18. Den Schokoladenfluß hinab

«Jetzt geht's weiter zum nächsten Raum!» rief Herr Wonka. «Und macht euch bitte keine Sorgen um Augustus Glupsch. Er wird schon wieder zum Vorschein kommen. So, und den nächsten Teil der Besichtigungstour machen wir per Schiff. Da kommt es schon!»

Dunstschwaden stiegen von dem warmen Schokoladenfluß auf, und aus dem Dunst näherte sich plötzlich ein phantastisches rosa Boot... ein großes, offenes Ruderboot mit einem hohen Bug und einem hohen Heck, das den Schiffen der alten Wikinger ähnelte. Es glänzte und glitzerte, als ob es aus leuchtendrosa Glas bestünde. Zu beiden Seiten ragten zahlreiche Ruder heraus, und als das Boot näher kam, erkannten die Zuschauer am Ufer, daß die Ruder von lauter Umpa-Lumpas betätigt wurden - mindestens zehn hockten an jedem Ruder.

«Das ist meine Privatjacht!» Herr Wonka strahlte vor Vergnügen. «Ich habe sie aus einem einzigen riesigen rosa Bonbon ausgehöhlt. Ist sie nicht hübsch? Und schaut mal, wie sie die Wellen durchschneidet!»

Die rosa Bonbonjacht glitt ans Ufer. Einhundert Umpa-Lumpas zogen die Ruder ein und starrten zu den Besuchern hinauf. Aus irgendeinem Grund, den nur sie allein kannten, brachen sie plötzlich alle miteinander in schrilles Gelächter aus. «Was ist los?» fragte Violetta Beauregarde.

«Nichts», sagte Herr Wonka. «Die Umpa-Lumpas finden immer alles komisch und lachen dauernd. Steigt ein, alle miteinander, und beeilt euch ein bißchen!»

Sobald alle Platz genommen hatten, stießen die Umpa-

Lumpas das Boot vom Ufer ab und ruderten schnell den Fluß hinab.

«He, Micky Schießer! Leck nicht an meiner Jacht, bitte. Sie wird sonst klebrig», rief Herr Wonka.

«Papa, ich will auch so eine Jacht haben!» sagte Veruschka Salz. «Genau so eine wie die hier von Herrn Wonka, aus rosa Bonbon. Und ich will einen Haufen Umpa-Lumpas haben, damit sie mich herumrudern. Ich will einen Schokoladenfluß haben und...»

«Eine anständige Tracht Prügel wäre das richtige für sie!» flüsterte Großvater Josef Charlie zu. Sie saßen nebeneinander hinten im Heck. Charlie hielt Großvaters knochige alte Hand fest umklammert. Alles, was er bis jetzt gesehen hatte - der Schokoladenfluß, der Wasserfall, die Röhren, die Zuckerwiese, die Umpa-Lumpas, das schöne rosa Schiff und vor allem Herr Wonka selbst -, war so erstaunlich, daß er sich fragte, ob es nach alldem wirklich noch immer neue Überraschungen geben konnte. Wohin fuhren sie jetzt? Was sollten sie jetzt zu sehen bekommen? Und was, um Himmels willen, würde im nächsten Raum passieren?

«Herrlich, nicht?» sagte Großvater Josef und lächelte Charlie zu.

Charlie nickte nur und lächelte auch.

Herr Wonka saß auf der anderen Seite neben Charlie. Plötzlich bückte er sich, holte von irgendwo am Boden des

Bootes einen großen Becher hervor, füllte ihn im Fluß mit Schokolade und gab ihn Charlie.

«Hier, trink. Das wird dir guttun. Du siehst ja halb verhungert aus, mein Junge.»

Charlie setzte den Becher vorsichtig an die Lippen und trank langsam. Er spürte, wie die warme, sahnige Schokolade in seinen leeren Magen lief, und das wunderbare Gefühl der Sättigung schien sich in seinem ganzen Körper auszubreiten, vom Kopf bis zu den Zehenspitzen. Charlie war selig.

«Schmeckt es dir?» fragte Herr Wonka.

«O ja, herrlich!» sagte Charlie. «Vielen Dank, Herr Wonka.»

Herr Wonka füllte den Becher noch einmal und gab ihn Großvater Josef. «Trinken Sie auch. Sie sehen klapperdürr aus. Was ist los? Hat es bei Ihnen zu Hause in der letzten Zeit nichts zu essen gegeben?»

«Nicht viel.» Großvater Josef trank und leckte sich die Lippen. «Das ist die beste, sahnigste Schokolade, die ich je im Leben getrunken habe!»

«Sie wird nur so sahnig, weil sie von unserem großen Mixer, dem Wasserfall, gerührt wird», erklärte Herr Wonka.

Das Boot glitt sehr schnell den Fluß hinab, der immer schmaler wurde. Eine dunkle Tunnelöffnung tauchte vor ihnen auf... ein großer runder Tunnel, der wie eine riesige Röhre aussah... und der Fluß verschwand darin. Das Boot ebenfalls!

«Schneller!» befahl Herr Wonka, sprang auf und fuchtelte mit dem Spazierstock herum. «Mit voller Kraft voraus!» Die Umpa-Lumpas legten sich in die Riemen, das Boot schoß in den pechschwarzen Tunnel, und alle Passagiere quietschten vor Schreck.

«Wie können sie sehen, wohin sie rudern?» rief Violetta Beauregarde in der Dunkelheit.

«Sie sehen es nicht! Sie rudern einfach so!» antwortete Herr Wonka und brüllte vor Lachen. Dann sang er:

«Hier ist niemand, der versteht,

wohin diese Reise geht,

und zum Fragen ist's zu spät -

wie ihr wohl inzwischen seht -

da kein Lichtstrahl mehr verrät,

ob man sich im Kreise dreht!

Wenn man sich das eingesteht,

ist es besser, man verrät, daß man einfach nicht versteht,

wohin...»


«Er ist übergeschnappt!» schrie ein Vater entsetzt, und die anderen Eltern stießen ebenfalls erschreckte Schreie aus. «Er ist verrückt!» «Bekloppt!» «Besoffen!»

«Er hat einen Dachschaden!»

«Einen Vogel!»

«Einen Sonnenstich!»

«Bei ihm sind alle Schrauben los!»

«Er ist durchgedreht.»

«Er ist wahnsinnig geworden.»

«Nein, ist er nicht!» sagte Großvater Josef.

«Licht an!» schrie Herr Wonka.

Lichter flammten auf, und der ganze Tunnel war plötzlich strahlend hell beleuchtet. Charlie erkannte, daß das Boot tatsächlich durch eine riesige Röhre schwamm, deren runde Wände schneeweiß und sauber glänzten. Der braune Schokoladenfluß strömte sehr schnell durch die Röhre. Die Umpa-Lumpas ruderten wie verrückt, und das Boot schoß in wildem Tempo dahin. Herr Wonka hopste im Heck auf und ab und trieb die Umpa-Lumpas an, immer noch schneller zu rudern. Es machte ihm offensichtlich einen Heidenspaß, in einem rosa Bonbonboot auf einem braunen Schokoladenfluß durch einen weißen Tunnel zu sausen. Er lachte und klatschte in die Hände und warf immer wieder einen Blick auf seine Gäste, um zu sehen, ob sie sich genauso großartig amüsierten wie er.

«Sieh mal, Großvater! Da ist eine Tür in der Tunnelwand!» rief Charlie.

Dicht über dem Schokoladenfluß war tatsächlich eine grüne Tür in der Tunnelwand. Im Vorbeifahren konnten sie gerade noch das Schild darauf lesen:

LAGERRAUM NUMMER 54...

SÄMTLICHE CREMES SAHNE-CREME, VEILCHEN-CREME, KAFFEE-CREME...

ANANAS-CREME... VANILLE-CREME... NOUGAT-CREME... HAAR-CREME...

«Haarcreme?!» schrie Micky Schießer. «Füllen Sie Ihre Schokolade mit Haarcreme?»

«Schneller rudern!» rief Herr Wonka. «Wir haben jetzt nicht die Zeit, dumme Fragen zu beantworten.»

Das Boot flog an einer schwarzen Tür vorbei.

LAGERRAUM NUMMER 71...

SCHLAFRÖCKE... SÄMTLICHE GRÖSSEN

«Schlafröcke!» rief Veruschka Salz. «Wozu brauchen Sie Schlafröcke? Für die Umpa-Lumpas etwa...? Hi... hi!»

«Nein, für die Äpfel, natürlich. Äpfel tragen niemals etwas anderes als einen Schlafrock. Wußtest du das etwa nicht?» antwortete Herr Wonka. «Schneller rudern, bitte!»

Auf einer gelben Tür stand:

LAGERRAUM NUMMER 77... SÄMTLICHE

BOHNENSORTEN KAKAO-BOHNEN... KAFFEE-BOHNEN...

SOJA-BOHNEN...

WEISSE BOHNEN... BOHNEN FÜR DIE OHREN...

«Wo gibt's denn so was!» rief Violetta Beauregarde.

«Oh, das wirst du doch wohl wissen! Hast du nie Bohnen in den Ohren? Schneller rudern, bitte! Wir haben keine Zeit für lange Debatten!»

Aber fünf Sekunden später kam eine leuchtendrote Tür in Sicht, und Herr Wonka hob seinen Spazierstock mit dem goldenen Knauf und kommandierte: «Haaaalt!»

Загрузка...