, dann gesellte sich eine zweite dazu, eine dritte.

Charity sah ganz automatisch nach Westen, zur Stadt. Die Lichter New Yorks erhellten noch immer die Nacht. Der Anblick unterschied sich nicht im mindesten von dem, den die Skyline dieser Stadt seit einem halben Jahrhundert bot. Mit ein bisschen Phantasie, dachte sie, konnte man sich einbilden, dass gar nichts passiert wäre.

»Irgendwelche Neuigkeiten?« fragte Mike neben ihr.

Der General schüttelte andeutungsweise den Kopf. »Nein. Wir wissen hier nicht mehr als Sie. Sie haben die Übertragung gesehen?«

»Ja«, sagte Charity finster. »Welcher Idiot ist auf die Idee gekommen, die Bilder live auszustrahlen. Verdammt, eine Zeitverzögerung von zehn Sekunden hätte gereicht, um diese Panik zu -«

Sie sprach nicht weiter, als sie begriff, dass der Mann, dem sie diese Vorhaltungen machte, ungefähr so viel dafür konnte wie sie selbst. Sie lächelte verzeihungsheischend.

»Tut mir leid.«

Hardwell winkte ab. »Schon gut. Wir sind alle ein bisschen nervös, nicht wahr?«

Er lächelte ebenfalls, starrte einen Moment lang an ihr vorbei ins Leere und wurde übergangslos sehr ernst.

»Sie waren doch auf diesem Schiff«, sagte er. »Glauben Sie, dass es ... Bomben sind?«

Bomben? Charity starrte ihn an. Es dauerte fast zehn Sekunden, bis sie überhaupt begriff, was er meinte.

Es war wie ein zweiter, nachträglicher Schock. Bei allem, was sie in den vergangenen zwanzig Minuten gedacht und gefühlt haben mochte - der Gedanke, dass es sich bei den Objekten, die das Sternenschiff ausgespien hatte, um Bomben handeln konnte, war ihr nicht einmal gekommen. Dabei war es so naheliegend!

Hastig schüttelte sie den Kopf.

»Kaum«, sagte sie. »Es ergäbe ziemlich wenig Sinn, finden Sie nicht?« Aber was, dachte sie, was um alles in der Welt, was dieses verdammte Schiff und seine Absender in den letzten Monaten getan hatten, ergab überhaupt einen Sinn?

Trotzdem fügte sie hinzu: »Ich kann es mir nicht vorstellen. Wenn sie uns bombardieren wollten, hätten sie es verdammt viel einfacher anstellen können, nicht wahr?«

Die Erklärung klang selbst in ihren eigenen Ohren ziemlich dünn, aber Hardwell gab sich offensichtlich damit zufrieden - zum einen, dachte sie, weil es ganz genau das war, was er hören wollte, und zum anderen, weil sie es war, die es gesagt hatte. Ihre Worte hatten Gewicht, weil sie zu den wenigen Menschen gehörte, die jemals an Bord dieses Schiffes gewesen waren.

»Haben Sie den Flughafen deshalb in eine Festung verwandelt?« fragte Mike.

Hardwell wich seinem Blick aus. »Wir bereiten alles für eine Evakuierung vor«, sagte er nach einer Weile, ohne direkt auf Mikes Frage zu antworten. »Obwohl ich nicht weiß, wie lange wir sie aufhalten können.«

»Sie?«

Hardwell deutete mit einer zornigen Kopfbewegung auf die Lichtglocke New Yorks. »Die zehn Millionen Männer und Frauen dort drüben, die aus der Stadt heraus wollen«, antwortete er. »Verdammt, sind Sie so naiv, oder tun Sie nur so, Lieutenant?«

Mike tat das einzig Vernünftige - er ignorierte Hardwells gereizten Ton und kam ohne weitere Umschweife auf den eigentlichen Grund ihres Kommens zu sprechen.

»Die Maschine ist startklar?«

Hardwell nickte und schüttelte gleich darauf den Kopf. »Die Maschine schon«, sagte er. »Aber die Mannschaft noch nicht. Ich habe Befehl, Sie hier zubehalten, bis Ihre Crew komplett ist. Sie werden in drei Eagles zur Jefferson-Air-Base geflogen.«

»Wer fehlt noch?« fragte Mike.

»Alle«, antwortete Hardwell gereizt. »Sie und Captain Laird waren die ersten. Lieutenant Niles wird in ein paar Augenblicken mit einem Copter eintreffen. Er ist schon auf dem Weg hierher. Die anderen ... Es kann eine Stunde dauern.«

Jemand berührte ihn an der Schulter und hielt ihm einen kleinen Zettel hin.

Hardwell warf einen flüchtigen Blick darauf, runzelte die Stirn und steckte ihn in die Rocktasche. Er gab sich Mühe, sich nichts von seinen wahren Gefühlen anmerken zu lassen, aber er sah eindeutig betroffen aus.

»Schlechte Neuigkeiten?« fragte Charity.

Hardwell zögerte. Dann nickte er. »Ja. Aber keine, die Sie betreffen. Ich ...« Er wurde wieder unterbrochen, von einem anderen Adjutanten, der sich aber diesmal nicht an ihn, sondern an Charity wandte.

»Captain Laird?«

Charity nickte.

»Ein dringender Anruf für Sie. Drüben, im Büro des Operators.«

Der Mann deutete auf eine schmale, offenstehende Tür am gegenüberliegenden Ende des Raumes. Das Zimmer dahinter lag im blauen Halbdunkel eines eingeschalteten Videoschirmes.

Mike und sie folgten dem jungen Soldaten, während Hardwell diskret zurückblieb und sie so wenigstens der Peinlichkeit enthob, ihm die Tür vor der Nase zuwerfen zu müssen. Der Raum war sehr klein; sein Inneres bestand praktisch nur aus einer gewaltigen, rundum laufenden Computerkonsole, auf der gleich Dutzende von Monitoren prangten. Im Moment war allerdings nur ein einziger davon eingeschaltet. Ein junger Mann saß davor, der sich hastig erhob und den Raum verließ, als er Charity erkannte. Sie wartete, bis Mike die Tür hinter ihm geschlossen hatte, ließ sich in den noch warmen Sitz fallen und tippte ihren Erkennungscode in das winzige Zahlenfeld unter dem Bildschirm. Der Schriftzug: TOP SECRET - AUTHORIZED PERSONS ONLY verschwand und machte dem Gesicht Commander Beckers Platz, dreidimensional und in Farbe und so besorgt, wie sie ihn noch nie zuvor gesehen hatte...

»Commander?«

»Captain Laird - Gott sei Dank, Sie sind schon da. Dieser Idiot, mit dem ich gerade gesprochen habe, konnte mir nicht einmal sagen, ob ...« Er brach abrupt ab, machte eine ärgerliche Geste und atmete tief ein. »Wo sind die anderen?«

»Mike... Lieutenant Wollthorpe«, verbesserte sie sich hastig, »ist bei mir. Lieutenant Niles wird in wenigen Minuten eintreffen. Die anderen... Hardwell sagt, es kann eine Stunde dauern.«

»Verdammt.« Becker zog eine Grimasse. »Kriegen Sie die Kiste zu dritt hoch?«

»Die ENTERPRISE?« Charity schüttelte entschieden den Kopf. »Unmöglich«, sagte sie, in einem Ton, von dem Becker hoffentlich begriff, dass er endgültig war. »Wir können sie vielleicht zu dritt starten, aber ganz bestimmt nicht landen. Nicht in ihrem Rattenloch.«

»Eine Stunde.« Becker ignorierte das Wort, mit dem Charity die Bunkeranlage bezeichnet hatte. »Und noch mindestens zwei, bis sie in Jefferson sind. Verdammt, so viel Zeit haben wir nicht mehr!«

»Wir brauchen sie aber«, antwortete Charity ruhig. »Die ENTERPRISE ist ein Space-Shuttle, Commander, keine Cessna. Es war riskant genug, die beiden anderen Schiffe zu ihnen zu bringen. Wenn ich mit einer halben Mannschaft versuche, das Schiff in ihren Hangar zu steuern, werde ich ihnen ein hübsches Loch in ihren Berg sprengen - möchten Sie das?«

Becker musterte sie finster und schwieg.

»Was ist passiert?« fragte Mike, der sich neugierig über ihre Schulter gebeugt hatte. »Diese Flugscheiben ...«

»Bomben«, sagte Becker. »Es sind verdammte Wasserstoffbomben, Lieutenant.«

Charitys Herz setzte für eine Sekunde aus.

»Was... haben Sie... gesagt?« stammelte sie.

Becker starrte auf einen Punkt irgendwo neben der Kamera. Sein Gesicht war wie Stein, aber in seinen Augen loderte etwas, das Charitys Furcht noch vertiefte.

»Zwei unserer Eagles haben versucht, eines dieser Dinger abzuschießen«, sagte er. »Sie haben es geschafft, Captain. Das Ergebnis war eine Atomexplosion, Gott sei Dank weit draußen über dem Meer. Wir wissen noch nichts Genaues, aber unsere Jungs hier schätzen sie auf mindestens fünfzig Megatonnen.«

Sein Blick kehrte wieder zur Kamera zurück. Das Funkeln darin war nicht erloschen. »Verstehen Sie jetzt, warum wir keine Zeit mehr haben?«

»Bomben?« murmelte Charity. »Aber es sind... über fünfhundert!«

»Fünfhundertzwölf«, sagte Becker. »Oder fünfhundertelf, um genau zu sein.«

»Aber das ergibt doch keinen Sinn!« flüsterte Mike. Sein Gesicht war grau. Seine Stimme schwankte und hörte sich an wie die eines alten, uralten Mannes. »Warum sollten sie ...«

»Das weiß ich nicht«, unterbrach ihn Becker. »Verdammt noch mal, niemand weiß, warum sie irgend etwas tun. Tatsache ist, dass diese Dinger im Augenblick dabei sind, sich über die gesamte Erde zu verteilen, und zwar in einer Höhe, in der unsere Jets nicht mehr an sie herankommen.«

»Und die Abwehrraketen?« Mike kreischte jetzt wirklich. »Die SDI-Satelliten und Laserka ...«

»Was schlagen Sie vor, Lieutenant?« unterbrach ihn Becker. »Dass wir sie einzeln abschießen?«

Mike antwortete nicht mehr, und auch Charity schwieg für endlose, lange Sekunden, in denen sie Beckers Videobild anstarrte, ohne ihn wirklich zu sehen.

Ein Gefühl entsetzlicher Hilflosigkeit machte sich in ihr breit.

Plötzlich begriff sie, dass sie machtlos waren, dass ihnen ihr ganzer, ungeheuerlicher Militärapparat rein gar nichts mehr nutzte, nicht gegen diese Bedrohung. Selbst wenn sie es geschafft hätten - selbst wenn Becker und seine Männer ein Wunder vollbrachten und sie es irgendwie schafften, diese bösartigen Sternentaler zu eliminieren, bevor sie sich auf die fünfhundert größten Städte der Erde stürzten - Charitys Phantasie weigerte sich einfach, sich vorzustellen, was geschah, wenn fünfhundert Wasserstoffbomben gleichzeitig in der Atmosphäre dieses Planeten explodierten.

»Was... tun sie im Moment?« fragte sie. Sie war fast erstaunt, ihre eigene Stimme zu hören.

Becker blickte auf irgend etwas außerhalb des Aufnahmewinkels der Kamera, ehe er antwortete. »Sie steigen«, sagte er. »Anscheinend bilden sie eine Art Schild über der ganzen Erde. Wie es aussieht, in fünfzig bis siebzig Meilen Höhe. Wenn sie ihre Geschwindigkeit beibehalten, haben wir noch anderthalb Stunden. Und danach bekommen wir vermutlich die große Rechnung präsentiert.«

Es war völlig verrückt - aber für Sekunden wünschte sich Charity nichts mehr, als dass Becker recht hatte, dass in anderthalb Stunden irgendeine schreckliche Insektenfratze auf allen Bildschirmen der Welt erscheinen und die Erde für besetzt erklären würde oder irgendwelche Forderungen stellte, ganz egal, wie absurd sie waren, denn die Alternative war einfach zu schrecklich, um den Gedanken auch nur zu denken.

»Hören Sie, Laird«, sagte Becker plötzlich. »Wir haben noch fünfundneunzig Minuten, vielleicht mehr. Sie warten, bis Ihre Mannschaft komplett ist, und dann kommen Sie hierher.«

»Und das Schiff?«

»Vergessen Sie die ENTERPRISE«, sagte Becker. »Wir haben zwei Schiffe hier in der Basis, aber sie nutzen uns verdammt wenig, wenn niemand da ist, der sie fliegen kann.«

Er schaltete ab, ehe Charity eine weitere Frage stellen konnte.

Aber es dauerte noch sehr lange, bis sie sich aus dem Sessel erhob und wieder in den Tower hinausging.

Sie war - unabhängig von allen Verschlüsselungen und Codes - sehr sicher, dass Hardwell nicht mitgehört hatte, aber vermutlich waren Mike und sie nicht halb so gute Schauspieler, wie sie bis zu diesem Moment geglaubt hatten, denn der General sah sie nur stumm an, und als er sich umwandte und wieder auf seinen einsamen Beobachtungsposten vor der Panoramascheibe zurückkehrte, da hatte sie das Gefühl, einen gebrochenen Mann vor Augen zu haben.

Sie selbst fühlte nichts. In ihr war nur Leere. Sie hatte sich oft gefragt, was sie wohl empfinden würde, wenn das Ende der Welt irgendwann einmal gekommen war; entweder das wirkliche Ende der Welt, so wie jetzt, oder das Ende ihres privaten kleinen Kosmos, der Tod, der im Endeffekt für sie das gleiche bedeutete.

Ein absurder Gedanke nistete sich hinter ihrer Stirn ein, und er ließ sich auch nicht vertreiben, so sehr sie es versuchte: Wenigstens würde es schnell gehen.

Wenn die Aliens ihre Bomben wirklich warfen, war New York zweifellos eines der Ziele - und sie waren der City nahe genug, um bei einer Explosion dieser Stärke kaum mehr mitzubekommen als einen raschen, sehr hellen Blitz, und vielleicht nicht einmal das.

Plötzlich kam ihr ihrer aller Situation geradezu aberwitzig vor.

Rings um sie herum lief das Leben - fast - normal weiter. Der Tower war erfüllt vom Piepen und Summen der Computer und den gedämpften Stimmen der Männer, die sie bedienten, draußen auf dem Flugfeld starteten und landeten ununterbrochen Maschinen, sie sah einen jungen Mann an sich vorbeihasten und im Vorübergehen lächeln und erwiderte es ganz automatisch. Sie stand dicht neben Mike, aber sie hatte nicht einmal das Bedürfnis, seine Hand zu ergreifen oder ihn zu küssen - keine großen Gesten. Nichts. Sie warteten, das war alles.

Hardwell deutete auf einen kleinen Lichtpunkt, der sich dem Flughafen von Osten her näherte. »Die Maschine mit Ihrem Kollegen«, sagte er.

Charity nickte, aber sie konnte nicht antworten. Für Momente war sie von einer bleiernen Schwere befallen. Das Gefühl fiel erst von ihr ab, als sich zehn Minuten später die Aufzugtür hinter ihnen öffnete und Niles in den Kommandoraum stürmte. Anders als Mike und sie trug er keine Uniform, sondern ein großkariertes blaues Holzfällerhemd und dazu vollkommen unpassende Bermuda-Shorts.

Er sah reichlich albern aus, aber niemand lachte.

Niles begrüßte sie knapp und wandte sich mit einem fragenden Blick an Mike.

»Was ist passiert?«

»Erklär es ihm«, sagte Charity leise. »Aber nicht hier.« Sie deutete auf den Operator-Raum und sah zu, wie Mike mit Niles in dem winzigen Verschlag verschwand und die Tür hinter sich zuzog.

Sehr schmerzlich wurde ihr bewusst, dass sie nicht die einzige war, die den beiden nachblickte, und dass wahrlich nicht viel Phantasie dazu gehörte, zu erraten, was die beiden Space-Force-Männer so Geheimnisvolles zu besprechen hatten.

Wie lange würden sie es noch geheim halten können, und vor allem - wie lange würde sie es wollen? Verdammt, all diese Männer hier hatten ein Recht, zu erfahren, dass sie nur noch neunzig Minuten zu leben hatten.

Die Zeit verstrich träge. Mike und Niles blieben fast zehn Minuten fort, und Charity konnte regelrecht spüren, wie die Nervosität im Tower stieg. Eine unangenehme Anspannung begann sich in dem großen, rundum verglasten Raum breit zumachen, die sie wie die Berührung eines elektrischen Feldes auf der Haut fühlte.

Niles Gesicht war starr, als er zurückkam, aber er schien dasselbe zu empfinden wie sie - auch in seinem Blick war keine wirkliche Angst, sondern nur eine sonderbare Mischung aus Betroffenheit und Leere. Sie erinnerte sich, dass er als einziger von ihnen verheiratet war und ein Kind hatte. Seine Familie lebte in New York.

Sie sah auf die Uhr. Zwanzig der neunzig Minuten, von denen Becker gesprochen hatte, waren vorbei. Und sie sehnte sich fast danach, dass auch der Rest verstrich. Schlimmer als alles, was passieren konnte, war das Warten.

»Wie viel Zeit haben wir noch?« fragte eine Stimme hinter ihr.

Charity sah auf und erkannte Hardwells Gesicht als verzerrte Spiegelung in der Scheibe vor sich. Sie lächelte müde.

»Ich bin kein besonders guter Schauspieler, wie?« sagte sie. Erst danach drehte sie sich um und sah Hardwell direkt an, statt mit seinem Spiegelbild zu sprechen.

»Wer ist das schon, in einer Situation wie dieser?« erwiderte Hardwell. »Wie lange?«

Charity zögerte. »Siebzig Minuten«, sagte sie dann. Verdammt, warum nicht? Er wusste es ohnehin. Jeder hier wusste es.

»Mindestens«, fügte sie hinzu.

»Siebzig Minuten«, wiederholte Hardwell. Er versuchte zu lächeln, aber es gelang ihm nicht. Schließlich deutete er mit der Hand nach unten, auf das Flugfeld.

»Zeit genug. Wenn... wenn Sie wollen, lasse ich Sie rausfliegen, Captain«, sagte er stockend.

Charity schwieg sehr lange. Hardwells Reaktion verwirrte sie. Er tat ihr sehr leid. »Das werden wir sowieso, General«, sagte sie schließlich. »Unsere Befehle lauten, von hier zu verschwinden, sobald die Crew komplett ist. Ich weiß allerdings nicht«, fügte sie hinzu, »ob es noch irgend etwas gibt, wohin es sich zu fliegen lohnt.« Ein paar bleiche Gesichter in ihrer Nähe blickten auf, und Charity begriff plötzlich, dass sie laut genug gesprochen hatte, um die Männer jedes Wort verstehen zu lassen. Aber die Reaktion, auf die sie wartete, kam nicht. Die Männer starrten sie nur an.

Plötzlich hatte sie einen geradezu irrwitzigen Einfall. »Wir haben noch Platz, General. Auf einen Passagier mehr oder weniger kommt es nicht an.« Mike fuhr sichtlich erschrocken zusammen, und auch Niles blickte sie an, als zweifele er an ihrem Verstand. Hardwell lächelte nur.

Er schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er. »Ich bleibe hier. Sie haben recht, Captain - wenn es ... wirklich passiert, dann gibt es nichts mehr, wohin es sich zu fliehen lohnt. Außerdem glaube ich nicht ...«

Charity erfuhr nie, was General Hardwell nicht glaubte. Ebenso wenig, wie irgend jemand je erfuhr, wieso sich Beckers Computer so drastisch verrechnet hatten.

Aber sie hatten es. Die siebzig Minuten, die sie angeblich noch hatten, schrumpften jäh zu einer halben Sekunde zusammen, der Zeit, die die fünfhundertelf galaktischen Bomben reglos verharrten, nachdem sie ihre Position fünfundsiebzig Meilen über der Erdoberfläche eingenommen hatten. Sie bildeten jetzt ein regelmäßiges Muster, mit einer einzigen Ausnahme mathematisch perfekt über den gesamten Globus verteilt.

Aber dieses geometrische Netz aus fünfhundertundelf drei Meter durchmessenden, fliegenden Bomben existierte in dieser Form nur eine halbe Sekunde lang.

Dann explodierte es.

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