11. Das Wunder

Charlie betrat den Laden und legte die feuchte Dollarnote auf die Theke.

«Eine Tafel Schokolade bitte - Wonkas Wunder-Weich-

Creme-Füllung», sagte er, denn er dachte daran, wie gut ihm seine Geburtstags-Schokolade geschmeckt hatte.

Der Mann hinter dem Tresen war dick und wohlgenährt. Er hatte volle Lippen und rosige Backen und einen kurzen Hals, der über dem Hemdkragen wie ein Gummiring hervorquoll. Er drehte sich um, nahm eine Tafel Schokolade aus dem Regal und gab sie Charlie. Charlie riß das Papier auf und machte einen Riesenbissen. Und noch einen... und noch einen... Oh, was für eine Wohltat, sich den Mund mit süßer Schokolade, mit etwas Festem und Nahrhaftem vollzustopfen!

«Na, das scheint dir ja zu schmecken», sagte der Ladenbesitzer freundlich.

Charlie nickte nur. Er hatte den ganzen Mund voll Schokolade. Der Ladenbesitzer legte das Wechselgeld auf die Theke. «Langsam, laß dir Zeit, mein Junge. Du kriegst Bauchweh, wenn du die Schokolade hinunterschlingst, ohne zu kauen», sagte er.

Aber Charlie konnte nicht langsam essen. Er verschlang die ganze Tafel in kaum einer halben Minute. Danach war er ganz außer Atem, aber auch so glücklich wie schon sehr lange nicht mehr. Er streckte die Hand aus, um das Wechselgeld zu nehmen. Plötzlich hielt er inne. Charlie war gerade groß genug, um auf den Tresen sehen zu können. Er starrte auf die kleinen Silbermünzen... neun silberne Zehn-Cent-Münzen. Sicher machte es nichts aus, wenn er noch eine davon ausgab... nur eine einzige?

«Ich glaube... ich nehme noch eine Tafel Schokolade», sagte er leise. «Die gleiche Sorte wie eben, bitte.»

«Warum nicht?» Der dicke Ladenbesitzer griff wieder hinter sich und legte noch eine Tafel auf den Tresen.

Charlie riß das Papier auf... und plötzlich... unter dem Papier blitzte ihm etwas Goldenes entgegen.

Charlie glaubte, das Herz bliebe ihm stehen.

«Eine Goldene Eintrittskarte!» rief der dicke Ladenbesitzer und sprang beinahe einen halben Meter hoch in die Luft. «Du hast die letzte Goldene Eintrittskarte erwischt! Nein, so was! Nun seht euch das einmal an, alle miteinander! Der Junge hat Wonkas letzte Goldene Eintrittskarte gefunden! Da ist sie! Er hält sie in der Hand!»

Der Ladenbesitzer schrie so, daß draußen die Leute verwundert stehenblieben. «Er hat die letzte Goldene Eintrittskarte gefunden, hier in meinem Laden! Jemand muß sofort bei der Zeitung anrufen und Bescheid sagen. Sei vorsichtig, Junge! Paß auf, daß du die Eintrittskarte nicht beim Auspacken zerreißt! Das Ding ist was wert!»

Nach wenigen Sekunden umringten mindestens zwanzig Leute Charlie, und immer mehr Menschen drängten von der Straße herein. Alle wollten die Goldene Eintrittskarte und den glücklichen Finder sehen.

«Wo ist sie? Halt sie hoch, damit wir sie alle sehen können!» rief jemand.

«Da ist sie! Er hat sie in der Hand! Man sieht das Gold blitzen!» rief ein anderer.

«Ich möchte bloß wissen, wie der das fertiggebracht hat!» schimpfte ein großer Junge ärgerlich. «Ich habe wochenlang jeden Tag zwanzig Tafeln gekauft - alles umsonst!»

«Stellt euch mal die Süßigkeiten vor, die er jetzt sein Leben lang umsonst bekommt!» sagte ein anderer Junge neidisch.

«Er kann's gebrauchen, der arme, magere kleine Kerl», sagte ein junges Mädchen lachend.

Charlie hatte sich noch nicht von der Stelle gerührt. Er hatte nicht einmal die Schokolade ganz ausgepackt und die Goldene Eintrittskarte herausgenommen. Er stand einfach nur da und hielt seine Schokolade mit beiden Händen fest, während die Menge um ihn herum schob und schrie und mit den Armen herumfuchtelte. Charlie war völlig benommen. Ein eigenartiges, schwebendes Gefühl überkam ihn, als würde er gleich wie ein Ballon in die Luft aufsteigen. Seine Füße schienen den festen Boden nicht mehr zu berühren. Das Herz schlug ihm bis zum Halse.

Da wurde ihm bewußt, daß eine Hand leicht auf seiner Schulter lag, und er sah auf. Ein großer Mann stand neben ihm, beugte sich über ihn und flüsterte: «Hör zu, ich kaufe dir die Eintrittskarte ab. Ich gebe dir fünfundzwanzig Dollar dafür. Was sagst du dazu? Und auch noch ein neues Fahrrad. Einverstanden?»

«Sind Sie verrückt?» schrie eine Frau, die ebenfalls dicht neben Charlie stand. «Ich würde ihm fünfhundert Dollar für diese Eintrittskarte geben! Verkaufst du sie für fünfhundert Dollar, junger Mann?»

«Jetzt reicht's aber!» brüllte der dicke Ladenbesitzer, schob sich durch die Menge und nahm Charlie energisch beim Arm. «Laßt den Jungen in Ruhe! Platz da, laßt ihn hinaus!» Er bahnte Charlie einen Weg zur Tür und flüsterte ihm zu: «Lauf lieber schnell nach Hause, ehe jemand an das Ding rankommt. Renn den ganzen Weg, und bleib nicht stehen, bis du glücklich zu Hause angelangt bist. Verstanden?»

Charlie nickte.

«Weißt du was?» Der Ladenbesitzer sah Charlie lächelnd an. «Ich habe das Gefühl, du kannst dieses Glück brauchen. Ich freue mich, daß du die letzte Eintrittskarte erwischt hast. Alles Gute, mein Junge!»

«Vielen Dank!» sagte Charlie, und dann rannte er los, so schnell ihn seine Beine tragen konnten. Als er an Herrn Wonkas Schokoladenfabrik vorbeirannte, winkte er und rief: «Ich komme dich besuchen, ich komme dich besuchen, bald!» Fünf Minuten später war Charlie zu Hause.

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