In den beiden darauffolgenden Wochen wurde es sehr kalt.
Zuerst kam der Schnee. Eines Morgens, als Charlie sich gerade für die Schule anzog, sanken plötzlich große dicke Flocken vom stahlgrauen Himmel herab.
Am Abend lag der Schnee schon über einen Meter hoch rund um das kleine Holzhaus, und Charlies Vater mußte den Weg von der Haustür zur Straße freischaufeln.
Nach dem Schnee kam eisiger Sturm, der mehrere Tage hintereinander tobte, ohne jemals aufzuhören. Und wie bitterkalt es war! Alles, was Charlie berührte, schien aus Eis zu bestehen, und jedesmal, wenn er vor die Tür trat, traf ihn der Wind wie ein Messerstich.
Eiskalte Luft drang durch alle Fensterritzen und Türen in das kleine Haus ein, und es gab drinnen keine einzige Stelle, an der es nicht ständig zog. Die vier alten Großeltern lagen stumm und zusammengekrümmt im Bett. Die Aufregung um die Goldenen Eintrittskarten war längst vergessen. In Charlies Familie dachte niemand mehr an etwas anderes als daran, wie sie sich wärmen und genug zu essen beschaffen sollten.
Bei großer Kälte bekommt man leider meistens sehr großen Hunger. Man denkt viel öfter als sonst an köstliche dampfende Fleischsuppen und heißen Apfelstrudel und andere gute Sachen, die einen von innen aufwärmen. Und meistens bekommen wir auch, was wir uns wünschen - und wissen gar nicht, wie gut es uns geht. Aber Charlie bekam niemals, was er sich wünschte. Seine Eltern waren dafür zu arm, und je länger die Kälte dauerte, um so hungriger wurde er. Die beiden Tafeln Schokolade - die vom Geburtstag und die zweite, die Großvater Josef gekauft hatte - waren längst aufgeknabbert, und Charlie bekam nur dreimal am Tag wäßrigen Kohl.
Dann wurde die wäßrige Kohlsuppe noch dünner, denn die Zahnpastafabrik machte plötzlich Pleite und mußte von einem Tag zum andern schließen. Natürlich versuchte Charlies Vater sofort, eine andere Arbeit zu finden, aber er hatte kein Glück. Er konnte sich nur mit Schneeschaufeln auf den Straßen ein bißchen Geld verdienen. Und das reichte nicht, um auch nur ein Viertel der Lebensmittel zu kaufen, die sieben Menschen brauchten. Die Lage war wirklich verzweifelt. Zum Frühstück gab es jetzt für jeden nur noch eine einzige Scheibe Brot und mittags oft nur eine gekochte Kartoffel. Wenn das so weiterging, würden sie am Ende wirklich verhungern.
Und jeden Tag mußte der kleine Charlie auf dem Weg zur Schule an Herrn Wonkas Schokoladenfabrik vorbei. Und jedesmal reckte er seine kleine, spitze Nase in die Luft und atmete den herrlichen Schokoladenduft tief ein. Manchmal blieb er ein paar Minuten lang regungslos vor dem großen eisernen Tor stehen und schluckte die gute Luft herunter, als könnte er davon satt werden. An einem eiskalten Morgen steckte Großvater Josef den Kopf unter der Decke hervor und sagte: «Das Kind muß mehr zu essen bekommen. Für uns Alte ist es nicht schlimm, wenn wir hungern müssen... Aber ein Junge, der noch wächst! So geht das nicht weiter! Er sieht schon klapperdürr aus!»
«Wir können gar nichts tun», murmelte Großmutter Josefine unglücklich. «Er weigert sich, etwas von unserer Portion zu essen. Wie ich höre, wollte seine Mutter ihm heute morgen ihre Scheibe Brot auf den Teller legen, aber er hat das Brot nicht angerührt und darauf bestanden, daß sie es selber aß.»
«Es ist ein lieber kleiner Kerl, und er hat etwas Besseres verdient als dieses Leben», sagte Großvater Georg.
Das grausam kalte Wetter hielt an.
Charlie wurde jeden Tag magerer. Sein Gesicht war erschreckend blaß und spitz. Die Haut spannte sich so straff und durchsichtig über den Wangen, daß man die Form der Knochen darunter sah. Wenn das so weiterging, würde er bald krank werden und sogar in Lebensgefahr schweben.
Um seine Kräfte zu schonen, ging Charlie morgens zehn Minuten früher aus dem Haus, damit er langsam zur Schule gehen konnte und nicht rennen mußte. In den Pausen blieb er in der warmen Klasse sitzen und ruhte sich aus, während die anderen Kinder draußen herumtobten und Schneeballschlachten machten. Er bewegte sich nur noch ganz langsam und vorsichtig. Er war sonst zu schnell erschöpft.
Eines Nachmittags, als Charlie durch den eisigen Wind von der Schule nach Hause ging und der Hunger ihn schlimmer quälte als je zuvor, fiel sein Blick plötzlich auf ein Stück Papier, das im Rinnstein im Schnee lag. Das Papier war grünlich und kam Charlie irgendwie bekannt vor. Er trat vom Bürgersteig herunter und bückte sich, um es sich näher anzusehen. Es steckte halb im Schnee, aber Charlie sah trotzdem sofort, was es war... Es war eine Dollarnote!
Charlie sah sich schnell um.
Hatte jemand den Geldschein gerade verloren?
Nein, das war unmöglich, weil er ja halb im Schnee vergraben lag. Die Leute hasteten vorbei, die Hände in den
Taschen, den Mantelkragen hochgeschlagen, und ihre Schritte knirschten im Schnee. Niemand sah sich suchend nach einem verlorenen Geldschein um. Niemand achtete auf den kleinen Jungen, der im Rinnstein hockte.
Gehörte dieser Dollar also ihm?
Durfte er ihn nehmen?
Charlie zog den Geldschein vorsichtig aus dem Schnee. Er war feucht und schmutzig, aber sonst ganz in Ordnung.
EIN GANZER DOLLAR!
Charlie umklammerte das Geld mit seinen verfrorenen Fingern und starrte darauf. Er hatte nur einen einzigen Gedanken im Kopf. Mit diesem Dollar konnte er sich ETWAS ZUM ESSEN KAUFEN.
Charlie wandte sich um und steuerte auf den nächsten Laden zu. Er brauchte nur ein paar Schritte über den Bürgersteig zu gehen. Dort war ein Laden, der Zeitungen und Schreibpapier und allen möglichen Krimskrams verkaufte, darunter Süßigkeiten und Tabakwaren. Charlie wollte sich eine schöne Tafel Schokolade kaufen und sie sofort bis auf den letzten Krümel aufessen, gleich hier. Und dann wollte er schnurstracks nach Hause gehen und den Rest des Geldes seiner Mutter geben.