7. Kapitel - Gegenwart

12. Dezember 1998

Zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit war es wie ein Schritt in eine andere Welt, als sich die Lifttüren vor ihr und Stone öffneten.

Nur dass es diesmal eine Welt war, die ihr nicht behagte und ihr niemals behagt hatte; die summende, leise hektische Welt einer militärischen Kampfstation, die sich in höchster Alarmbereitschaft befand. Und das, obwohl es ja eigentlich ihre Welt war. Aber es gab einen Unterschied - sie hatte niemals zu den Knopfdrückern und Computer-Strategen gehört, und sie hatte auch niemals einen besonderen Hehl daraus gemacht, dass sie sie im Grunde verachtete, obgleich sie natürlich wusste, dass sie nötig waren.

Charity war zu einer Zeit in die Space Force eingetreten, in der die Möglichkeit eines Krieges längst in die Größenordnung hypothetischer Hochrechnungen geraten war; mit einer Wahrscheinlichkeit sehr weit rechts hinter dem Komma.

Und sie hatte es auch nicht getan, weil sie Spaß an Kriegsspielen hatte, sondern weil eine militärische Laufbahn ihr so etwas wie einen Hauch von Abenteuer versprochen hatte, auch wenn dieses Abenteuer zu neunundneunzig Prozent aus Drill und Disziplin und nicht zuletzt Langeweile bestand. Trotzdem entschädigte sie der kleine verbliebene Rest für vieles andere. Charity war - ihrer eigenen Meinung nach - um mehrere hundert Jahre zu spät geboren worden.

Sie ertrug es nicht, in einer Welt zu leben, in der das aufregenste Erlebnis eine Fahrt mit achtzig Meilen in der Stunde über den Highway war, und sie hatte sich niemals für Senso-Spiele oder andere elektronische Ersatzbefriedigungen begeistern können.

Deshalb trug sie seit elf Jahren die schwarzgrüne Uniform der US-Space Force, und wahrscheinlich lebte sie auch deshalb noch.

Ohne ihre Spezialausbildung hätte sie den Weg hierher niemals geschafft. Wahrscheinlich wäre sie nicht einmal aus New York herausgekommen.

Charity wartete, bis Stone in den Lift getreten war und die Türen sich geschlossen hatten, dann trat sie mit einem Schritt über die erste der beiden feuerroten Linien, die einen weitgeschwungenen, doppelten Halbkreis vor dem Aufzug bildeten, schloss für einen Moment die Augen und betete, dass die Class-A-Codierung in ihrer Hundemarke den Weg von New York hierher ebenso unbeschadet überstanden hatte wie sie. Aber allein die Tatsache, dass sie diesen Gedanken überhaupt denken konnte, bewies schon, dass es so war - wäre sie mit einer beschädigten oder falsch klassifizierten ID-Marke über die erste dieser beiden harmlosen Linien getreten, hätte sie jetzt schon herausgefunden, wie sich ein Hähnchen in einem Mikrowellenherd fühlte.

Trotzdem wartete sie die vorgeschriebenen zehn Sekunden, bis das rote Licht vor ihr auf Grün wechselte, ehe sie es wieder wagte, zu atmen und schließlich weiterzugehen. Die beiden Wachsoldaten, die mit lässig geschulterten Maschinenpistolen jenseits der zweiten roten Linie standen, nickten ihr freundlich zu.

Einer stieß einen leisen Pfiff aus, als Charity an ihm vorüberging, und grinste.

Charity erwiderte sein Lächeln, öffnete die durchsichtige Kunststofftür am anderen Ende des Raumes und trat ins Allerheiligste der Station.

Es war das sechste Mal, dass sie hier war, und das sechste Mal, dass der Anblick sie tief genug beeindruckte, um sie einen Moment verharren zu lassen.

Die Tür führte auf eine schmale, um den ganzen gewaltigen Raum herumlaufende Empore hinaus. Unter ihr lag ein riesiger Saal, kreisrund und in der Mitte leicht ansteigend, so dass der Sessel des Kommandanten samt seiner halbrunden Computerkonsole den Raum um Mannshöhe überragte. Zahllose Computertische, auf denen Hunderte von kleinen und großen Monitoraugen flimmerten, bildeten ein scheinbares Durcheinander, in dem nur das Auge eines Kundigen eine komplizierte, sehr klug durchdachte Ordnung ausmachen konnte. Fast die gesamte gegenüberliegende Wand wurde von einem gigantischen Bildschirm eingenommen, der im Moment die farbige Holografie einer überdimensionalen Weltkarte zeigte. Zwischen all diesen Computern und Schalttafeln und Monitoren wirkte das halbe Hundert blauuniformierter Stabssoldaten beinahe verloren.

Die ganze Anlage war im Grunde nichts anderes als ein übergroßer Computer, und die Menschen dort unten - vielleicht mit Ausnahme Beckers und einer Handvoll Offiziere - bloße Handlanger, die taten, was die Computer von ihnen verlangten. Sie hätte ebenso gut in Houston oder auf der Wall Street stehen können.

Der einzige - allerdings entscheidende - Unterschied, der zu gleichartigen Computern auf der Welt bestand, war vielleicht der, dass dieser hier noch funktionierte.

Diese Halle, eine halbe Meile unter dem Granit der Rocky Mountains und so geheim, dass selbst die meisten von denen, die hier arbeiteten, nicht genau wussten, wo sie wirklich lag, war so etwas wie das Herz der Welt. Eines von zwei Herzen wahrscheinlich.

Eine ähnliche Anlage musste es auch in der UdSSR geben.

Aber das änderte nichts daran, dass die Fäden der Macht hier zusammenliefen.

Von diesen harmlosen Computerpulten fünf Meter unter ihr aus konnten sämtliche Waffensysteme der Army befehligt, gestartet und gelenkt werden. Das Gehirn des dritten Weltkrieges, gebaut, um niemals benutzt zu werden.

Sie entdeckte Becker an einem der Pulte unter sich; eine schmale, grauhaarige Gestalt, die sich nach vorne gebeugt hatte und erregt mit einem jungen Offizier diskutierte. Charity löste sich von ihrem Platz, stieg in den Saal hinab und steuerte im Slalom auf den General zu.

Das Raunen zahlloser Stimmen und das elektronische Wispern einer ganzen Computerarmee hüllten sie ein, und der riesige Videoschirm überschüttete die Szene mit düsterem, rotem Licht. Fast gegen ihren Willen sah Charity auf. Die Karte, die der Schirm zeigte, war ein genaues Gegenstück der, die sie vor einer Woche in New York gesehen hatte, und wie auf dieser zeigten auch hier die rotleuchtenden Flecken die Gebiete an, die besetzt und aufgegeben waren. Sie erschrak, als sie sah, wie sehr sie sich ausgebreitet hatten.

Sie schüttelte den Gedanken ab, ging weiter und erreichte Becker genau in dem Moment, in dem er sich von dem jungen Offizier abwandte. Sie blieb stehen, salutierte lässig und registrierte amüsiert, wie sich Beckers Brauen irritiert zusammenzogen, als er ihre Aufmachung bemerkte. Aber zu ihrer Überraschung verbiß er sich jede Bemerkung über die unvorschriftsmäßige Uniform, sondern machte eine Bewegung, die man mit viel gutem Willen als Erwiderung ihres Grußes auffassen konnte, und gebot ihr dann mit einer Geste, mit ihm zu kommen.

Er schwieg auch weiter, während sie den Saal durchquerten und auf der anderen Seite wieder auf die Empore hinaufstiegen. Durch eine schmale Plexiglastür führte er sie in ein winziges Büro, in dem es nichts weiter als einen vollkommen leeren Schreibtisch und zwei unbequeme Stühle gab. Wie die Tür war die gesamte Wand, in die sie eingelassen war, von dieser Seite aus durchsichtig, so dass man einen ungehinderten Blick auf den Kommandoraum hatte.

Becker deutete mit einer knappen Geste auf einen der Stühle, nahm selbst Platz und sah sie fragend an. »Ich habe nicht mehr mit Ihnen gerechnet, Captain Laird«, sagte er.

Charity sah demonstrativ auf die Armbanduhr. »Ich dachte, ich wäre pünktlich«, sagte sie. »Ein paar Minuten ...«

Becker machte eine ärgerliche Handbewegung. »Ich habe nicht gesagt, dass Sie zu spät sind, Captain«, sagte er. »Ich bin überrascht, dass Sie es überhaupt geschafft haben. Sie sind der ...« Er lächelte gezwungen und verbesserte sich: »...die erste, die seit vier Tagen zu uns durchkommt. Die Burschen schießen sich allmählich auf uns ein.«

»Das habe ich gemerkt«, antwortete Charity. »Ohne Lieutenant Stone und seine beiden Kameraden ...«

Becker unterbrach sie abermals mit einer befehlenden Geste, aber Charitys Ärger darüber hielt sich in Grenzen. Man musste kein besonders guter Menschenkenner sein, um zu erkennen, dass Becker physisch und psychisch am Ende war.

»Ich habe Ihre Ankunft über Monitor verfolgt«, sagte er. »Aber ich habe Sie nicht hergebeten, um mit Ihnen über Ihre wundersame Rettung zu sprechen, Captain. Sie kommen aus New York?«

Es war keine Frage, aber Charity nickte trotzdem.

»Auf direktem Weg?«

»So direkt, wie es ging«, antwortete Charity. »Die PAN-AM-Flüge waren alle ausgebucht, wissen Sie, und -«

»Verdammt, hören Sie mit dem Blödsinn auf, Captain!« fauchte Becker. »Ich kann mir vorstellen, dass es nicht leicht war, hierher zu kommen. Aber genau deshalb reden wir ja miteinander. Sie waren draußen. Mit Ausnahme der Flüchtlinge aus Brainsville sind Sie der erste Mensch, der seit fast zwei Wochen hierher kommt. Und Sie haben fast das halbe Land durchquert. Wie sieht es aus?«

»Dort draußen?« Charity deutete mit einer Kopfbewegung auf die überdimensionale Weltkarte, die in blutigem Rot von der gegenüberliegenden Wand heruntergrinste.

»Es ist die Hölle«, sagte sie nach einer Weile. »Sie sind überall, General. Und sie vernichten einfach alles, was sich ihnen in den Weg stellt. Und alles, was vor ihnen flieht, ebenso.«

Becker blickte sie betroffen an und schwieg.

»Ich ... ich weiß selbst nicht mehr genau, wie ich es geschafft habe«, fuhr Charity fort. »Ein paarmal war es reines Glück, ein paarmal ...« Sie dachte an Mike, und plötzlich steckte in ihrem Hals ein bitterer, harter Kloß, der sie für Sekunden am Weitersprechen hinderte.

»Es war wohl nur Glück«, sagte sie schließlich.

Becker war taktvoll genug, für die nächsten zehn Sekunden zu schweigen. Er musste spüren, dass es sie eine Menge mehr gekostet hatte als nur Glück, sich bis hierher durchzuschlagen.

»Wie sieht es draußen aus, Captain Laird?« wiederholte er beinahe sanft. »Ich verstehe, dass es Ihnen schwer fallen muss, darüber zu reden, aber ich brauche Informationen. Wir sind hier zwar sicher, aber auch von allen Informationen abgeschnitten; jedenfalls fast allen.« Er lachte bitter, als er Charitys erstaunten Blick bemerkte. »Lassen Sie sich nicht von alledem da täuschen«, sagte er mit einer Geste auf den Kommandoraum. »Unsere Computer funktionieren zwar noch, aber das ist auch schon alles. Das Gehirn arbeitet noch, aber sie haben uns Augen und Ohren ausgestochen und beide Hände abgeschlagen, wenn Sie so wollen.«

»So schlimm?« fragte Charity betroffen.

»Schlimmer«, antwortete Becker ernst. »Wir sind machtlos.« Er lachte wieder, und diesmal klang es fast wie ein Schrei. Charity begriff plötzlich, dass das, was wie ein ganz normaler Rapport begonnen hatte, sich zu einem sehr privaten Gespräch entwickelte.

»Erinnern Sie sich noch, dass Sie mich einmal einen Knopfdruck-Soldaten genannt haben, Captain?« fragte Becker. »Jetzt bin ich es. Ich habe jede Menge Knöpfe, auf die ich drücken kann, aber das ist auch alles. Deshalb muss ich wissen, wie es oben aussieht. Gibt es noch Widerstand?«

»Widerstand?« Charity wiederholte das Wort, als müsse sie sich erst mühsam in Erinnerung rufen, was es überhaupt bedeutete. Dann schüttelte sie den Kopf.

»Nein, General. Oder doch, sicher, aber -«

»Aber sie schlagen unsere Jungs«, führte Becker den Satz düster zu Ende.

»Schlagen?« Charity machte ein Geräusch, von dem sie selbst nicht so recht wusste, was es bedeutete. Eine innere Stimme warnte sie, weiterzusprechen, aber etwas - vielleicht Beckers verzweifelter Blick, vielleicht auch nur einfach ihre eigene Verbitterung - brachte sie dazu, den Dolch nicht nur noch tiefer in die Wunde zu rammen, sondern auch noch herumzudrehen.

»Nein, General«, sagte sie. »Sie schlagen sie nicht. Sie vernichten sie, wo immer sie sie finden. Sie machen Treibjagd auf jeden, der eine Uniform trägt.«

»Aber es muss doch Widerstandsnester geben!« sagte Becker. »Irgend jemand muss sich doch wehren. Sie sind doch auch durchgekommen, und ...«

»Natürlich gibt es den«, sagte Charity. Ihre eigenen Worte taten ihr leid, aber ihr fiel kein Weg ein, sie zurückzunehmen. Sie war erschöpft und so gereizt wie Becker. Menschen in ihrer beider Zustand sollten nicht miteinander reden, dachte sie. Laut sagte sie:

»Es wird überall gekämpft. Im Norden sind ein paar Bomben gefallen. Ich ...« Sie blickte einen Moment auf die Karte, dann sah sie wieder Becker an. »Ich war bis jetzt der Meinung, Sie hätten sie geworfen.«

»Ich wollte, ich könnte es«, antwortete Becker grimmig. »Verdammt, ich wollte, nur ein Teil dieser beschissenen Knöpfe dort unten würde noch funktionieren. Ich würde diese verdammten Ungeheuer in die Galaxis zurückbomben, aus der sie gekommen sind.«

Charity verbiss sich eine Antwort. Becker machte es ihr sehr leicht, ihr schlechtes Gewissen zu beruhigen. Auch wenn er ihr im Moment leid tat - er war im Grunde nichts als das Arschloch, für das sie ihn immer gehalten hatte. Und Männer wie er waren einmal der Garant für die Sicherheit dieses Landes gewesen!

»Es gibt überall noch Widerstand«, knüpfte sie an ihre eigenen Worte an. »Aber ich glaube nicht, dass es noch lange dauern wird.«

Becker starrte sie an, aber in Wahrheit schien sein Blick durch sie hindurchzugehen.

Sie war nicht einmal sicher, ob er ihre letzten Worte überhaupt gehört hatte.

»Wenn ich es nur verstehen könnte«, sagte er. Seine Stimme klang flach, fast tonlos. »Es ist so ... so sinnlos. Kein Ultimatum. Keine Drohungen. Keine Forderungen - nichts. Warum tun sie das?«

Vielleicht gab es keine Antwort auf diese Frage. Vielleicht war der einzige Grund dieses Überfalles auf eine ganze Welt der, sie zu vernichten, so entsetzlich und absurd es klang. Vielleicht war es Gott, der gekommen war, um ihnen die große Schlussrechnung zu präsentieren, vielleicht die galaktischen Vettern der Wale, die sich für den Völkermord an ihren Brüdern revanchierten. Eine Erklärung war so gut und schlecht wie die andere.

»Es tut mir leid, dass ich keine besseren Neuigkeiten mitbringe«, fuhr sie nach einer Weile fort. »Aber das ist das, was ich erlebt habe. Möglicherweise sieht es nicht überall so aus.«

Ihre Worte waren nicht mehr als ein schwacher Versuch, Becker aufzumuntern.

Er lächelte dankbar, wenn auch nur sehr flüchtig.

»Möglicherweise«, sagte er. »Trotzdem müssen wir mit dem Schlimmsten rechnen. Ich habe Vorkehrungen getroffen, die Station zu isolieren.«

»Isolieren?« Charity hatte sich nicht gut genug in der Gewalt, den Schrecken ganz zu verhehlen, den ihr Beckers Worte einjagten.

»Isolieren«, bestätigte Becker. »Glauben Sie nicht, dass wir hier unten absolut sicher sind, Captain Laird. Sie haben gesehen, was oben in der Schleusenkammer passiert ist.«

»Trotzdem ...« begann Charity, wurde aber sofort wieder von Becker unterbrochen:

»... habe ich gesagt, dass ich Vorkehrungen getroffen habe, Captain. Das heißt nicht, dass ich es auch tun werde. Im Moment sind wir hier unten noch sicher. Solange sich daran nichts ändert ...« Er ließ das Ende des Satzes offen und breitete statt dessen die Hände aus. Dann erhob er sich mit einem Ruck.

»Lassen Sie sich ein Bett zuweisen, Charity, und schlafen Sie sich aus«, sagte er, mit völlig veränderter Stimme und sehr viel lauter, plötzlich wieder der befehlsgewohnte, überlegene Kommandant, kein alter Mann mehr, der vor Angst halb wahnsinnig war. »Wir sind im Moment hier unten zwar etwas beengt, aber Stone wird schon ein Quartier für Sie auftreiben. Wenn Sie sich ausgeruht haben, erwarte ich Ihren ausführlichen Bericht.«

Charity erhob sich und salutierte, aber Becker sah schon gar nicht mehr hin. Er lief so schnell aus dem Zimmer, dass es fast wie eine Flucht aussah.

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