3. Kapitel - Gegenwart

12. Dezember 1998

Es waren keine heldenhaften Retter, sondern ein Strahl aus blutfarbenem Licht, der von irgendwo über Charity herabstach und das Spinnenmonster aufspießte.

Das Tier verwandelte sich im Bruchteil einer Sekunde in einen rauchenden Schlackehaufen, aber der Laserblitz erlosch nicht, sondern wanderte im Zickzack weiter, brannte eine rotleuchtende Spur in den Beton des Bodens und traf ein zweites Ungeheuer, und fast im gleichen Moment flammten ein zweiter und dritter Laserstrahl auf, während der erste flackernd erlosch. Fünf Sekunden Dauerfeuer, dachte Charity kalt. Das Magazin der Waffe musste fast leergeschossen sein.

Erst dann begriff sie ganz allmählich, dass sie gerettet war; wenigstens für den Augenblick.

Jemand beugte sich über sie. Ein Gesicht, das nur schattenhaft hinter der getönten Scheibe eines Helmes sichtbar war, blickte auf sie herab, Lippen formten eine lautlose Frage, während die beiden anderen Männer ununterbrochen weiterschossen.

Großer Gott, dachte Charity, wie viele dieser Spinnenungeheuer waren hier?!

Der Mann über ihr legte sein Gewehr zu Boden, packte sie kurzerhand unter den Armen und zerrte sie mit sich, während er sich rückwärts gehend auf die Tür zubewegte, durch die er und die beiden anderen gekommen waren. Charity erhaschte einen kurzen Blick auf die Schleusenhalle, und was sie sah, ließ ihr Herz abermals einen schmerzhaften Sprung machen: Die Schwärze war dem flackernden roten Licht zahlloser Brände gewichen, und dieses Höllenlicht offenbarte ihr ein geradezu apokalyptisches Bild. Der Boden der Halle schien zu leben, ein brauner, brodelnder Teppich aus Hunderten von Spinnentieren, zwischen denen sich andere, gepanzerte Kreaturen bewegten, die nur aus Zähnen und Stacheln zu bestehen schienen. Die Laser der beiden Soldaten brannten die angreifenden Tiere zu Dutzenden nieder, aber es war sinnlos. Ihre Übermacht war einfach zu groß, um sie selbst mit der zehnfachen Anzahl von Waffen aufhalten zu können.

Die beiden Soldaten zogen sich in den kleinen Schleusenraum zurück, in dem sich Charity und ihr Retter befanden. Die Faust des einen hämmerte auf eine Schalttafel, und die Tür begann sich zu schließen. Aber sie tat es mit quälender Langsamkeit, und als begriffen die Tiere, dass ihnen ihre schon sicher geglaubte Beute im letzten Moment doch noch zu entkommen drohte, verdoppelten sie ihre Anstrengungen. Trotz des mörderischen Laserfeuers gelang es einem der gewaltigen Spinnentiere, noch durch die Tür zu schlüpfen, ehe sie sich endgültig schloss.

Charity schrie vor Schrecken auf, als sie sah, wie einer der Soldaten seine Waffe senkte und auf die Bestie anlegte. Wenn dieser Idiot seinen Gammastrahllaser in dieser winzigen Kammer abfeuerte, dann wurden nicht nur die Spinne, sondern sie alle vier gleich mitgebraten!

Aber der Mann begriff im letzten Moment, was er beinahe getan hätte; vielleicht warnte ihn auch Charitys Schrei. Statt zu feuern, drehte er die Waffe in den Händen herum und erschlug das Tier mit dem Kolben. Schweratmend richtete er sich auf und wandte sich Charity zu. Ein verzerrtes Grinsen malte sich hinter der Sichtscheibe seines Helmes ab. »Danke. Ich ... hätte fast die Nerven verloren.«

Er warf sein Gewehr zu Boden, griff an den Hals seines silberfarbenen Schutzanzuges und löste mit einer heftigen Bewegung den Helm. Darunter kam ein sehr junges - und im Augenblick sehr erschöpftes - Gesicht zum Vorschein; dunkle Augen, in denen eine unbestimmte Furcht nistete, ein schmaler, fast blutleer zusammengepresster Mund und Wangen, die eingefallen und grau und krank aussahen. Er war nicht älter als fünfundzwanzig, aber sein Gesicht war das eines Menschen, der hundert Jahre Terror erlebt hatte. Seit dieser ganze Alptraum begonnen hatte, hatte Charity fast nur in solche Gesichter geblickt.

»Alles in Ordnung mit Ihnen?« fragte er. Ohne auch nur eine Antwort abzuwarten, ging er neben ihr in die Hocke, zog ein Messer aus dem Gürtel und begann die Fäden zu zerschneiden, die Charity einhüllten. Obwohl er sehr vorsichtig zu Werke ging, presste Charity vor Schmerz die Lippen aufeinander. Die Fäden brannten nicht nur wie Säure auf der Haut, sie klebten auch verdammt fest, und hier und da blieben Blut und kleine Hautfetzchen an ihnen haften, wenn er sie abschnitt. Als er endlich fertig war, standen ihr die Tränen in den Augen. Sie fühlte sich, als hätte jemand versucht, sie bei lebendigem Leibe zu häuten.

»So«, sagte der junge Soldat. »Das reicht fürs erste. Den Rest schneidet Ihnen der Doc herunter. Unten im Bunker. Alles in Ordnung?« fragte er noch einmal.

Charity nickte, setzte sich behutsam auf und tastete mit zusammengebissenen Zähnen nach ihrem Gesicht. An ihren Fingerspitzen klebte Blut, als sie die Hand zurückzog.

»Fabelhaft«, antwortete sie. »Wer sind Sie? Der Foltermeister der Station?«

Ihr Retter lachte leise. »Das Empfangskomitee«, sagte er. »Wenigstens das inoffizielle. Das andere ...« Er deutete mit dem Daumen über die Schulter zurück, »...haben Sie ja schon kennengelernt.« Er seufzte, richtete sich mit einer kraftvollen Bewegung auf und wurde übergangslos wieder ernst. »Ich bin Lieutenant Stone. Captain Laird, wie ich vermute?«

»Erwarten Sie noch andere Gäste?« erkundigte sich Charity gepreßt. Sie ignorierte Stones hilfreich ausgestreckte Hand, stemmte sich aus eigener Kraft auf die Füße und blieb schwankend stehen.

Stone nickte sehr ernst. »Ein paar«, sagte er. »Aber ich fürchte, sie werden nicht mehr kommen. Es ist ein Wunder, dass Sie es geschafft haben.« Er hob rasch die Hand, als sie etwas sagen wollte.

»Wir sollten lieber von hier verschwinden«, sagte er. »Hier oben ist es nicht mehr sicher. Und Sie müssen zum Arzt, Captain.«

Charity fragte sich vergeblich, was er mit diesen Worten meinte - die Tür, durch die sie gekommen waren, war einen halben Meter dick und würde wahrscheinlich selbst einem taktischen Atomsprengkopf standhalten. Aber sie wagte nicht zu widersprechen, und zumindest mit seiner letzten Bemerkung hatte er recht - wenn sie sich jemals gewünscht hatte, einen Arzt zu sehen, dann jetzt. Und sei es nur, um ihr dieses widerwärtige klebrige Zeug vom Körper zu schneiden.

Erschöpft nickte sie.

Stone steckte sein Messer weg, half ihr, sich vollends hoch zurappeln, und führte sie zum Lift.

Der Weg nach unten kam ihr länger vor als sonst; die Kabine bewegte sich ruckhaft und langsam.

Aus dem kontrollierten Sturz, der die Kabine normalerweise in weniger als dreißig Sekunden fast eine halbe Meile tief in die Erde hinabgleiten ließ, war ein ruckelndes Bocken und Schlingern geworden.

Einmal flackerte die Beleuchtung, und mehr als nur einmal hatte sie das Gefühl, sich überhaupt nicht mehr von der Stelle zu bewegen.

Und die besorgten Blicke, die Stone und seine beiden Kameraden miteinander tauschten, bewiesen ihr, dass es mehr als nur ein Gefühl war. Aber sie verbot sich jede Frage. Sie würde früh genug erfahren, wie es um die Station bestellt war. Und im Grunde wollte sie es gar nicht so genau wissen. Ihr Bedarf an schlechten Neuigkeiten war in den letzten Wochen gedeckt worden.

Trotzdem war die Fahrt in die Tiefe wie eine Reise in eine andere, längst vergessene Zeit, ein Trip in eine Epoche, die unwiderruflich vorüber war und wahrscheinlich nie wieder kommen würde. Erschöpft lehnte sie sich gegen die Wand, sah die mattgelbe Neonröhre unter der Kabinendecke an und lächelte. Stone blickte sie verwirrt an.

»Keine Angst, Lieutenant«, sagte Charity. »Ich bin nicht verrückt geworden. Ich musste nur gerade daran denken, wie genügsam einen so ein kleiner Weltuntergang doch macht.«

Der Blick des jungen Lieutenants wurde noch fragender, und Charity fügte mit einer Kopfbewegung auf die Leuchtstoffröhre hinzu: »Es tut schon gut, eine elektrische Lampe zu sehen, die noch halbwegs funktioniert.«

Stone blickte sie noch einen Moment lang mit der gleichen Verwirrung an, aber dann lächelte er ebenfalls. »Auf den unteren Ebenen funktioniert noch fast alles«, sagte er. »Wenigstens, was die technische Seite angeht.«

Charity entschied, auch diese Bemerkung zu ignorieren, und machte eine fragende Handbewegung auf die Laserwaffen der drei Soldaten. »Und diese Dinger?«

»Alles gehärtet«, antwortete Stone. »Wir waren unter einer Meile Granit eingegraben, als der große Knall kam.« Eine Art morbider Neugier, die Charity nicht besonders gefiel, trat in seinen Blick. »War es schlimm, oben?«

»Es ging«, antwortete Charity einsilbig. »Ich bin schon angenehmer gereist, wenn Sie das meinen.«

Wenn Stone ihr plötzlicher Stimmungsumschwung auffiel, so ignorierte er ihn.

»Woher kommen Sie?« fragte er. »Jetzt, meine ich?«

Einen Moment lang überlegte Charity ernsthaft, ihn mit ein paar eindeutigen Worten darauf hinzuweisen, dass sie nicht nur ungefähr zehn Jahre älter als er, sondern auch Captain der US-Space-Force war, und er nur ein einfacher Lieutenant.

Aber dann kam ihr der Gedanke selbst lächerlich vor. Die Sternenschiffe von Moron hatten nicht nur ihre Militärbasen zusammengebombt, auch solche Dinge wie Rangunterschiede und Offiziersstreifen waren unbedeutend geworden.

»New York«, antwortete sie. »Ich war eine Woche unterwegs. Und jetzt fragen Sie mich bitte nicht, wie ich es geschafft habe. Ich weiß es nämlich selbst nicht.«

Stone setzte zu einer Antwort an, aber in diesem Moment hatte sie das Ziel ihrer Fahrt in die Unterwelt erreicht; der Aufzug kam mit einem ungewohnt harten Ruck zum Stehen, und die Türen glitten auf. Stone klaubte seinen Laser vom Boden auf, hängte sich die schwere Waffe lässig über die Schulter und machte eine einladende Handbewegung.

Charity sah sich überrascht um, als sie die Kabine verließ. Die aufgemalte 27 auf der gegenüberliegenden Wand verriet deutlich, dass sie sich nicht auf der Kommandoebene befanden, sondern ein gutes Stück darunter, genauer gesagt auf der tiefsten Sohle der Bunkeranlage.

»Befehl des Kommandanten«, sagte Stone, der ihren fragenden Blick richtig deutete. »Wir haben die Mannschaftsquartiere schon vor einer Woche hier herunter verlegt. Ist alles ein bisschen beengt, im Moment.«

Charity sah ihn zweifelnd an. Die Mannschaftsquartiere hier? Sie war niemals hier unten gewesen, aber sie kannte die Pläne dieser Anlage auswendig - hier unten sollte es eigentlich nichts anderes geben als Magazine und Lager und die verschiedenen Entsorgungs- und Überlebensanlagen, schon wegen der ungemütlichen Nähe zum Reaktor, dessen atomares Herz nur ein paar Meter unter dem Beton des Korridores schlug.

»Warum?« fragte sie.

Stone zuckte die Achseln. »Die oberen zehn Ebenen wurden evakuiert«, antwortete er. »Ich weiß nicht, warum. Aber es gibt ein Gerücht, nach dem ...« Er zögerte, dann sah er wohl ein, dass er schon ein wenig zu viel geredet hatte. »Man erzählt sich, dass Becker vorhat, den ganzen Bunker zu versiegeln«, sagte er. »Ein paar von den Jungs haben Sprengladungen angebracht. Aber wie gesagt - Gerüchte.«

Versiegeln? Sprengladungen? Es fiel Charity schwer, Stone zu glauben. Vor allem, weil sie ziemlich wenig Sinn ergaben. Sie dachte einen Moment darüber nach, dann verdrängte sie diese Frage und ging weiter.

Die Illusion, allein in dieser Welt aus dunklen Gängen zu sein, zerplatzte wie eine Seifenblase, als sie das Ende des Stollens erreicht hatten und Stone die Tür öffnete. Charity machte einen Schritt an Stone vorbei in den angrenzenden Raum und blieb verblüfft stehen.

Vor ihr breitete sich eine hohe, gut fünfzig mal fünfzig Schritte messende Halle aus, die vor Menschen schier aus den Nähten zu platzen schien. Nicht nur Soldaten wie Stone oder sie, sondern auch Zivilisten: Männer, Frauen und Kinder, von denen einige in schlichtweg erbärmlichem Zustand zu sein schienen. Viele saßen einfach auf dem Boden oder hatten sich primitive Lagerstätten aus Kleidern und Decken gemacht, und vor der gegenüberliegenden Wand entdeckte sie gar zwei kleine, weiße Plastikzelte. Ein paar geschwärzte Stellen auf dem Betonboden bewiesen, dass sie sogar Feuer gemacht hatte.

»Was zum Teufel ist hier los?« fragte Charity verblüfft. »Was tun diese Leute hier?«

Stone lächelte gequält. »Das fragt sich Commander Becker seit einer Woche auch, Captain Laird«, antwortete er. »Die Leute«, fügte er sehr viel ernsthafter hinzu, als Charity ihn scharf ansah, »sind aus Brainsville, dem Dorf unten am Berg.«

»Die Stadt ist angegriffen worden?« Es war keine wirkliche Frage. Schließlich war sie vor nicht einmal einer Stunde selbst durch die verkohlte Ruinenlandschaft gefahren, in die sich Brainsville verwandelt hatte. Trotzdem nickte Stone.

»Vor acht Tagen«, bestätigte er. »Sie haben alles niedergemacht, was sich bewegte. Das da sind die einzigen Überlebenden.«

Charity schwieg schockiert. In der ehemaligen Lagerhalle befanden sich vielleicht hundertfünfzig Menschen - aber Brainsville hatte fast dreitausend Einwohner gehabt!

»Sie kamen in zwei Schulbussen hier herauf«, fuhr Stone fort. »Wir konnten sie schlecht draußen stehenlassen und zusehen, wie diese Ungeheuer sie auffressen, nicht wahr?«

Nein, dachte Charity düster. Das konnten sie nicht. Obwohl sie es eigentlich gemusst hätten. Aber sie war sehr froh, dass Becker seine Befehle in dieser Beziehung missachtet hatte. Ein neuer, sehr tiefgehender Schmerz flammte in ihr auf, als sie das Häufchen Überlebender sah... Warum? dachte sie. Warum nur?

Aber diese Frage hatte sie sich in den vergangenen vier Wochen vielleicht eine Million Mal gestellt, ohne auch nur ein einziges Mal eine Antwort zu finden.

Vielleicht gab es keinen Grund.

»Kommen Sie, Captain«, sagte Stone beinahe sanft. »Commander Becker erwartet Sie bereits.«

Schweigend ging Charity weiter. Sie sprach kein einziges Wort mehr, bis sie die Krankenstation erreicht hatten.

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