17. Kapitel - Gegenwart

12. Dezember 1998

Ihr linker Arm brannte.

Alles, was sie fühlte, war Schmerz, ein entsetzlicher, brennender Schmerz, der im Takt ihres rasenden Herzschlages pulsierte und ihr die Tränen in die Augen trieb.

Sie konnte kaum noch denken. Wenn Stone ihr nicht von Zeit zu Zeit einen Stoß in den Rücken versetzt hätte, hätte sie längst aufgegeben und sich in irgendeine Ecke gekauert, um zu sterben.

Aber das ließ er nicht zu. Immer, wenn sie stehen bleiben wollte, versetzte er ihr einen weiteren Stoß mit dem Gewehrlauf; und wenn ihre Kräfte einfach versagten, was jetzt immer öfter und in immer kürzeren Abständen geschah, zerrte er sie grob auf die Füße und stieß sie weiter. Rings um sie herum brach der Bunker Stück für Stück zusammen. Das Wimmern der Alarmsirenen war längst verstummt, und große Teile der unterirdischen Höhlen und Stollen waren wieder in die Dunkelheit versunken, aus der die Menschen sie für wenige kurze Jahre herausgerissen hatten.

Sie hörte Schreie und Schüsse und dazwischen immer wieder das dumpfte Echo schwerer Explosionen. Es war ein Wunder, dass sie kein einziges Mal angegriffen wurden.

Charity hatte längst die Orientierung verloren. Sie wusste nicht mehr, auf welcher Ebene sie waren oder wohin Stone sie brachte. Sie wusste nur, dass er den Verstand verloren haben musste.

Sie blieb stehen, als Stone ihr mit einer abgehackten Geste gebot, anzuhalten.

Warnend hob er die Waffe, deutete auf die gegenüberliegende Wand und machte eine Bewegung, sich dorthin zu setzen und nicht zu rühren.

Charity hätte es nicht einmal gekonnt, wenn sie es gewollt hätte.

Ihr linker Arm und ihr rechtes Bein führten einen verbissenen Wettkampf darin, sich gegenseitig mit Schmerzwellen zu übertreffen; sie fühlte sich so schwach wie nie zuvor im Leben.

Stone sah sie einen Moment lang scharf an, dann drehte er sich mit einer abrupten Bewegung um und verschwand in einem Seitengang. Aber sie wusste, wie sinnlos jeder Fluchtversuch war. Er würde nur Sekunden fortbleiben.

Für Augenblicke drohte sie die Besinnung zu verlieren. Alles um sie herum begann sich zu drehen. Übelkeit breitete sich in ihrem Magen aus.

Verbissen kämpfte Charity das Gefühl nieder, atmete gezwungen tief ein und aus und konzentrierte sich mit aller Macht darauf, die schwarzen Schleier zu vertreiben, die ihre Gedanken einlullen wollten. Der Schmerz in ihrem Arm trieb ihr die Tränen in die Augen.

Dabei war die Wunde kaum größer als ein Stecknadelkopf. Stone hatte den Laser auf die niedrigste Wirkungsstufe eingestellt gehabt, und ihr Körperschild hatte dem Strahl zusätzlich Energie entzogen.

Aber das, was ihren Arm schließlich getroffen und durchbohrt hatte, war immer noch genug gewesen, jeden einzelnen Nerv in ihrer linken Körperhälfte zur Weißglut zu bringen. Sie wusste nicht, ob sie den Arm jemals wieder würde bewegen können.

Stone kam zurück. Auf seinem Gesicht lag noch immer der gleiche, gehetzte Ausdruck. Hastig überzeugte er sich davon, dass der Gang hinter ihnen noch leer war, dann kniete er neben ihr nieder und half ihr dabei, aufzustehen. Charity wollte seinen Arm beiseite stoßen, aber sie konnte es nicht.

»Geht es noch?« fragte er. Er lächelte. »Es ist nicht mehr weit. Nur ein paar Schritte.«

»Hören Sie doch auf, Stone«, sagte Charity mühsam. »Das... das hat doch alles... keinen Zweck mehr.« Selbst das Sprechen bereitete ihr Mühe.

»O doch«, widersprach Stone. »Sie werden mir noch dankbar sein, Captain.« Er verstärkte den Druck seiner Hand ein wenig und zwang sie mit sanfter Gewalt, weiterzugehen. Ein weiterer finsterer Gang nahm sie auf. Stone schaltete seinen Scheinwerfer ein und ließ den bleichen Lichtstrahl über weißgestrichenen Beton gleiten.

Flüchtig sah sie eine gewaltige Panzertür, deren Schloss offensichtlich mit einem Laser herausgeschnitten worden war.

Aber sie begriff trotzdem erst, als er sie durch diese Tür stieß und sie die Tanks sah.

Für einen Moment vergaß sie sogar ihre Schmerzen, so verblüfft war sie. Es war so naheliegend, dass sie sich fragte, wieso sie nicht längst von selbst auf die gleiche Idee gekommen war. Aber es war auch ebenso verrückt wie naheliegend.

Die Tanks! Großer Gott, das... das konnte überhaupt nicht funktionieren!

»Das ist nicht Ihr Ernst, Stone«, sagte sie erschüttert.

Stone ließ ihren Arm los, entfernte sich rückwärts gehend und machte sich irgendwo hinter ihr an der Wand zu schaffen. Der grelle Strahl seiner Taschenlampe wich dabei keine Sekunde von Charitys Gesicht.

Etwas klickte, und mit einem Male erlosch das blendende Weiß von Stones Lampe, aber eine Sekunde später glomm unter der Decke das düstere Rotlicht der Notbeleuchtung auf. Charity taumelte vor Schwäche. Der Schock klang ebenso rasch ab, wie er gekommen war, und Schmerzen und Übelkeit meldeten sich zurück. Mühsam drehte sie sich zu Stone um und sah zu, wie er sich an der Kontrolltafel neben der Tür zu schaffen machte. Er stellte sich nicht besonders geschickt dabei an, aber er hatte Erfolg. Irgendwo hinter ihr begann ein Elektromotor zu summen. Über der Tür flackerte ein Warnlicht, dann ein zweites, und dann schoben sich zwei gewaltige, gezahnte Metallplatten aus Boden und Decke und eine zweite, zwanzig Zentimeter starke Tür aus fast unzerstörbarem Stahl, die sich in wenigen Augenblicken schließen und diesen Raum hermetisch versiegeln würde. Charity wusste, dass es außer einem atomaren Sprengkopf nicht viel gab, was diese Barriere zerstören konnte.

»Bitte, Stone«, sagte sie so ruhig, wie sie nur konnte. »Sie wissen nicht, was Sie tun. Das ist Selbstmord!«

Stone lachte, aber sein Gesicht blieb dabei unbewegt. Nur sein Blick flackerte.

»Selbstmord wäre es, draußen zu bleiben«, sagte er. »Sie werden die Dinger da jetzt einschalten, Captain. Zwei Stück - einen für mich und einen für Sie.«

Charity blickte unsicher zu dem halben Dutzend gewaltiger Stahlsärge hinüber, auf die Stone gedeutet hatte. Dann schüttelte sie den Kopf. »Das kann ich gar nicht«, behauptete sie. Nervös sah sie zur Tür. Die beiden stählernen Zahnreihen waren nur noch einen halben Meter voneinander entfernt. Noch Sekunden, und die Falle schloss sich.

»Das ist nicht wahr!« sagte Stone heftig. Das Lasergewehr in seinen Händen ruckte drohend hoch. »Ich weiß, dass Sie es können. Ich habe mich erkundigt, wissen Sie?«

»Theoretisch«, sagte Charity leise. »Es ist Selbstmord, Stone! Niemand hat diese Dinger je ausprobiert; außer ein paar Affen. Und von denen ist nur die Hälfte wieder aufgewacht!«

»Ich weiß«, antwortete Stone. Die Panzerplatten waren jetzt noch fünfzehn Zentimeter voneinander entfernt. Noch Sekunden, dachte Charity. Sie musste irgend etwas tun, wenn sie jemals wieder aus dieser Falle herauskommen wollte!

Aber sie konnte es nicht. Stone hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass er ihr auch noch in den anderen Arm schießen würde, wenn sie versuchte, ihn anzugreifen oder zu fliehen.

»Eine Fünfzig-Prozent-Chance reicht mir«, fuhr Stone fort. »Ist mehr, als wir draußen haben, oder?«

»Und die anderen? Becker und... und die, die jetzt unten beim Schiff auf uns warten?« fragte Charity. »Sie bringen sie um, Stone.«

»Das haben sie schon längst selbst getan«, antwortete Stone zornig. »Was glauben Sie, wie weit Sie mit ihrem lächerlichen Raumschiff kommen, ehe die Fremden Sie abschießen?« Er schüttelte heftig den Kopf und deutete befehlend auf die Tanks.

»Fangen Sie an, Captain.«

Die stählernen Zahnreihen berührten sich. Es geschah vollkommen lautlos. Nur die flackernden Warnlampen über der Tür erloschen wieder. Charity schloss mit einem kaum hörbaren Seufzer die Augen. Gefangen, dachte sie. Nein, schlimmer - sie waren lebendig begraben.

»Fangen Sie an!« sagte Stone noch einmal.

»Und wenn ich es nicht tue?« Charity lächelte. »Sie können mich nicht zwingen, Stone. Erschießen Sie mich, wenn es Ihnen Spaß macht. Das geht schneller.«

Stone lächelte kalt, und Charity begriff, dass er auf diese Antwort gewartet hatte.

»Vielleicht kann ich das wirklich nicht«, sagte er. »Aber Sie werden es tun, Captain - entweder jetzt oder in ein paar Tagen, wenn sie halb verrückt vor Hunger und Durst sind.« Er hob befehlend die Waffe. »Los!«

Wahrscheinlich hatte er sogar recht, dachte Charity. Es war aus, so oder so.

Trotzdem dauerte es noch lange, ehe sie sich umdrehte und zögernd auf den ersten der sechs riesigen Hibernationstanks zuging.

Hatte ihr der Anblick beim ersten Mal nur Unbehagen eingeflößt, so erfüllte er sie jetzt mit nackter Angst. Der Tank war gewaltig, und trotz seiner unbestreitbaren technischen Eleganz hatte er etwas Düsteres an sich. Alles in ihr krampfte sich bei dem bloßen Gedanken zusammen, sich in dieses Ding legen zu sollen.

»Fangen Sie an«, sagte Stone noch einmal. »Und keine Tricks. Ich passe genau auf, dass sie beide Apparate gleich programmieren. Und dann werfe ich eine Münze, um zu entscheiden, in welchem Sie Platz nehmen dürfen, Captain.«

Charity ballte hilflos die Fäuste. Stones Wahnsinn hatte Methode.

Er war verrückt, aber nicht dumm.

Unsicher machte sie sich an die Aufgabe, das elektronische Herz des Kälteschlaftanks zu programmieren, sehr langsam und von nichts als der fast panischen Furcht erfüllt, einen Fehler zu begehen. Eine entsetzliche Vision stieg vor ihrem inneren Auge auf: Sie sah sich selbst, hilflos in einen der gewaltigen Stahlsärge eingesperrt, bei vollem Bewusstsein, aber sterbend, durch irgendeinen dummen Programmierfehler, ein Zittern ihrer Hände, einen qualvollen, tage, vielleicht wochenlangen Tod sterbend. Sie verscheuchte die Vision.

»Wie lange wollen Sie schlafen, Lieutenant?« fragte sie.

»So lange es geht«, antwortete Stone. »Stellen Sie die maximale Laufzeit ein.«

Charity sah auf. »Das können hundert Jahre sein«, sagte sie vorsichtig. Oder tausend. Diese Anlagen waren so gut wie unzerstörbar. Aber das sprach sie nicht aus.

»Um so besser«, sagte Stone. »Los! Tun Sie, was ich gesagt habe.«

Sie gehorchte. Als sie fertig war, winkte Stone sie zurück, warf einen kurzen, aber sehr aufmerksamen Blick auf die Kontrollen am Kopfende des Tanks und deutete auf den Stahlsarg daneben. »Jetzt den.«

Sie brauchte zehn Minuten, um auch den zweiten Computer zu programmieren, und Stone wiederholte die Prozedur - er scheuchte sie zurück und betrachtete das komplizierte Schaltpult. Dann ging er zwischen den Tanks hin und her, offensichtlich, um die beiden Anlagen zu vergleichen. Verdammter Narr, dachte Charity.

»Scheint in Ordnung zu sein«, sagte Stone schließlich. »Jetzt fragt sich nur noch, was Sie wirklich getan haben, Captain.« Er lächelte flüchtig. »Nicht, dass Sie mich für einen kompletten Idioten halten, Laird. Ich bin ziemlich sicher, dass Sie das Ding so programmieren können, dass ich nie wieder aufwache. Haben Sie es getan?«

»Ich bin kein Mörder«, antwortete Charity.

»Ich weiß.« Stone deutete mit einer Geste auf den Tank, den sie als erstes eingeschaltet hatte. »Nach Ihnen, Captain.«

Charity zögerte. Sie hatte Angst. Schreckliche Angst.

Aber schließlich setzte sie sich doch in Bewegung. Langsam trat sie auf den gewaltigen Stahlzylinder zu, berührte die rote Taste an seinem Kopfende und trat zurück, als der Deckel lautlos auseinander klappte. Das Innere des Tanks war winzig, verglichen mit seinem klobigen Äußeren - eine schmale, mit weichem Schaumgummi ausgeschlagene Röhre, in deren rechter Seite eine Anzahl kleiner Kontrollinstrumente und Anschlüsse untergebracht waren. Eine Lampe verbreitete gelbes, gedämpftes Licht. Sie schauderte.

Es war kein Tank, es war ein Sarg. Sie würde wahnsinnig werden, wenn sie auch nur eine einzige Minute darin verbringen musste.

»Gehen Sie«, sagte Stone noch einmal.

Langsam kletterte sie in den Tank, streckte sich auf dem weichen Schaumgummipolster aus und griff mit zitternden Händen nach einem kleinen Metallring, der neben ihr an der Wand hing. Ein Dutzend dünner verschiedenfarbiger Drähte verband ihn mit dem Computer tief im Inneren des Tanks. Sie spürte, wie sich eine Anzahl winziger spitzer Nadeln in ihre Haut senkten, als sie den Ring über ihr linkes Handgelenk streifte und schloss.

Stone beugte sich über sie. Er beobachtete sehr aufmerksam, was sie tat. Und Charity flehte lautlos, dass es richtig war. Großer Gott, man hatte es ihr zehnmal erklärt, aber ihr Gehirn war wie leergefegt. Es war, als hätte sie alles vergessen, was sie jemals gelernt hatte!

»Viel Glück, Captain Laird«, sagte Stone leise. Und fügte hinzu: »Das mit Ihrem Arm tut mir leid. Aber ich musste es tun, das verstehen Sie doch, oder?«

»Ja«, antwortete Charity. »Ich verstehe es.«

Sie wollte noch mehr sagen, aber alle Worte erschienen ihr plötzlich so sinnlos und überflüssig. Rasch griff sie mit der freien Hand nach der durchsichtigen Sauerstoffmaske, die von der Decke hing, stülpte sie über Mund and Nase und spürte, wie sie sich festsaugte. Irgendwo unter ihr begann eine Pumpe zu arbeiten. Die Luft, die ihre Lungen füllte, schmeckte plötzlich bitter.

Sie sah noch, wie Stone zurücktrat und die Hand nach dem roten Schalter ausstreckte, und sie sah auch noch, wie sich der Deckel des gewaltigen stählernen Sarges ganz langsam wieder zu schließen begann, dann griff etwas wie eine warme weiche Hand nach ihren Gedanken, eine Hand, die jeden Schmerz und alle Angst auslöschte.

Sie hatte das Gefühl, in einer unendlich warmen, unendlich wohltuenden Umarmung zu versinken. Und ganz kurz, bevor sie endgültig einschlief, fand sie noch Zeit für einen einzigen Gedanken:

Was würde sie erwarten?

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