16. Kapitel - Vergangenheit


9. Dezember 1998

Barton und seine kleine Armee waren kurz nach seinem Besuch im Gefängnis abgerückt, und mit Ausnahme des Mannes, der ihnen das Essen gebracht hatte, war er der letzte gewesen, der zu ihnen kam.

Der Rest des Tages war so vergangen, wie Tage in Gefängnissen seit Urzeiten zu vergehen pflegten: langsam und eintönig und vor allem von Langeweile bestimmt. Irgendwann war es ihr trotz allem gelungen einzuschlafen.

Charity erwachte, als ein lauter Donner die ganze Stadt erzittern ließ. Für eine halbe Sekunde drang hellroter Feuerschein durch das winzige Zellenfenster, dann erlosch er wieder.

Verwirrt setzte sie sich auf, lauschte einen Moment und fuhr sich müde mit der Hand über die Augen. In der Zelle neben ihr regte sich Mike. Auch er sah müde aus, aber auch auf seinem Gesicht war der gleiche, ungläubige Schrecken zu erkennen, den auch Charity spürte.

»Was war das?« fragte er alarmiert.

Charity hob andeutungsweise die Schultern, stand vollends auf und trat ans Fenster.

Sie musste sich auf die Zehenspitzen stellen, um hinaussehen zu können, doch sie sah nichts anderes als das, was sie den ganzen Tag über gesehen hatte: einen kleinen, von einer zwei Meter hohen Ziegelsteinmauer umschlossenen Innenhof, auf dem sich Abfälle und leere Kisten und Farbeimer stapelten. Der Himmel war schwarz.

»Es klang wie eine Explosion«, sagte sie zögernd. »Vielleicht war es auch ...«

»Was?« fragte Mike, als sie nicht weitersprach. Seine Stimme klang spöttisch. »Das klang nicht nur wie eine Explosion - es war eine«, fuhr er fort. »Unser Freund Barton kommt zurück. Und ich fürchte, nicht allein.«

Charity sah ihn nachdenklich an. Aber sie verzichtete auf eine Antwort, sondern drehte sich wieder herum und blickte abermals aus dem Fenster. Sie lauschte angestrengt, aber der Explosionsdonner wiederholte sich nicht. Dafür glaubte sie ein fernes Rufen zu hören und dann sehr schnelle Schritte, die sich dem Gebäude näherten.

Jemand schrie.

Mike begann wütend an den Gitterstäben zu rütteln.

»Wache!« brüllte er. »Kommen Sie her! Verdammt noch mal, Wache!«

Charity hatte nicht damit gerechnet - aber tatsächlich hörten sie plötzlich das Geräusch der Schlüssel, und einer der beiden Männer, die draußen auf dem Flur Wache hielten, kam herein. Er war blass und wirkte überaus nervös.

»Was geht da draußen vor?« fragte Mike aufgeregt. »Sie greifen an, nicht wahr? Sie kommen hierher. Verdammt, machen Sie die Tür auf!«

Der Mann machte einen halben Schritt auf das Gitter zu und blieb wieder stehen.

Irgendwo, sehr weit entfernt, aber näher als beim ersten Mal, krachte eine zweite Explosion.

»Lassen Sie uns raus!« sagte Mike noch einmal. »Um Gottes willen, Mann, sie werden uns alle umbringen, wenn wir nicht fliehen!«

»Unsinn«, widersprach der Soldat. »Barton wird schon mit ihnen fertig.«

»Das hört man«, antwortete Mike gereizt. »Verdammt, sind Sie taub? Sie hören doch, was da draußen los ist!«

»Ich... kann nicht«, antwortete der GI nervös. »Barton lässt mich erschießen, wenn ich Sie laufen lasse.« Und damit wandte er sich fast fluchtartig um und warf die Tür hinter sich zu.

»Bravo«, sagte Charity spöttisch. »Fühlst du dich jetzt besser?«

Mike funkelte sie wütend an. »Dieser Idiot«, fauchte er. »Wir werden hier verrecken, nur weil dieser hirnlose Idiot da draußen Krieg spielen muss!«

So aufbrausend und wütend hatte sie Mike noch nie erlebt. Er hatte sich sehr verändert, ohne dass sie genau sagen konnte, worin diese Veränderung bestand.

Ohne ein weiteres Wort trat sie wieder ans Fenster und blickte hinaus. Sie hörte jetzt keine einzelnen Schüsse mehr, sondern ganze Salven. Dann und wann huschte ein roter Lichtreflex über den Himmel.

»Wir müssen hier heraus«, sagte Mike gehetzt. »Verdammt, ich habe keine Lust, in diesem Loch zu krepieren!«

Charity trat ein Stück vom Fenster zurück, drehte sich zu ihm um und machte eine beruhigende Handbewegung. »Du hilfst uns bestimmt nicht, wenn du in Panik gerätst«, sagte sie. »Wir ...«

Irgend etwas stimmte nicht. Aus den Augenwinkeln hatte sie eine Bewegung am Fenster wahrgenommen und fuhr herum - und schrie gellend auf.

Wo vor Sekunden noch ein rechteckiger Ausschnitt des Nachthimmels gewesen war, glotzte sie jetzt ein gewaltiger, schwarzer Insektenschädel an, ein monströses gepanzertes Ding mit einem einzigen, irisierenden Auge, das sich wie der Sehschlitz einer mittelalterlichen Rüstung quer über die ganze Breite des Insektengesichtes zog. Dünne, biegsame Antennen peitschten in ihre Richtung.

Für die Dauer eines endlosen, grauenerfüllten Herzschlages starrte das gewaltige Facettenauge des Ungeheuers Charity direkt an, dann verschwand das Alptraumgesicht wieder. Und ein ungeheuerlicher Schlag traf das Gebäude. Charitys abermaliger Schrecksschrei ging im Krachen der zerberstenden Mauer und dem hellen, zornigen Pfeifen des Monstrums unter.

Die Erschütterung riss sie von den Füßen. Noch im Fallen sah sie, wie ein gewaltiger, gezackter Riss quer durch die Wand und bis zur Decke hinauflief, krümmte sich instinktiv zusammen und schlug die Arme über den Kopf, als Trümmer und Staub auf sie herabrieselten.

Ein zweiter, kaum weniger heftigerer Schlag traf das Haus. Die Wand, in der das Fenster gewesen war, brach in einer gewaltigen Staubwolke zusammen, und plötzlich glänzten schwarzbraunes Chitin und schreckliche Klauen zwischen den niederprasselnden Steinen. Das Ungeheuer schob sich mit fast gemächlichen Bewegungen auf Charity zu.

Sie hörte Mike schreien, kroch verzweifelt vor dem angreifenden Monster weg und prallte gegen das Gitter. Ein gigantisches Ameisenbein schlug nach ihr und verfehlte sie um Zentimeter.

Ein Schuss krachte, so dicht an ihrem Ohr, dass sie glaubte, ihr Trommelfell würde platzen. Das Rieseninsekt bäumte sich auf, stieß ein hohes, zorniges Pfeifen aus und warf den Kopf hin und her. Sein flaches Panzergesicht war plötzlich voller Blut.

Ein zweiter Schuss fiel. Das Ungeheuer taumelte, machte noch einen letzten, mühsamen Schritt und brach zusammen.

Charity plagte sich auf, während der Soldat, der sie gerettet hatte, bereits den Schlüssel von seinem Gürtel nestelte und ihre Zellentür öffnete. Es war der gleiche Mann, mit dem Mike vor ein paar Minuten gesprochen hatte. Seine Augen waren starr vor Entsetzen.

»Schnell!« keuchte Mike. »Um Gottes willen, beeilen Sie sich, Mann!«

Der GI war so nervös, dass er die Tür zu Charitys Zelle kaum aufbekam. Sein Blick irrte immer wieder zu der toten Insektenkreatur, als rechnete er jeden Augenblick damit, sie wieder aufstehen und abermals angreifen zu sehen. Es dauerte fast eine Minute, bis er Charity endlich aus ihrem Gefängnis befreit hatte.

Wortlos nahm sie ihm den Schlüssel aus der Hand, stieß ihn grob beiseite und befreite auch Mike.

»Eine Waffe!« keuchte Mike. »Wir brauchen Waffen - gibt es hier welche?«

Der Soldat nickte, fuhr auf der Stelle herum und stürmte durch die Tür, so schnell, dass Charity und Mike fast Mühe hatten, ihm zu folgen. Irgendwo in ihrer unmittelbaren Nähe explodierte etwas. Das ganze Gebäude erzitterte.

Der Soldat riss einen Schrank auf und warf Mike eine Maschinenpistole zu.

»Munition finden Sie da drinnen«, sagte er. »Und jetzt hauen Sie ab, Mann.« Er fuhr herum, riss die Tür auf und rannte mit weit ausgreifenden Schritten auf die Straße hinaus.

Er kam nicht einmal zwei Schritte weit. Ein dunkler, glitzernder Schatten fiel direkt vom Himmel und begrub ihn unter sich. Das Blitzen rasiermesserscharfer Klauen erstickte seinen Schrei.

Mike riss seine MP in die Höhe und drückte ab, aber nichts geschah. Fluchend legte er den Sicherungshebel um, zielte erneut auf die Kreatur und drückte ab - aber noch immer funktionierte die Waffe nicht. Das Insektenmonster richtete sich langsam über dem toten Soldaten auf und drehte sich herum. Kleine, gnadenlose Augen starrten sie an.

Mit aller Macht packte Charity die Tür, warf sie ins Schloss und legte den Riegel vor.

»Runter!« schrie Mike.

Charity gehorchte, und sie tat es keine Sekunde zu früh! Irgend etwas traf die Tür mit der Wucht eines Dampfhammers. Das Holz zersplitterte, fingerlange, mörderische Krallen rissen und fetzten.

Charity rollte sich blindlings zur Seite, kam mit einem Satz wieder auf die Füße und sprang zurück, als sie sah, wie Mike die nutzlose Waffe fallen ließ und ein anderes Gewehr aus dem Schrank riss.

Und diesmal funktionierte die Waffe. Die Tür erzitterte ein zweites Mal wie unter einem Hammerschlag, als er die MP hochriss und schoss. Von draußen drang ein gellender, durch und durch unmenschlicher Schrei herein, dann das Geräusch von splitterndem Hörn. Schließlich hörten sie den Aufprall eines schweren Körpers.

Aber Mike schoss immer weiter, hielt den Abzug gekrümmt, bis das Magazin leer war. Auch dann hielt er die Waffe noch starr in der Hand.

Charity trat vorsichtig an ihn heran und berührte ihn an der Schulter. Mike fuhr zusammen wie unter einem Schlag. Aber dann erkannte er sie. Aus dem lähmenden Entsetzen in seinem Blick wurde nackte Angst.

»Alles wieder okay?« fragte Charity misstrauisch. Sie kannte die Vorzeichen einer beginnenden Panik zu gut, um sich selbst noch etwas vorzumachen. Plötzlich wusste sie mit unerschütterlicher Sicherheit, dass Mike es nicht schaffen würde. Er war kein Kämpfer.

Er hatte gelernt, ein Raumschiff zu fliegen und mit einer Laserkanone auf Raketen zu schießen, nicht, sich gegen einen lebendig gewordenen Alptraum zu wehren.

»Ich... glaube schon«, antwortete er mühsam. Er versuchte zu lächeln. Es misslang.

»Dann laß uns verschwinden.« Charity schob ihn mit sanfter Gewalt zur Seite, öffnete den Waffenschrank vollends und entdeckte zu ihrer Erleichterung eine zweite Maschinenpistole. Hastig hängte sie sich die Waffe über die Schulter, nahm so viele Ladestreifen an sich, wie sie gerade noch tragen konnte, und bedeutete Mike mit einer Kopfbewegung, sich ebenfalls zu bewaffnen. Dann ging sie in den Zellenraum zurück.

»Wo willst du hin?« fragte Mike erschrocken.

»Raus«, antwortete Charity. Sie deutete mit einer Kopfbewegung auf die zerschossene Vordertür. »Hast du vielleicht Lust, diesen Ausgang zu nehmen?«

Mike antwortete nicht darauf, aber sie hätte auch gar nicht mehr hingehört. Ihr Herz machte einen schmerzhaften Sprung, als sie in die offenstehende Zelle zurücktrat und das erschossene Rieseninsekt sah, das den Ausweg blockierte. Das Loch, das das Monstrum in die Wand gerissen hatte, war groß genug, um bequem hindurchzuschlüpfen, aber sie würden über den gewaltigen Kadaver klettern müssen. Charitys Magen zog sich zu einem harten, stacheligen Klumpen zusammen. Aber sie schaffte es, irgendwie.

Und es war nicht einmal so schlimm, wie sie geglaubt hatte.

Colinsville glich einem Tollhaus. Die Stadt stand in Flammen.

Aus den entfernten Gewehrsalven war ein nicht enden wollendes Krachen und Dröhnen geworden, in das sich nur noch dann und wann der dumpfe Schlag der Panzerkanone mischte. Menschen hasteten ziellos und in Panik umher. Der Himmel war rot vom Widerschein des gewaltigen Feuers, das sich rasend schnell in die Stadt hineinfraß.

Ein Soldat taumelte schreiend vorüber. Irgendeine winzige Gestalt hockte in seinem Nacken, und sein Hemd war voller Blut.

Charity hob ihre Waffe, aber der Mann war zu schnell vorüber. Und wahrscheinlich hätte sie ihn ohnehin nicht mehr retten können.

Schaudernd vor Entsetzen drehte sie sich um und blickte das Flammenmeer an, das im Norden von Colinsville tobte; eine Wand aus Feuer, die das vor sich hertrieb, was von Bartons zweitausend Mann übriggeblieben war - ein jämmerlicher Haufen aus panikerfüllten Männern, die in wilder Flucht die Straße herabgerannt kamen. Und hinter ihnen...

Das Licht war zu grell, so dass Charity kaum etwas erkennen konnte, aber was sie sah, nahm ihr fast den Atem. Es war eine Armee aus kriechenden, hüpfenden, flatternden, hopsenden und rennenden Horrorkreaturen, ein Bild von Hieronymus Bosch, das zum Leben erwacht war. Die Männer schössen ununterbrochen, und sie trafen ununterbrochen, aber die grelle Wand aus Feuer spie immer mehr furchterregende Bestien aus.

»Dorthin!« Mike deutete hektisch nach rechts, nicht direkt in die dem Feuer entgegengesetzte Richtung, sondern auf eine schmale Gasse auf der anderen Seite der Hauptstraße. Sie wussten beide, dass es Selbstmord war, sich der fliehenden Menschenmenge anzuschließen. Sie würden einfach niedergetrampelt werden.

Trotzdem hätten sie es beinahe nicht geschafft. Am anderen Ende der Ortschaft ertönte ein dumpfes Krachen, als sie die Straße zur Hälfte überquert hatten, und plötzlich fühlte Charity einen entsetzlich heißen, rasenden Luftzug. Eine halbe Sekunde später explodierte die Panzergranate am anderen Ende der Straße, inmitten der heranrasenden Insektenarmee.

Aber auch inmitten von Bartons Leuten...

Charity sah entsetzt weg, rannte blindlings weiter und blieb erst stehen, als sie die rettende Gasse erreicht hatten. Mike ließ sich neben ihr auf die Knie fallen, hob seine MP und jagte einen kurzen Feuerstoß in die Dunkelheit vor ihnen.

Schweratmend drehte sich Charity um. Der Panzer kam rasselnd näher, und sie erkannte jetzt, dass es ein uralter Sherman war, ein Modell aus dem Zweiten Weltkrieg, das nur noch aus Rost und ein bisschen Farbe zu bestehen schien.

Eine untersetzte Gestalt mit grauem Haar ragte aus der offenen Einstiegsluke.

»Barton!« schrie sie. »Um Gottes willen, hören Sie auf!«

Ihre Worte gingen im Brüllen der Panzerkanone unter. Eine zehn Meter lange Flammenzunge stach über die Straße und explodierte eine halbe Meile entfernt in der Wand eines zweistöckigen Gebäudes. Charity schloss geblendet die Augen, als das Haus in einer Wolke aus Feuer und fliegenden Trümmern auseinander flog.

Dann hob sie ihre Waffe, zielte kurz und drückte ab. Ein einzelner Schuss löste sich peitschend.

Die Kugel prallte harmlos einen Meter vor Barton vom Stahl ab, aber Bartons Kopf flog mit einem Ruck herum. Trotz der großen Entfernung konnte sie seinen Schrecken sehen, als er sie erkannte.

»Hören Sie auf, Sie Idiot!« schrie sie mit überschnappender Stimme. »Sie bringen Ihre eigenen Leute um!«

Der Turm des Panzers drehte sich. Für einen kurzen, schrecklichen Moment war Charity fast sicher, dass die nächste Granate sie und Mike treffen würde, aber dann bewegte sich die Kanone wieder zurück. Der Panzer fuhr klirrend weiter, verminderte sein Tempo für einen Moment und beschleunigte wieder, als Barton sich aus der Luke herausstemmte und zu Boden sprang.

Die Front der Insektenungeheuer war noch näher gekommen, aber ihr Vormarsch verlor jetzt rasch an Geschwindigkeit. Auf der Straße vor Colinsville hatte sie Bartons Männer einfach vor sich hergetrieben, doch hier fanden die GIs genügend Deckung, um sich ihnen in den Weg stellen zu können.

»Sind Sie zufrieden, Sie dämlicher Hund?« begrüßte Mike den General. »Wie viele von Ihren Männern leben noch? Hundert?«

Bartons Lippen pressten sich zu einem schmalen Schlitz zusammen. Er zitterte.

Aber er sagte kein Wort.

Charity warf Mike einen raschen, warnenden Blick zu, zog Barton mit einer groben Bewegung in die Deckung der Mauer zurück und deutete nach Norden.

»Was ist passiert?« fragte sie einfach.

»Es war... eine Falle.« Bartons Stimme klang flach. Von seiner unerschütterlichen Siegessicherheit war nichts mehr geblieben. »Wir haben sie umstellt«, fuhr er fort. »Wir hatten ihr Lager gefunden, vom Helikopter aus. Ein Tal in den Bergen, nur ein paar Meilen von hier.«

»Und?« fragte Mike, als Barton nicht weitersprach.

»Ich weiß es nicht«, murmelte Barton. »Wir hatten sie in der Falle. Es ... es schien alles so einfach zu sein. Ich kenne dieses Tal. Es ... es ist klein, kaum eine halbe Meile tief. Aber plötzlich waren sie da. Millionen. Großer Gott, es müssen ... es müssen Millionen sein. Sie tauchen wie aus dem Nichts auf. Wir haben Tausende abgeschossen, aber es ... es werden immer mehr.«

Charity starrte blicklos zu Boden. Bartons Worte entsetzten sie.

Sie hätten es ihm sagen können, dachte sie matt. Er war wahrscheinlich wirklich davon überzeugt, siegen zu können. Von dem Materietransmitter hatte er keine Ahnung gehabt.

Charity sah nach Norden. Der Vormarsch der Fremden war nicht vollends zum Stehen gekommen, aber doch beinahe. Bartons Männer hatten sich in die umliegenden Häuser zurückgezogen und schössen jetzt gezielt auf die heranstürmenden Kreaturen, und auch der Panzer eröffnete immer wieder das Feuer. Charity sah, dass er gezielt die großen Käferwesen anvisierte, mit denen Mike und sie bereits Bekanntschaft gemacht hatten. Sie sah keinen einzigen der Vierarmigen, was sie allerdings nicht erstaunte.

»Wie viele Panzer haben Sie noch?«

Barton schüttelte den Kopf. »Keinen. Das ist ... der letzte. Es waren nur vier«, fügte er in einem entschuldigenden Tonfall hinzu, für den Charity ihm am liebsten den Gewehrlauf in die Zähne geschlagen hätte.

Plötzlich hörte sie das Knattern eines Hubschraubers, der sich der Stadt näherte.

Sie sah auf, blickte in den Himmel und erkannte ihren Helikopter. Sie erschrak.

Die Maschine taumelte wie ein betrunkener Schmetterling. Das Motorgeräusch klang unregelmäßig, und der Pilot schien Mühe zu haben, die Maschine überhaupt in der Luft zu halten.

Barton sprang auf, lief ein paar Schritte auf die Straße hinaus und riss ein Walkietalkie aus dem Gürtel. »Harker!« schrie er. »Ich bin hier! Runter!«

»Der... der Mistkerl will abhauen!« keuchte Mike. »Verdammt, er lässt uns einfach im Stich!«

Er wollte aufspringen, aber Charity riss ihn im letzten Moment zurück.

Der Hubschrauber erreichte die Straße nicht. Harker versuchte es, aber er bekam immer größere Schwierigkeiten, die Maschine zu steuern. Plötzlich war noch etwas am Himmel; ein riesiges Wesen aus schwarzem Leder, das mehr durch die Luft torkelte, als es flog.

Aber die scheinbare Schwerfälligkeit seiner Bewegungen täuschte. Plötzlich schoss es auf den taumelnden Helikopter zu, hing einen Moment fast reglos über den rasenden Rotoren - und schloss sich wie eine formlose Riesenfaust um die winzige Maschine.

Der Hubschrauber explodierte noch in der Luft. Ein Teppich aus Feuer und brennenden Trümmern regnete auf die Stadt herab, zusammen mit den zerfetzten Überresten des Wesens, das den Helikopter vernichtet hatte.

Und in der gleichen Sekunde begann der endgültige Angriff der Monster.

Als wäre die Vernichtung des Helikopters ein Zeichen gewesen, tat sich die Nacht am anderen Ende der Straße auf und spie alle Kreaturen der Hölle aus. Es waren viele Tausende, eine ungeheuerliche Walze aus glitzerndem Hörn, das die Straße, das Feuer, die Häuser und selbst den Panzer einfach überrollte. Charity sah, wie sich drei der gigantischen Käferwesen gleichzeitig auf den Sherman-Tank stürzten und ihn kurzerhand umwarfen, mit einer Kraft, die einfach unvorstellbar war.

Augenblicke später explodierte etwas im Inneren des Panzers, und greller Feuerschein überstrahlte noch einmal die Armee der Horrorkreaturen.

»Weg hier!« brüllte Mike mit überschnappender Stimme. Er sprang auf, riss Charity einfach mit sich und hetzte los.

Keine Sekunde zu früh. Ein mannsgroßes Ding mit Tausenden von kleinen, nadelspitzen Stacheln rollte wie ein losgerissenes Rad über die Straße auf sie zu.

Mike schoss und traf, aber im gleichen Moment lösten sich Dutzende der kleinen Hornstacheln aus dem Monstrum und prallten wie tödlicher Hagel an der Stelle gegen die Wand, wo er und Charity gerade noch gesessen hatten.

Einer von ihnen traf.

Charity spürte einen harten, betäubenden Schlag gegen den Oberschenkel, einen kleinen Moment der Schwäche - und dann raste ein entsetzlicher Schmerz durch ihr Bein und explodierte überall in ihrem Körper zugleich. Sie schrie gellend auf, stürzte zu Boden und umklammerte ihren Oberschenkel. Blut lief in breiten Strömen über ihr Bein. Die Hornnadel musste ihren Schenkel glatt durchschlagen haben.

Mike versuchte sie in die Höhe zu ziehen, aber sofort schoss eine neue, unerträgliche Schmerzwelle durch ihren Körper. Vergiftet, dachte sie. Der Dorn musste vergiftet worden sein! Das Ding war kaum dicker als eine Stricknadel gewesen, aber der Schmerz war trotzdem entsetzlich, pure Agonie, die jeden einzelnen Nerv in ihrem Körper in Flammen setzte. Blindlings schlug sie Mikes Hand beiseite, krümmte sich erneut und schrie.

Sie registrierte kaum, dass Mike sie mit einer Hand am Arm ergriff und in die Gasse zurückschleifte, aus der sie gerade geflohen war, während er mit der anderen die MP schwenkte und blindwütig um sich schoss.

Dann erlosch der Schmerz, so schnell, wie er gekommen war. Ihr Bein tat weiter fast unerträglich weh, und sie bezweifelte, dass sie laufen konnte, aber die fürchterliche Qual, die ihr gesamtes Nervensystem gepeinigt hatte, war fort. Wenn es Gift gewesen war, hatte ihr Körper es rasch absorbiert. Trotzdem - ein einziger oder gar mehrere Treffer dieser lebenden Pfeile in den Körper...

Sie dachte den Gedanken vorsichtshalber nicht zu Ende, sondern stemmte sich mühsam hoch, tauschte das Magazin ihrer MP gegen ein neues aus und kroch ungeschickt an Mikes Seite. Er sah überrascht hoch, hörte aber nicht auf, zu schießen. Und als sie auf die Straße hinausblickte, wusste sie auch, warum.

»Großer Gott!« flüsterte sie. »Das ist das Ende.«

»Ja«, antwortete Mike gepresst. »Das ist ...« Er stockte, runzelte die Stirn und sah verwirrt nach rechts und links. »Wo ist Barton?«

Charity zuckte automatisch die Achseln, doch dann fiel ihr ein, dass sie ihn vorhin gesehen hatte. Er war zu einem niedrigen Gebäude am anderen Ende der Straße hinübergerannt.

»Dort«, sagte sie.

»In der Scheune?« Mike nickte grimmig. »Das habe ich mir gedacht. Der Mistkerl will abhauen! Los!«

Er sprang auf, riss Charity brutal mit sich und rannte im Zickzack über die Straße, wobei er wild um sich schoss.

Sie hatten Glück; ein allerletztes Mal. Die Monster konzentrierten ihre Angriffe auf ein Gebäude auf der anderen Straßenseite, in dem sich einige von Bartons Männern verschanzt hatten, so dass sie nicht angegriffen wurden. Trotzdem hätte zumindest Charity es nicht geschafft, wenn Mike sie nicht einfach mit sich gezerrt hätte. Ihr Bein blutete noch immer, und die Schmerzen wurden durch das Laufen nicht gerade besser.

Aber Mike gestattete ihr auch jetzt noch keine Atempause. Sie erreichten den Lagerschuppen, in dem sie Barton hatte verschwinden sehen, und Mike trat kurzerhand die Tür ein.

Dahinter lag eine weitläufige, fast leere Lagerhalle, die von einer Petroleumlampe nur schwach erhellt wurde. Direkt vor dem Tor stand der schwarze Trans-Am, in dem Harker zu ihnen gekommen war. Unter der getönten Windschutzscheibe konnten sie die Silhouette General Bartons erkennen.

Mike blieb stehen, hob das Gewehr und legte es an. »Tun Sie es nicht, Barton«, sagte er. »Ich schwöre Ihnen, dass ich Sie erschieße, wenn Sie den Zündschlüssel auch nur ansehen.«

Der Schatten hinter der Scheibe erstarrte.

»Keine Bewegung«, fuhr Mike drohend fort. »Cherry - mach das Tor auf.«

Charity schob mit zusammengebissenen Zähnen den schweren Riegel zur Seite.

Die kleine Anstrengung überstieg fast ihre Kräfte. Ihr wurde schwindelig. Sie blieb einen Moment reglos stehen, um Atem zu holen, dann wollte sie das Tor vollends aufschieben, aber Mike hielt sie mit einem raschen Kopfschütteln zurück.

»Nicht«, sagte er. »Noch nicht. Geh zum Wagen. Pass auf, dass er keine Dummheiten macht.«

Der schwarze Trans-Am begann vor ihren Augen zu verschwimmen, als sie den ersten Schritt machte. Sie war so schwach. Und die Schmerzen wurden stärker. Es kostete sie ihr letztes bisschen Energie, neben die Fahrertür zu treten. Die Kraft, ihre Waffe zu heben, hatte sie schon nicht mehr.

Barton blickte sie aus schreckgeweiteten Augen an. »Hören Sie«, begann er. »Wir können zusammen fahren. Der Wagen ist groß genug. Ich ... ich ergebe mich.«

»Halt die Schnauze!« sagte Mike hart. »Raus aus dem Wagen.«

Barton rührte sich nicht. Sein Gesicht war weiß wie das eines Toten. »Sie können mich doch nicht zurücklassen«, wimmerte er. »Das ist Mord.«

»Tun Sie, was er sagt«, murmelte Charity. »Wir nehmen Sie mit, aber jetzt... tun Sie es. Es ist besser... für Sie.«

Sie war so schwach, dass sie sich an der Wagentür festhalten musste, um nicht zu stürzen. Barton blickte entsetzt zu ihr auf, schließlich aber gehorchte er.

Charity sah die Maschinenpistole zu spät, die er auf den Knien hatte. Sie schrie warnend, aber im gleichen Moment stieß Barton die Tür mit solcher Wucht auf, dass sie einfach von den Füßen gerissen wurde, und ließ sich aus dem Wagen fallen. Mike und er feuerten gleichzeitig.

Mikes Kugel durchschlug die Tür des Trans-Am, Bartons rechte Hand und dann seinen Hals, während Bartons Salve Mikes beide Knie zerschmetterte und eine blutige Spur über seine Brust zog.

Es dauerte eine halbe Stunde, ehe Charity wieder genug Kraft gesammelt hatte, Bartons Leichnam vollends aus dem Trans-Am herauszuzerren und seine Taschen nach dem Schlüssel zu durchsuchen. Der Kampflärm draußen auf der Straße hatte nachgelassen, aber nicht ganz aufgehört, und einmal hatte etwas an der Tür gekratzt. Die beiden Flügel des großen Holztores, die jetzt nicht mehr verriegelt waren, hatten sich bewegt, aber was immer dort draußen gestanden hatte, war nicht hereingekommen. Nach allem, was es ihr angetan hatte, schien sich das Schicksal nur einen letzten, bösen Scherz mit ihr erlaubt zu haben.

Ihr wurde wieder übel, als sie sich hinter das Lenkrad des Trans-Am zog und mit zitternden Fingern den Zündschlüssel ins Schloss steckte. Ihr rechtes Bein war steif; sie würde Kupplung, Gas und Bremse nur mit dem linken Fuß bedienen müssen, aber irgendwie würde es schon gehen. Sie hatte keine Angst mehr. Sie fragte sich, was draußen auf der Straße auf sie warten mochte, aber sie dachte auch diesen Gedanken ohne Angst.

Ihr Blick streifte Mikes reglosen Körper. Sie hatte es bisher krampfhaft vermieden, ihn auch nur anzusehen, aber es war nicht halb so schlimm, wie sie geglaubt hatte. Sie spürte... nichts. Aber der Schmerz würde kommen.

Sie drehte den Zündschlüssel. Der Wagen sprang sofort an. Ein letztes Mal visierte sie das Tor über die flache Schnauze des Trans-Am hinweg an, dann legte sie behutsam den Gang ein und gab Gas.

Vor ihr lagen noch fast tausend Meilen, und jede einzelne davon konnte geradewegs in die Hölle führen. Aber sie wusste einfach, dass sie es schaffen würde.

Irgendwie...

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