Charlie schoß durch die Haustür und schrie: «Mutter... Mutter... Mutter...!»
Seine Mutter war gerade im Zimmer der Großeltern und brachte ihnen die Abendsuppe.
«Mutter!» Charlie stürzte wie ein Wirbelwind ins Zimmer. «Hier! Ich hab sie... ich hab sie... Da, sieh mal! Die letzte Goldene Eintrittskarte! Sie gehört mir! Ich habe Geld gefunden, und ich habe mir zwei Tafeln Schokolade gekauft, weil ich solchen Hunger hatte, und in der zweiten Tafel war die Goldene Eintrittskarte, und dann sind alle Leute in den Laden gekommen und wollten sie sehen, und der Ladenbesitzer hat mir rausgeholfen, und dann bin ich den ganzen Weg bis nach Hause gerannt, und hier bin ich! Das ist die fünfte Goldene Eintrittskarte, UND ICH HABE SIE GEFUNDEN!» Charlies Mutter stand wie erstarrt da. Die vier Großeltern, die aufrecht im Bett saßen und ihre Suppenteller auf den Knien hielten, ließen alle miteinander klappernd die Löffel fallen und drückten sich stocksteif in ihre Kissen.
Etwa zehn Sekunden lang herrschte völlige Stille im Raum. Niemand wagte zu sprechen oder sich zu bewegen. Es war wie ein Zauber. Dann sagte Großvater Josef ganz leise: «Du machst Witze, nicht wahr, Charlie?»
«Nein!» schrie Charlie, sprang zum Bett und hielt Großvater Josef die schöne große Goldene Eintrittskarte hin.
Großvater Josef beugte sich so weit vor, daß er beinahe mit der Nase auf die Goldene Eintrittskarte stieß. Die anderen beobachteten ihn gespannt und warteten auf sein Urteil.
Dann hob Großvater Josef langsam den Kopf, schaute Charlie an, und ein strahlendes Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. Seine Wangen röteten sich, seine Augen wurden riesengroß und blitzten vor Freude und Aufregung. Der alte Mann holte tief Luft, und plötzlich, ohne jede Warnung, schien etwas in ihm zu explodieren. Er warf die Arme in die Luft und schrie: «Huuuuuuuuurrrrrraaaaaaaaaaaaaaaa!» Seine lange, knochige Gestalt richtete sich hoch auf, sein Suppenteller flog Großmutter Josefine ins Gesicht, und mit einem gewaltigen Satz sprang der alte Mann von über sechsundneunzig Jahren aus dem Bett und veranstaltete im Nachthemd einen Freudentanz. Dabei war er seit zwanzig Jahren nicht mehr aufgestanden.
«Huuurrrraaaa!» schrie er. «Dreimal Hurra für Charlie! Hoch soll er leben, hurra!»
Die Tür öffnete sich, und Charlies Vater kam herein. Man sah ihm an, wie müde und verfroren er war. Er hatte den ganzen Tag lang in der Stadt Schnee geschaufelt.
«Was ist denn hier los? Seid ihr übergeschnappt?» rief er.
Sie brauchten nicht lange, um ihm alles zu erzählen.
«Das glaube ich nicht», sagte Charlies Vater. «So etwas ist einfach unmöglich.»
«Zeig ihm die Eintrittskarte, Charlie!» rief Großvater Josef, der immer noch wie ein Derwisch in seinem Nachthemd herumtanzte. «Zeig deinem Vater die fünfte und letzte Goldene Eintrittskarte auf der Welt!»
«Ja, zeig sie mir», sagte Charlies Vater und ließ sich auf einen Stuhl sinken. Charlie gab ihm das kostbare Dokument.
Die Goldene Eintrittskarte war wunderschön. Sie schien tatsächlich aus schierem Gold zu bestehen, das so dünn wie Papier ausgewalzt worden war. Auf die eine Seite war in pechschwarzen Buchstaben Herrn Wonkas Einladung gedruckt.
«Lies uns alles ganz genau vor», bat Großvater Josef und kletterte endlich wieder ins Bett.
Charlies Vater hielt sich die schöne Goldene Eintrittskarte dicht vor die Augen. Seine Hände zitterten ein wenig, und er schien ganz überwältigt von der großen Neuigkeit zu sein. Er holte ein paarmal tief Luft. Dann räusperte er sich und sagte: «Also gut, ich lese vor»:
Guten Tag und herzlichen Glückwunsch zu Deiner Goldenen Eintrittskarte!
Viele wunderbare Überraschungen erwarten Dich! Ich lade Dich ein, einen ganzen Tag lang mein Gast zu sein. Ich werde Dich durch meine Fabrik führen und Dir alles zeigen. Nach dem Besuch fährt Dich ein riesengroßer Lastwagen nach Hause, der bis oben hin mit genug Süßigkeiten für ein paar Jahre beladen ist. Wenn Du das alles aufgegessen hast, brauchst Du nur mit Deiner Goldenen Eintrittskarte zu mir zu kommen, und ich gebe Dir alle Schleckereien, die Du nur haben willst, Dein ganzes Leben lang. Aber das ist noch längst nicht die größte Überraschung, die Dich bei mir erwartet. Du kannst Dir nicht einmal im Traum die phantastischen, fabulösen, geheimnisvollen, unglaublichen Dinge vorstellen, die Du bei mir sehen und erleben wirst. Ich erwarte Dich am 1. Februar Punkt zehn Uhr am Fabriktor. Komm keine Minute zu spät! Du darfst Deine Eltern mitbringen oder sonst jemanden aus Deiner Familie, der auf Dich aufpaßt und dafür sorgt, daß Du nichts anstellst. Und vergiß Deine Goldene Eintrittskarte nicht, denn sonst darfst Du nicht herein.
Willy Wonka
«Der 1. Februar... das ist morgen!» rief Charlies Mutter. «Heute ist doch der 31.Januar, nicht wahr?»
«Tatsächlich!» rief Charlies Vater. «Ich glaube, du hast recht!»
«Du hast die Eintrittskarte gerade noch rechtzeitig gefunden!» rief Großvater Josef. «Und jetzt dürfen wir keine Minute verlieren! Du mußt sofort mit den Vorbereitungen beginnen! Du mußt dir das Gesicht waschen, die Haare kämmen, die Hände schrubben, die Zähne bürsten, die Nase putzen, die Fingernägel schneiden, die Schuhe putzen, das Hemd bügeln und vor allem den Schmutz von den Hosen bürsten! Mach dich fertig, mein Junge! Du mußt dich für den großen Tag deines Lebens vorbereiten!»
«Reg dich nicht so auf, Großvater!» sagte Charlies Mutter. «Und bring den armen Jungen nicht durcheinander. Wir müssen versuchen, ganz ruhig zu bleiben. Und zuallererst müssen wir uns überlegen... wer geht mit Charlie in die Fabrik?»
«Ich!» rief Großvater Josef und sprang wieder aus dem Bett. «Ich begleite ihn! Ich passe auf ihn auf! Überlaßt das alles nur mir!»
Charlies Mutter lächelte Großvater Josef an, dann wandte sie sich an Charlies Vater: «Meinst du nicht, daß du auch mitgehen solltest, mein Lieber?»
«Hmmm...» machte Charlies Vater und überlegte einen Augenblick. «Nein... ich glaube nicht, daß ich mitgehen sollte.»
«Aber du mußt.»
«Warum, meine Liebe?» antwortete Charlies Vater freundlich. «Natürlich würde ich sehr gern mitgehen. Es wird bestimmt interessant. Aber ich finde, Großvater Josef hat es am meisten verdient, denn er weiß schon jetzt mehr von der Schokoladenfabrik als wir alle miteinander. Er soll natürlich nur mitgehen, wenn er sich ganz wohl fühlt...»
«Hurra!» schrie Großvater Josef, packte Charlie bei den Händen und tanzte mit ihm durchs Zimmer.
«Er scheint sich wirklich wohl zu fühlen», sagte Charlies Mutter lachend. «Ich glaube, du hast recht. Am besten ist, wenn Großvater Josef mitgeht. Ich kann ganz bestimmt nicht mit und die alten Leute den ganzen Tag lang allein lassen.»
«Herrlich, herrlich!» brüllte Großvater Josef. «Dem Himmel sei Dank!»
In diesem Augenblick klopfte es laut an der Haustür. Charlies Vater öffnete, und im nächsten Augenblick drängte ein Schwarm von Reportern und Fotografen ins Haus. Sie hatten den glücklichen Finder der fünften Eintrittskarte aufgestöbert, und jetzt wollten sie alles ganz genau wissen, um am Morgen eine große Geschichte darüber auf der ersten Seite ihrer Zeitung zu bringen. Stundenlang herrschte völliges Chaos in dem kleinen Haus, und es muß fast Mitternacht gewesen sein, als Herr Bucket die Zeitungsleute endlich los wurde und Charlie schlafen gehen konnte.