21. Auf Wiedersehen, Violetta

«Dieser Kaugummi ist meine neueste, meine größte, meine faszinierendste Erfindung!» fuhr Herr Wonka fort. «Es ist eine Kaugummi-Mahlzeit! Es ist... es ist... es ist... also, dieses winzig kleine Stückchen Kaugummi ist eine ganze Mahlzeit mit drei Gängen!»

«So ein Unsinn!» knurrte einer der Väter.

«Mein Herr, dieser Kaugummi wird die Welt verändern, wenn ich ihn erst in den Geschäften verkaufe! Dieser Kaugummi bedeutet das Ende aller Küchen und aller Kocherei! Man braucht nicht mehr auf den Markt zu gehen und einzukaufen und Lebensmittel nach Hause zu schleppen! Es gibt keine Messer und Gabeln mehr, keine Teller, keinen Abwasch, keinen Abfall, kein Durcheinander in der Küche mehr! Bloß noch ein kleines Stückchen Wonkas ZauberKaugummi, mehr braucht man nicht zum Frühstück, Mittagessen und Abendbrot! Dieses Stück Kaugummi hier, das ich da gerade fabriziert habe, ist Tomatensuppe, Rinderbraten und Blaubeerkuchen, aber natürlich kann ich praktisch jedes Gericht, das ihr haben wollt, machen.»

«Wie meinen Sie das... Tomatensuppe, Rinderbraten und Blaubeerkuchen?» fragte Violetta Beauregarde.

«Wenn du diesen Kaugummi kaust, ist es genauso, als äßest du diese Sachen richtig», erklärte Herr Wonka. «Es ist einfach phantastisch! Du fühlst geradezu, wie du das Essen hinunterschluckst! Du schmeckst es regelrecht! Und du wirst sogar richtig satt davon!»

«So etwas ist unmöglich», sagte Veruschka Salz.

«Es ist genau das richtige für mich. Hauptsache, es ist Kaugummi, auf dem ich rumkauen kann!» Violetta Beauregarde klaubte sich ohne Zögern ihren Weltrekord-Kaugummi aus den Zähnen und klebte ihn sich hinters Ohr. «Herr Wonka», sagte sie, «darf ich Ihren Zauber-Kaugummi mal probieren? Dann sehen wir ja, was damit los ist.»

«Violetta, laß den Unsinn», sagte ihre Mutter.

«Wieso Unsinn? Ich will den Kaugummi ausprobieren!» sagte Violetta hartnäckig.

«Mir wäre es lieber, du würdest ihn nicht probieren», sagte Herr Wonka freundlich. «Er ist noch nicht ganz so, wie ich ihn haben möchte. Es müssen noch ein paar Kleinigkeiten daran verbessert werden...»

«Ach, Quatsch!» sagte Violetta. Und ehe Herr Wonka sie daran hindern konnte, nahm sie blitzschnell den Kaugummi aus der kleinen Schublade und steckte ihn sich in den Mund, und ihre kräftigen, gut trainierten Kiefer mahlten sofort los.

«Nein! Nicht!» sagte Herr Wonka.

«Phantastisch!» sagte Violetta mit vollem Mund. «Es ist tatsächlich Tomatensuppe! Heiß und sahnig. Köstlich! Ich fühle, wie sie mir die Kehle hinunterrinnt!»

«Hör auf! Der Kaugummi ist noch nicht fertig entwickelt! Er muß noch verbessert werden!» sagte Herr Wonka.

«An der Suppe kann nichts mehr verbessert werden! Sie ist einfach toll!» antwortete Violetta.

«Spuck den Kaugummi aus!» sagte Herr Wonka.

«Jetzt verändert sich der Geschmack! Jetzt kommt der zweite Gang dran!» verkündete Violetta. Sie kaute und grinste zugleich über das ganze Gesicht. «Der Rinderbraten ist zart und saftig, und es gibt Pommes frites dazu! Hmmm... guuuut!»

«Wie interessant! Du bist ein gescheites Mädchen, Violetta», sagte Frau Beauregarde.

«Kau weiter, kau weiter, Liebes! Heute ist ein großer Tag für die Familie Beauregarde! Unsere Violetta ist der erste Mensch auf der Welt, der eine komplette Kaugummi-Mahlzeit zu sich nimmt!» sagte Herr Beauregarde.

Alle standen stumm da und sahen zu, wie Violetta den Zauber-Kaugummi kaute. Der kleine Charlie Bucket beobachtete hingerissen, wie Violettas wulstige Lippen sich gleichmäßig bewegten. Großvater Josef, der neben ihm stand, staunte auch. Herr Wonka rang die Hände und sagte immer wieder: «Nein, nein, nein! Der Kaugummi ist noch nicht in Ordnung! Er ist noch nicht fertig zum Essen! Hör lieber auf zu kauen!»

«Blaubeerkuchen mit Schlagsahne!» rief Violetta. «Junge, Junge... einsame Klasse! Genau, als ob ich ihn richtig äße! Genau, als ob ich große Bissen von dem besten Blaubeerkuchen der Welt kaute und runterschluckte!»

«Lieber Himmel, Mädchen! Was ist denn mit deiner Nase los!» rief Frau Beauregarde plötzlich und starrte Violetta an.

«Na, was soll schon sein?» sagte Violetta. «Laß mich nur essen.»

«Sie wird blau! Deine Nase wird so blau wie eine Blaubeere!» schrie Frau Beauregarde.

«Deine ganze Nase ist purpurrot!» sagte Herr Beauregarde.

«Spinnt ihr oder was?» fragte Violetta und kaute unbeirrt weiter.

«Deine Backen... sie werden auch blau! Dein Kinn, dein ganzes Gesicht wird blau!» schrie Frau Beauregarde.

«Spuck sofort den Kaugummi aus!» befahl Herr Beauregarde.

«Hilfe! Erbarmen! Das Mädchen wird überall blau und purpurrot! Sogar ihr Haar! Violetta, du wirst ganz violett! Violetta, was ist los mit dir?!» jammerte Frau Beauregarde.

«Ich habe dir ja gesagt, daß der Kaugummi noch nicht ganz fertig entwickelt ist!» seufzte Herr Wonka und schüttelte betrübt den Kopf.

«Nichts haben Sie gesagt! Aber jetzt schauen Sie sich mal meine Tochter an!»

Alle starrten auf Violetta. Was für ein fürchterlicher Anblick! Gesicht, Hals, Hände, Arme, Beine... ihr ganzer Körper und sogar ihr dichter, lockiger Haarschopf waren jetzt blaurot, genau die Farbe von Blaubeersaft!

«Beim Nachtisch geht es immer schief», seufzte Herr Wonka. «Daran ist der Blaubeerkuchen schuld. Aber eines Tages kriege ich das schon noch hin... Sie werden es erleben.»

«Violetta, du schwillst an!» schrie Frau Beauregarde.

«Mir wird schlecht», sagte Violetta.

«Violetta, du schwillst an!» schrie Frau Beauregarde wieder.

«Mir ist ganz komisch!» keuchte Violetta.

«Das wundert mich nicht!» sagte Herr Beauregarde.

«Lieber Himmel, Mädchen, du blähst dich auf wie ein Luftballon!» kreischte Frau Beauregarde.

«Wie eine Blaubeere!» bemerkte Herr Wonka.

«Rufen Sie einen Arzt!» verlangte Herr Beauregarde.

«Piksen Sie eine Nadel in sie hinein!» schlug ein anderer Vater vor.

«Hilfe! Retten Sie meine Violetta!» Frau Beauregarde rang die Hände.

Doch sie war nicht mehr zu retten. Ihr Körper schwoll jetzt so schnell an, daß Violetta sich binnen einer Minute in einen riesigen runden blauen Ball verwandelte - in eine RiesenBlaubeere. Das einzige, was von Violetta Beauregarde übrigblieb, waren winzige Arme und Beine, die aus der SuperBlaubeere herausragten, und ihr Kopf, der wie ein Stecknadelkopf auf diesem Monstrum von Ballon saß.

«Beim Nachtisch geht es immer schief», sagte Herr Wonka bekümmert. «Zwanzig Umpa-Lumpas haben diesen Kaugummi ausprobiert, und alle zwanzig haben sich in Blaubeeren verwandelt. Sehr peinlich, wirklich! Ich begreife einfach nicht, wie so etwas möglich ist.»

«Aber ich will keine Blaubeere als Tochter haben!» brüllte Frau Beauregarde. «Sorgen Sie auf der Stelle dafür, daß Violetta wieder so aussieht wie vorher!»

Herr Wonka schnalzte mit den Fingern, und sofort tauchten zehn Umpa-Lumpas neben ihm auf.

«Seid so gut und rollt Fräulein Violetta ins Boot und bringt sie sofort in den Saftraum, bitte», sagte Herr Wonka zu ihnen.

«In den Saftraum? Was wollen Sie da mit ihr anfangen?» rief Frau Beauregarde.

«Sie entsaften, natürlich», antwortete Herr Wonka. «Wir müssen sofort den Saft aus ihr herauspressen. Mal sehen, wie sie danach aussieht. Nur keine Sorge, meine liebe Frau Beauregarde. Wir bekommen sie schon wieder hin, und wenn es das letzte ist, was wir auf dieser Welt zustande bringen. Es tut mir sehr leid, wirklich...»

Die zehn kleinen Umpa-Lumpas rollten bereits die riesige Blaubeere zu der Tür, hinter der die rosa Bonbonjacht auf dem braunen Schokoladenfluß wartete. Herr und Frau Beauregarde eilten hinterher. Alle anderen standen noch immer starr und stumm da und schauten ihnen nach.

«Großvater, hör mal!» flüsterte Charlie. «Die Umpa-Lumpas singen wieder!»

Hundert helle Stimmen schallten laut und klar vom Schokoladenfluß herüber:

«Verehrte Freunde, liebe Leute,

es macht wahrhaftig keine Freude,

den kleinen Strolchen zuzuschauen,

die unaufhörlich Gummi kauen.

Das will schon beinah soviel heißen

wie Nasebohren, Nägelbeißen.

Drum sagen wir es geradheraus:

Das Gummikau'n zahlt sich nicht aus.

Zuerst ist es wie Zuckerlecken -

am Ende bleibt man darin stecken.

Es scheint, ihr wißt nicht, was vordem

mit Fräulein Bickeloh geschehen:

Die hatte wirklich Tag und Nacht

kaugummikauend zugebracht.

Sie kaute, wo sie ging und stand,

auf Bergeshöh'n, am Meeresstrand,

sie kaute, wenn sie Bücher las

und wenn sie in der Wanne saß,

ob in der Kirche, im Cafe,

bei Regen, Hagel oder Schnee.

Wenn sie mal keinen Gummi hatte,

dann kaute sie die Kokosmatte,

den rechten Daumen eines Negers,

die Schuhe eines Schornsteinfegers,

und einmal biß sie ihrem Klaus

ein Stückchen aus der Nase raus.

Vom vielen Kauen ward sie schiefer,

gewaltig wuchs ihr Unterkiefer.

Ihr Kinn, das war ihr weit voraus,

sah wie ein Geigenkasten aus.

An jedem Tag verbrauchte sie

an fünfzig Päckchen Kaugummi.

Doch dann stieß Fräulein Bickeloh

ein Unglück zu - und das kam so:

Sie ist um elf zu Bett gegangen

und hat zu lesen angefangen.

Sie las und kaute dabei viel

wie ein nervöses Krokodil,

und als sie schließlich schlafen wollte

und auf die linke Seite rollte,

nahm sie den Kaugummi heraus

und knipste ihre Lampe aus.

Sie schlief auch ein, doch regte sich

der Kiefer und bewegte sich

und klappte auf und klappte ab,

obwohl es nichts zu kauen gab.

Wie schrecklich klirrte das Gebiß

in absoluter Finsternis!

Es schnappte zu mit großem Knalle

wie eine starke Bärenfalle

und öffnete sich wieder weit

mit wachsender Geschwindigkeit,

bis daß der Rachen unverwandt

weit aufgerissen offenstand:

Da lag das Fräulein in den Kissen,

und ihre Zunge war zerbissen!

Sie war und blieb von da an stumm

und kam ins Sanatorium.

Drum trachten wir bei andern Kindern

das Allerschlimmste zu verhindern

und geben uns die größte Mühe,

daß ihnen nicht das gleiche blühe.

Vielleicht geht es noch einmal gut

mit Violettas Übermut!»

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