"Dem einfachen Landser,
auf dessen Rücken von jeher
die Sünden der Politiker ausgetragen wurden,
als Mahnung und ständiger Aufruf
gewidmet."
… Die Lage Ihrer eingekesselten Truppen ist schwer. Sie leiden unter Hunger, Krankheiten und Kälte. Der grimmige russische Winter hat kaum erst begonnen. Starke Fröste, kalte Winde und Schneestürme stehen noch bevor. Ihre Soldaten aber sind nicht mit Winterkleidung versorgt und befinden sich in schweren sanitätswidrigen Verhältnissen.
Sie als Befehlshaber und alle Offiziere der eingekesselten Truppen verstehen ausgezeichnet, daß Sie über keine realen Möglichkeiten verfügen, den Einschließungsring zu durchbrechen. Ihre Lage ist hoffnungslos und weiterer Widerstand sinnlos…
Aus dem Ultimatum Generalleutnants Rokossowskijs an Generaloberst Paulus am 8. Januar 1943.
Pawel Nikolajewitsch Abranow sah hinauf in den Himmel und dann über seine Stiefelspitzen hinweg hinunter zur Wolga und kaute an einem Kanten Brot. Der Himmel war fahl, grau, unergründlich, schwer, und die Wolga schien schwarz zu sein, ein breiter Strom voll Tinte.
Abranow seufzte und benetzte den harten Kanten Brot mit Speichel, damit er aufweichte und sich beißen ließ. Neben ihm lag ein großer Mann in Uniform mit breiten Schulterstücken, unrasiert, dreckig, mit Lehm beschmiert. Auch er sah über die Wolga hinüber nach Krasnaja Sloboda, aber er seufzte nicht, sondern kaute an einer Zigarette. Es war eine gute, dicke Zigarette aus Machorka, gerollt aus einem Teil des vorgestrigen Lageberichts der Prawda.
«Was ist, Väterchen?«fragte der Uniformierte.»Warum seufzt du?«
«Es müßte Winter werden, Genosse Major. Zeit ist's dafür! Ein schneller Winter, hui — wie die Reiter aus der Steppe von Kasachstan! Über Nacht sollte es zufrieren… dann können sie aus der Tiefe zu uns kommen über die Wolga, unsere Panzerchen…«Abranow lachte leise. Es war ein fast wimmerndes Lachen, denn Pawel Nikolajewitsch war immerhin zweiundsiebzig Jahre alt. Ein richtiger Greis war er, so wie man sich einen alten Mann vorstellt, mit weißen Haaren, die sich im Nacken bogen, mit einer dicken Nase, mit Falten um die Augen, deren Pupillen noch glänzten, auch wenn die Augäpfel schon gelb waren wie tabakgebeizte Fingerkuppen. Und ein kräftiger Kerl war er noch, bei Gott… einmal, in seiner Jugend, war er bei der Garde des Zaren, und später stand er in der Fabrik» Roter Oktober «am Eisenhammer und ließ im Funkenregen die Stahlplatten sich biegen. So ein Kerl war er geblieben mit seinen zweiundsiebzig Jahren. Nur wenn er lachte, war es das Kichern eines Greises, ein wenig linkisch und nicht jedermanns Sache.
Major Jewgenij Alexandrowitsch Kubowski tat einen tiefen Zug an seiner dicken Zigarette. Er stieß den Qualm gegen den erdgrauen Himmel und kratzte sich über die linke Wange. Hinter ihnen donnerte und krachte es. Häuser verbrannten und stürzten ein, Keller wurden in die Luft geschleudert, Eisenträger bogen sich wie dünne Drähte, und Menschen zerplatzten, als seien sie aus sprödem Glas. Hinter ihnen war die Hölle aufgebrochen, starb eine Stadt unter Feuer und Explosion, gab es keinen Himmel und keine Erde mehr, sondern nur eine Wolke aus Eisen, Flammen, 5teinen, Staub, Lehm und zerfetzten Leibern. Ob im Norden, dort wo die großen Werke lagen — das Traktorenwerk >Dsershinski<, die Geschützfabrik >Rote Barrikade<, das Hüttenwerk >Roter Oktober< und die Erdölraffinerien — oder im Süden bei den Hafenanlagen, dem Getreidesilo und den Kais, und erst recht im Westen, am Stadtrand, am Tatarenwall und am Mamai-Kurgan, der Höhe 102, lagen die deutschen Divisionen in den Trümmern und Kellern und berannten die wenigen Stützpunkte, in denen sich die Rote Armee festkrallte. Nur hier, wo der Greis Abranow und der lange Major Kubowski lagen, war es still, wie auf einer windstillen Seite. Sie lagen in einer Mulde im Steilufer der Wolga. Nur ein drei Kilometer langer Streifen war es, der sicher war vor allen deutschen Granaten. In diese drei Kilometer Erde hatten sie sich eingewühlt wie die Füchse… Sanitätsbunker, Lagerräume, Küchen, Stäbe, Unterkünfte, Funkstellen… die ganze zweiundsechzigste Sowjetarmee, die Stalingrad verteidigte, lebte auf diesen drei Kilometern Steilhang an der Wolga. Sie waren das Herz und das Hirn, die Kraft und die Hoffnung.
«Es hat alles zwei Seiten, Väterchen Pawel Nikolajewitsch«, sagte Major Kubowski. Er rauchte mit Genuß weiter, denn er hatte zwei Tage Erholungsurlaub. Auch das gab es noch in Stalingrad. In den Kellern und Hausruinen, in dem Gewirr und Labyrinth der zerfetzten Fabrikhallen, in den Laufgräben, die jetzt die Straßen ersetzten, hockte und starb nur ein Teil der Armee. Ein anderer Teil lag in den Fuchsbauten des Steilufers in Ruhe und
Bereitschaft; alle paar Tage wurden sie ausgewechselt, damit sie wieder frisch wurden und harten Widerstand leisteten. So kam es, daß immer ausgeruhte Truppen den Deutschen gegenüberlagen.
«Wenn der Boden gefriert, können auch die Deutschen besser operieren. «Major Kubowski zuckte zusammen. Vor ihm rauschte die Wolga auf, eine hohe Fontäne stieg empor, erst dann kam die Detonation und ein Regen aufgeschleuderten, nassen Bodens.
«Unsere Panzer stehen in der Steppe, ich weiß es, hab's gehört beim Stab… es sollen tausend sein und mehr. Nur über die Wolga kommen sie nicht, man kann sie abschießen wie lahme Hunde, wenn sie mit der Fähre übergesetzt werden. Aber wenn es friert… Genosse Major, da fahren sie über die Wolga, wo sie wollen… So viel Rohre haben die Deutschen gar nicht, um sie überall zu treffen. «Abranow, der Greis, hatte sich in Hitze geredet.
Major Kubowski schwieg. Was sollte man auch sagen? Hinter ihnen starb Stalingrad. Vor ihnen lag die Wolga. Und wenn man daran dachte, was die alten Bauern sagten, konnte man stumm und nachdenklich werden. Sie sagten nämlich:»Solange der Feind Mutter Wolga nicht bezwungen hat, ist Rußland nicht verloren!«Und nun stand sie an der Wolga, eine ganze deutsche Armee, und vor ihr lag die Steppe von Kasachstan, ein offenes, tellerglattes Land, durch das sie hindurchziehen konnte bis ans Ende der Welt. Das darf nie sein, hieß es immer wieder. Und wenn in Stalingrad sämtliche Männer Rußlands verbluten… aus ihren Leibern bauen wir eine Mauer vor die Wolga. Das war nicht so dahergeredet, bei Gott nicht! Major Kubowski hatte es erlebt. Vier Bataillone hatte er in den Trümmern der Stadt gelassen, und immer, wenn er zurückkam an das Steilufer, stand ein neues Bataillon bereit, wie Schlachthammel mit leeren, großen Augen, und wurde hineingeführt in die Hölle am Hüttenwerk >Roter Oktober< oder zu jener merkwürdig geformten, mitten in der Stadt liegenden Eisenbahnschleife, die man >Tennisschläger< getauft hatte. Hier bissen sich die Rotarmisten in jeden Zentimeter Dreck, krallten sich an jeden Trümmerstein und bauten wahrhaftig einen Wall aus ihren blutigen Leibern.
Abranow, der Greis, hatte seinen Kanten Brot aufgegessen. Er war durchaus nicht satt, aber er hatte doch ein klein wenig das Gefühl, daß sein Magen keine hallende Höhle mehr sei. Am Steilufer der Wolga diente er der Armee als Handlanger für alles. Er schleppte Bahren mit Verwundeten, begrub die Gefallenen, sortierte Kisten mit Munition und kochte in großen Eisenwannen, die eigentlich Rohstücke für Panzerkuppeln sein sollten, Hektoliter von Tee, um die abgelösten erschöpften Soldaten von innen zu stärken, ja, er reparierte sogar Geschütze, nicht am Verschluß, denn das ist eine Facharbeitersache, sondern an den Rädern und Lafetten und Schutzschilden. Als man Pawel Nikolajewitsch Abranow aus Stalingrad evakuieren wollte, vor ein paar Wochen, als sich herausstellte, daß die deutschen Divisionen durchbrachen und die Stadt Stück um Stück, Haus nach Haus eroberten, hatte er ge-schrien:»Was, Genossen? Ich soll aus meiner Stadt hinaus? Ja, bin ich denn kein Russe? Was wollt ihr mit mir tun, Brüder? Auch wenn ich alt bin… verlaßt euch drauf, ich habe ein junges Herz!«So war er in Stalingrad geblieben, und mit ihm Tausende von Greisen, Frauen und sogar Kindern, während die Arbeiter in den Fabriken zu den Waffen griffen und sich in die Front einreihten.
«Wann müssen Sie wieder weg, Genosse Major?«fragte er Kubowski.
«Morgen.«
«Wieder zum >Tennisschläger«
«In die alte Stellung.«
«Sie werden sie halten, nicht wahr?«
«Dort wird keiner an die Wolga kommen!«
Sie zogen die Köpfe ein, obwohl sie im toten Winkel der deutschen Geschütze lagen. Über ihnen heulte und orgelte es heran und schlug in die Wolga ein und jenseits der Wolga in die Wälder nördlich von Krasnaja Sloboda. Dort stand, gut getarnt, die schwere Artillerie. Tag und Nacht feuerte sie in die Trümmer der Stadt und wühlte sie immer wieder um, so wie man einen Teig knetete, damit er nicht klumpig, sondern gleichmäßig wird. Deutsche Aufklärer hatten die Stellungen ausgemacht, und seitdem gab es ein Duell, über die Wolga hinweg. Aber es nutzte wenig. Niemand wußte, wieviel schwere Geschütze in den Wäldern standen. Es mußten Tausende sein, denn sie schossen weiter, als gäbe es keine deutsche Artillerie.
«Panzer brauchen wir, Genosse Major«, sagte Abranow, der Greis, wieder.»Und wenn die Wolga gefroren ist, kommen sie wie die Mücken! Dann wird es einfach sein, die Deutschen wegzujagen. Und wenn es uns erst gelingt, sie abzuschließen.. wenn sie keinen Nachschub mehr haben…«Abranow schwieg gedankenvoll. Es war zu schön, daran zu denken. Er liebte diese Stadt, in deren Straßen er als Junge gespielt hatte, als diese Straßen noch ungepflasterte, staubige Wege waren und die Altstadt noch Zarizyn hieß, und er konnte grausam denken, wenn es um diese, um seine Stadt ging.
Um sie herum hämmerten die Granaten auf den Rand des Steilufers. Dreckschleier zogen über ihre Körper hin, Abranow mußte husten, und Major Kubowski sprang auf und schüttelte sich wie ein nasser Hund.
«Ein Glück, daß sie noch nicht um die Ecke schießen können!«sagte er. Von den seitlich liegenden Sanitätsbunkern kam eine Gestalt durch die Bodenfalten gehüpft und winkte mit beiden Händen. Ein schmaler Körper in grüner Uniform.
«Pawel Nikolajewitsch!«rief eine helle Stimme.»Väterchen! Sie werden gesucht!«Zwei Anne winkten heftig.
Abranow erhob sich und winkte zurück.
«Das ist Vera Tscherkanowa, meiner Tochter Kind«, sagte er stolz.»Dient als Sanitäterin. Ein tapferes Mädchen. Sie sehen, Genosse Major — man braucht mich im Lazarett.«
Abranow lief über Steine und Bunkerdächer. Sein weißes, langes Haar flatterte, ab und zu sprang er über abgestützte Wände herunter, und er federte beim Aufprall in den Knien, als sei er ein junger Sportler. Major Jewgenij Alexandrowitsch Kubowski blieb noch eine Weile stehen und sah über die Wolga und hinüber zu dem dampfenden, krachenden Wald von Krasnaja Sloboda.
Stalingrad, dachte er. Auch mich wird man hier verscharren. In einem Granatloch, in einem Keller, unter Trümmern, vielleicht unter einem Dom von verbogenen Eisenträgern oder am Fundament einer geborstenen Mauer. Es kann morgen sein oder übermorgen… nur heute nicht. Heute ist man ein Fuchs, der sich in den Steilhang des Wolgaufers wühlt. Er sah auf seine Uhr. Vier Uhr nachmittags. In einer Stunde würde es dunkel werden. Um halb sechs mußte er sich bei dem Genossen General Borowin melden. Und morgen bekam er ein neues Bataillon. In Gruppen sprang man dann in die Hölle, in die heulende Wüste des >Tennisschlä-gers<. Es war, trotz Liebe zum Vaterland, nicht erhebend, daran zu denken.
Mit ernstem Gesicht drehte sich Major Kubowski eine neue Zigarette. Diesmal nahm er dazu ein Stückchen von der Kulturseite der Prawda.
In dem größten Keller lagen sie nebeneinander, Schulter an Schulter, Hüfte an Hüfte, Beine an Beine, sauber ausgerichtet und aneinandergeschichtet, als sollten sie verpackt werden… zerfetzte, blutende, röchelnde, vergehende, stöhnende, wimmernde, sich streckende und erstarrende Leiber. Eine Wolke von Blutgeruch, Eiter und Schweiß lag wie ein Gas über ihnen, klebrig und sich im Gaumen festsaugend. Im kleineren Nebenkeller wurde operiert. Nur eine wacklige Holztür trennte den Raum von dem anderen ab. Ab und zu hörte man einen Schrei, ein helles Wimmern, Stimmen, die Tür klappte auf, zwei Sanitäter trugen einen Körper heraus, schoben einen auf dem Boden liegenden Leib hinaus in den Gang und den Operierten in die Lücke hinein. Auf der Treppe hockte als zusammengeballte Masse ein Klumpen Gehfähiger. Armverletzte, Kopfverwundete, Schulterschüsse, Fleischwunden, um die man dicke Lagen Zellstoff gelegt hatte.
«Vier kannste wieder 'raustragen, Emil!«rief einer aus dem Klumpen einem Sani zu.»Draußen auf der Straße liegen noch zweiundzwanzig, die aufn Platz warten…«
Der Sanitäter überblickte die aneinandergereihten Körper. Wenn sie die Augen nicht offen hatten, sahen sie alle gleich aus. Spitze, dreckige Gesichter, eingesunkene Augen, durchblutete Verbände. Man mußte schon von Mann zu Mann gehen, um festzustellen, wer nun gestorben war.
«Muß man denn alles allein tun?«maulte der Sanitäter Emil.»Wenn ihr loofen könnt, so holt doch die Kameraden 'raus und macht Platz! Ich muß doch beim Operieren helfen! Los, bewegt euch, ihr Krücken! Seid froh, daß ihr kriechen könnt…«
Sie nahmen den auf den Gang geschobenen Körper und trugen ihn in den kleinen Kellerraum.
Hier arbeitete Stabsarzt Dr. Portner an einem gescheuerten Küchentisch. Neben ihm standen drei Blecheimer, in die er die Mullbinden warf, die herausgeschnittenen Fleischfetzen und die amputierten Gliedmaßen. Wenn die Eimer voll waren, trug sie Sanitäter Emil hinaus, vorbei an den aufgereihten Schwerverletzten, wartete auf der Kellertreppe eine ruhige Minute ab, sprang dann hinaus, kroch zu einem Granatloch undkippte die Eimer aus.
Auf der anderen Seite des Tisches stand Assistenzarzt Dr. Körner und öffnete eine große Venenklemme. Sie hatte keinen Sinn mehr. Während der Amputation hatte das Blut zu fließen aufgehört. Dr. Portner wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Er schwitzte in der stickigen Luft, hielt die Hände von sich und hob den Kopf etwas in den Nacken. Das war ein Zeichen für den Sanitätsfeldwebel Horst Wallritz, die Feldflasche zu nehmen und dem Stabsarzt etwas Tee zwischen die Lippen zu gießen.
«Sie auch, Körner?«fragte Dr. Portner.
«Danke, Herr Stabsarzt.«
«Ich glaube, Sie sind jedesmal erschüttert, wenn einer hier auf dem Tisch Lebewohl sagt, was?«Der neue Verwundete wurde hinaufgeschoben, Wallritz schnitt die Uniform auf, ein zerfetzter Bauch, abgedeckt mit Mull-Lagen, kam hervor. An Unterleib und Schenkel war der herausgeflossene Darminhalt festgetrocknet. Dr. Portner tippte mit einer Sonde auf die große, zuckende Wunde.»Sie sind wohl wahnsinnig, Wallritz?«
«Herr Stabsarzt?«
«Der nächste! Ist doch dämlich von Ihnen, mir so etwas auf den Tisch zu legen! Bringen Sie mir Leute, die ich retten kann!«
«Es ist Hauptmann Bertram, Herr Stabsarzt. «Der Sanitätsfeldwebel senkte den Kopf.»Ich dachte…«
Dr. Portner bemerkte erst jetzt die silbernen Schulterstücke mit den beiden Sternen. Dann sah er wieder in das Gesicht des Sterbenden, in ein dreckverkrustetes, schmal gewordenes, fast kindliches Gesicht.
«Bertram«, sagte Portner leise und sah dabei seinen Assistenzarzt an.»Gestern noch haben wir zusammengesessen. Er wollte nach dem Krieg Häuser bauen. War Architekt. Jung verheiratet. Zwei Kinder, kurz hintereinander. Und dann kommt ein russisches Explosivgeschoß und reißt ihm den Bauch auf. Statt Häuser zu bauen, wird er jetzt in irgendeinem Granattrichter liegen und mit Trümmersteinen von Stalingrad zugedeckt sein. «Er wischte sich wieder über die Augen und wandte sich um.»Wallritz — abräumen! Der nächste. Aber Leute, die weiterleben können!«
Im großen Keller hatte die Aussortierung begonnen. Die Reihen wurden einen Augenblick lückenhaft. Aber dann begann ein reger Pendelverkehr. Für jeden Körper von unten kam ein neuer Körper von oben… es war wie eine Paternosterfahrt durch einen Keller: Auf der einen Seite fuhren die wimmernden Körper in die Tiefe, auf der anderen Seite kamen sie steif wieder ans Licht und wurden säuberlich in einem großen Trichter aufgeschichtet. Es war eine Routine des Sterbens, die niemand mehr ergriff.
In dem kleineren Kellerraum ging die Arbeit weiter. Verbände, Amputationen, Herausoperieren von Steckschüssen, Tetanusspritzen, Morphium, Herzmittel, Kreislaufstützen… Feldwebel Wallritz ging jetzt im großen Keller von Mann zu Mann und wählte aus, wer in den Operationsraum durfte.
Ober ihnen bebte die Erde und krachte es unaufhörlich. Vierhundert Meter entfernt lag der berühmte >Tennisschläger<. Seit Wochen berannte man ihn, verbluteten drei Pionierbataillone in den Häuserruinen, konzentrierte sich das Feuer von Artillerie und
Minenwerfern auf diesen kleinen Fleck inmitten Stalingrads; und wenn man glaubte, jetzt lebe nicht einmal mehr ein Käfer, krochen aus den Kellern die Sowjets und warfen sich den Deutschen entgegen wie ausgehungerte, brüllende Wölfe. Inmitten dieses Chaos lag der Lazarettkeller Dr. Portners. Er bekam die frisch Verwundeten genauso herein wie die vom Staub unkenntlich gewordenen, notdürftig Verbundenen, die man in Löchern und an Hauswänden vergessen hatte, zurücklassen mußte oder erst nach Tagen entdeckte.
Ohne Unterbrechung donnerte und explodierte es über ihnen. Wenn es einmal still wurde, so, als schöpften die Kanoniere Atem, sah man nach oben an die Kellerdecke und wartete unruhig. Ruhe war immer gefährlich. Solange es krachte, wußte man, woran man war. Aber plötzliche Stille ließ jeden hellwach werden.
In eine solche Stille hinein polterte ein Mann die Treppe herunter. Er lief in die Arme von Feldwebel Wallritz, der einen Leichtverwundeten auf der Treppe verband.
«He! Halt!«Wallritz hielt den Soldaten fest.»Drunten ist's voll genug! Wo hat's dich erwischt? Bist ja noch flott aufn Beinen!«
Ein breites, fast schwarz durch Ruß und Dreck verschmiertes Gesicht grinste Wallritz an.»Hänschen ist wohlauf!«sagte der Soldat.»Ich muß zu Assistenzarzt Dr. Körner — «
«Der operiert, du Idiot! Was ist los? Mach die Klappe auf.«»Obergefreiter Hans Schmidtke, abkommandiert durch Funkspruch aus Pitomnik, Herrn Assistenzarzt Dr. Körner sofort nach Pitomnik zu bringen.«
Wallritz hörte mit dem Verbinden auf.»Warum das denn?«»Befehl vom Feldlazarett. Der Assistenzarzt soll heiraten.«»Was soll er?«Wallritz sah den Obergefreiten Schmidtke kritisch an.»Wohl 'n bißchen blöd, was? Hier ist die chirurgische Abteilung… Dachschäden gehen am besten zum >Tennisschlä-ger< und machen eine Bleikur…«
«Da komm ick jerade her! Die hab'n mir jesagt, ick sei zu intelligent für'n Massengrab! Übrigens — Freunde nennen mich Knö-sel. Deswegen!«Schmidtke nahm aus der Tasche eine alte, am Mundstück zerkaute, klebrige, kleine Hängepfeife und steckte sie zwischen die Lippen.»Ick wär 'n viel lebenslustigerer Junge, wenn de mir 'nen Krümel Machorka abdrücken könntst…«
Feldwebel Wallritz verband stumm den Leichtverwundeten zu Ende.»So«, sagte er dann.»Zwei Keller weiter, unter der Ruine mit dem hohen Kamin, liegt die Sammelstelle der Gehfähigen! Hau ab, Kumpel! Aber mach 'nen Bogen zur Siedlung hin.. Die Iwans können ein' Teil einsehen…«
Erst als der Verwundete über die Treppe nach oben verschwunden war, wandte sich Wallritz wieder zu Schmidtke um.
«Sie sind ja noch immer da, Knösel!«
«Ick muß zum Assistenzarzt. Wenn der die Hochzeitsnacht verpaßt… ick will nicht schuld sein! So wat bleibt doch haften…«
«Lassen Sie den Blödsinn, Mann!«brülle Wallritz.»Ich habe den Keller voll Sterbender, und der Kerl — «
Knösel nahm seine Hängepfeife aus dem Mund.»Ich kann doch nischt dafür, Herr Feldwebel. Ick hab' meinen Befehl…«
«Mitkommen!«schrie Wallritz.
«Na also…«
Im kleinen Keller lag auf dem Küchentisch ein braungebrannter, langer Mann auf dem Bauch und biß sich vor Schmerz in den Unterarm. Dr. Portner holte mit einer Pinzette kleine Granatwerfersplitter aus dem Rücken. Wo sie zu tief saßen, machte er einen Schnitt und holte den Splitter aus der Tiefe der Rückenmuskeln. Er hatte dabei den Rücken nur mit Jod eingepinselt und vorher gesagt:»Ich brauche die schmerzstillenden Spritzen für die großen Sachen. Sie müssen jetzt mal den Hintern fest zusammenkneifen und etwas aushalten! Sind Sie verheiratet?«
«Ja, Herr Stabsarzt«, hatte der Verwundete mit ängstlichen Augen geantwortet.
«Kinder?«
«Drei.«
«Sehen Sie!«Dr. Portner hatte auf den Tisch gezeigt.»Hinlegen. Auf 'n Bauch! Und denken Sie gleich daran, daß Ihre Frau dreimal größere Schmerzen gehabt hat als Sie! Wenn Sie schreien, nehme ich Sie auseinander!«
Nun lag der Mann auf dem Bauch, biß sich in den Unterarm, stöhnte verhalten und rollte mit den Augen. Dr. Portner und Dr. Körner sahen unwillig auf, als Knösel in den Keller polterte und die Hacken zusammenknallte.
«Idioten sammeln sich in Keller fünf!«brüllte Dr. Portner.»Wallritz! Was soll das? Der macht Männchen, während rundherum alles krepiert!«
«Obergefreiter Schmidtke, abkommandiert, um Herrn Assistenzarzt Dr. Körner nach Pitomnik zu bringen«, meldete Knösel. Er legte dabei sogar die Hand an den gekalkten Helm.
Stabsarzt Dr. Portner legte die Pinzette auf den Rücken des Verwundeten und drückte eine Lage Mull auf einen frischen, stark blutenden Schnitt.
«Nach Pitomnik? Wieso?«Er blickte zu Körner.»Wissen Sie was davon?«
«Nein, Herr Stabsarzt.«
«Wer hat den Befehl gegeben?«
«Er ist dreimal bei der Funkstelle V eingetroffen. Einmal vom Herrn Generalarzt, einmal von Herrn Oberst von der Haagen und einmal von Herrn Pfarrer Webern…«Knösel las es von einem Zettel ab, auf dem er alles notiert hatte.»Der Herr Assistenzarzt soll doch morgen heiraten…«
Dr. Hans Körner wischte sich verwirrt über die Augen. Seine blonden Haare klebten verschwitzt an dem schmalen Kopf.»Mein Gott«, sagte er leise.»Der wievielte ist denn heute?«
«Der einunddreißigste Oktober. «Dr. Portner lachte plötzlich.»Natürlich! Am ersten November heiraten Sie ja! Das haben Sie wohl ganz verschwitzt…«Er ging um den Tisch und band Körner eigenhändig die OP-Schürze ab.»Schluß jetzt, Körner… für drei Tage sind Sie Hochzeiter, nicht Todesengel! Lassen Sie mich der erste sein, der Ihnen gratuliert. Hoffentlich bekommen Sie bald Urlaub, um dem Führer einen strammen Sohn zu zeugen!«
Hans Körner schluckte. Er schüttelte die Hände von Dr. Portner und Feldwebel Wallritz, aber er tat es mechanisch und spürte kaum den Druck ihrer Finger. Auch ihre Worte rauschten an ihm vorbei wie das ständige Geknatter der Maschinengewehre oben in der Trümmerwüste.
Marianne, dachte er. Ich habe dich vergessen. Kann man das begreifen, wo es nichts auf der Welt gibt, was mein Herz so beschäftigt wie du? Morgen werden wir Mann und Frau sein… über zweitausend Kilometer hinweg… wovon wir träumten, beim letzten Urlaub noch, im Schilf liegend und über die sonnige Fläche des Sees blickend, umschlungen und auf den Herzschlag des anderen lauschend, eingebettet in eine Wolke von Glück, auf der alle Erdenschwere von uns abfiel, das ist nun Wahrheit. Morgen, am ersten November 1942. Auf dem Flugplatz Pitomnik bei Stalingrad. Ich werde ja sagen, und du wirst ja sagen… zweitausend Kilo-meter entfernt, in Köln… und wir werden Mann und Frau sein… Das alles hatte ich vergessen, bis zu dieser Minute… Die Sterbenden nehmen die Gedanken mit…
«Hauen Sie ab, Körner!«Die Stimme Dr. Portners riß Körner aus seinen Gedanken.»Und kommen Sie mir gesund zurück! Vor allem — kommen Sie erst mal heil nach Pitomnik. Meine Hochzeitsgabe müssen wir aufsparen bis nach dem glorreichen Sieg!«
In wenigen Minuten war der Packsack Dr. Körners gepackt. Knösel half ihm dabei. Dann stiegen sie hinauf in das Trümmerfeld und wurden von russischen Pakgeschossen empfangen. Feldwebel Wallritz war mit ihnen nach oben gekommen. Ein Häuserviertel im >Tennisschläger< brannte lichterloh. Pioniere kämmten mit Flammenwerfern einige Straßenzüge durch. In einem mitten durchgerissenen Haus lagen auf dem Betonboden' des zweiten Stockwerkes einige Sowjetsoldaten. Man sah sie ganz deutlich… ihre Uniformen brannten, sie wälzten sich und rollten sich über den Boden, um die Flammen zu ersticken. Aber jedesmal, wenn sie in Richtung der Straße lagen, begannen sie wieder zu schießen. Brennende Menschen, die bis zum letzten Stöhnen kämpften.
«Los!«sagte Knösel. Er duckte sich und rannte den Laufgang hinunter, den man in der Straße gegraben hatte. Dr. Körner folgte ihm. Sie liefen einige hundert Meter, mit keuchenden Lungen, schluckten Staub, warfen sich vor heranorgelnden Granaten hin und suchten in Löchern Schutz, geduckt an die schon verwesenden Leichen, auf die sie hinaufsprangen. Kurz vor einem freien Platz überfiel sie noch einmal eine Salve. Den Kopf zwischen die Steine gedrückt, warteten sie, hörten über sich hinweg die heißen Splitter surren und in die geborstenen Hauswände klatschen. Eine Staublawine, die von einer Fassade über sie herfiel, nahm ihnen die Luft. Sie sprangen auf, warfen die Arme empor und rangen nach Atem. Taumelnd erreichten sie das andere Ende des Platzes, stolperten weiter und standen plötzlich in einer anderen Welt.
Aus Kellern und Steinbunkern rauchten Ofenrohre. Zwei Funkwagen waren hinter einer Hauswand aufgefahren und hatten eine lange Antenne gespannt. In Hausruinen hatten sich Werkstätten niedergelassen. Von irgendwoher zog der Duft einer dampfenden Nudelsuppe durch die Trümmer. Vier deutsche Tigerpanzer waren in einer Reihe aufgefahren und wurden so sorgfältig gewaschen, als gehe es zur Parade. Ein Spieß schrie herum und meckerte, weil die Raupenketten der Panzer in den inneren Gliedern immer noch Lehmspuren aufwiesen.
«Ich werd' verrückt!«sagte Dr. Hans Körner und blieb keuchend stehen.»Da die Hölle — hier Kommiß!«
«Genau bis zu dem Platz reicht die sowjetische Artillerie. Dann kommt 'n freier Streifen… und auf der Straße nach Gumrak geht's wieder los. Da kommen die großen Koffer 'runter. Det is hier wie 'ne Insel. Und da steht er ooch, unser Kübel…«Knösel zeigte mit seiner Pfeife auf einen Kübelwagen mit Tarnanstrich. Er stand vor einer der Werkstätten.
Knösel schleppte den Packsack Körners zum Wagen und warf ihn auf den Hintersitz. Ein Offizier kroch aus einem Keller und sah Körner interessiert entgegen, als dieser an den Wagen trat. Er grüßte, und Körner grüßte zurück.
«Ihr Wagen, Kamerad?«
«Ja.«
«Sie fahren nach hinten? Würden Sie ein Paket mitnehmen?«Der Offizier, ein Oberleutnant mit großen verträumten Augen, kam näher. In der Hand hielt er ein kleines Paket.»Es ist für meine Mutter…«
«Selbstverständlich. «Dr. Körner nahm das Paket und legte es neben seinem Packsack.
«Ich bin gestern hierhergekommen, aus Frankreich«, sagte der junge Oberleutnant. In seiner Stimme schwang eine große Hilflosigkeit.»Es sieht verdammt beschissen aus. Sie kommen vom >Tennisschläger«
«Ja.«
«Da muß ich morgen früh hin.«
Körner gab dem jungen Offizier die Hand.»Dann viel Glück, Herr Kamerad. In drei Tagen komme ich zurück… dann sehen wir uns vielleicht wieder.«
«Vielleicht…«
Der Oberleutnant winkte dem Wagen nach, als Knösel mit knatterndem Motor über die Straße hoppelte, über Steine und durch flache Löcher. An einem abgeholzten und zersplitterten Wäldchen vorbei erreichten sie eine breite Landstraße. Links und rechts lagen abgeschossene sowjetische Panzer, zerfetzte Autos und umgestürzte, zu einem Gewirr zusammengeworfene Telegrafenmaste. Die Toten hatte man weggeräumt und neben der Straße, auf den steppenähnlichen Feldern, begraben. Knösel drückte auf das Gas, als sie die breite Straße erreicht hatten.
«Wir müssen einen Umweg machen, Herr Assistenzarzt«, sagte er.»Über Gorodistsche und dann übern Tatarenwall. Der nächste Weg, der über de Steppe, is mir zu unsicher.«
«Sie werden es schon richtig machen. Wir haben ja Zeit. «Dr. Körner lehnte sich zurück und sah in den fahlen, farblosen Himmel. Morgen heirate ich, dachte er. Marianne Bader, neunzehn Jahre alt, schwarzlockig und süß. Er hatte sie im Zug kennengelernt, bei einem Luftangriff auf freier Strecke. Nebeneinander hatten sie in einem Kornfeld gelegen, während oben auf dem Bahndamm die Flugzeuge um die verlassenen Waggons kreisten und in sie hineinschossen. Das Mädchen war voll Angst an ihn gekrochen und hatte sich wie ein schutzsuchendes Tier an ihn geschmiegt.»Sie brauchen keine Angst zu haben!«hatte er damals gesagt, obwohl ihm selbst ein dicker Kloß in der Kehle saß. Aus dieser Angst im Kornfeld war ihre Liebe geworden.
Dr. Körner schloß die Augen. Das Rumpeln und Rütteln des Wagens schläferte ein. Im Lazarettkeller hatte es keinen Schlaf gegeben, nur ein paar Stunden unruhiges Hin- und Herwälzen auf einer Matratze, die man aus den Trümmern geborgen hatte. Wenn dann die Ruhe doch kam, weckte einen das Rütteln von Feldwebel Wallritz. Die Zeit war herum… auf dem Küchentisch lagen wieder neue Leiber, aufgerissen und um Hilfe wimmernd.
Knösel ließ den Assistenzarzt schlafen. Nur einmal hielt er an, schob seinen zusammengerollten Mantel vorsichtig unter den Nacken Körners, deckte ihn mit einer alten Pferdedecke zu und fuhr dann weiter. Er ratterte durch Gorodistsche und über den Tatarenwall, vorbei an den riesigen Materiallagern der 6. Armee, an Autokolonnen und Panzerbataillonen, an Nachschubschlangen und Munitionstransportern.
Hinter Gumrak passierte er ein großes Verpflegungslager. Neun Zahlmeister waren dabei, alle Kisten listenmäßig zu erfassen, die man auslud. Knösel hielt einen Augenblick an, übermannt von Verwunderung. Er sah Büchsen mit Schinken und Schmalzfleisch, Kanister mit Salatöl, Säcke voller Bonbons, Schokolade und sogar Pralinen. Er sah mit sprachlosem Staunen, wie man einen Lastwagen voller Bienenhonigdosen auslud. Ein Stabszahlmeister stand daneben, zählte jede Dose und machte einen Strich in sein Wareneingangsbuch.
Ein Feldgendarm trat an den Kübelwagen heran.»Hau ab, Wanze!«knurrte er.»Was gibt's hier zu sehen?«
«Das Märchen vom Schlaraffenland, Kumpel. «Knösel zeigte mit seiner Pfeife auf das Verpfiegungslager, das überquoll von Lebensmitteln.»Weißt du, was wir draußen zu fressen kriegen?«
«Hau ab, sag ich!«
«Suppe aus Pferdefleisch! Und matschiges Brot Wer frißt 'n das da?«
«Wintereinlagerung! Vorratswirtschaft! Verstehste aber nicht! Und nun schwirr ab, sonst hau ich dir eine Meldung wegen Transportbehinderung vor den Kühler! Wen fährste denn da spazieren?«
«Den zukünftigen Leiter der Charite! Kennste de Charite?«
«Nee!«
«Siehste!«Knösel ließ den Motor wieder an.»Der eine kennt det Fressen, der andere hat Kultur!«
Knatternd fuhr er weiter, oberhalb der Gontschara-Schlucht vorbei, in Richtung auf Pitomnik. Er fuhr jetzt quer durch die Steppe, die wie ein beschmiertes Butterbrot flach vor ihnen lag. Noch staubte es hinter seinem Wagen, aber der Himmel sah schon nach Kälte aus. Dr. Körner schlief fest und mit langen, ruhigen Atemzügen. Knösel stopfte seine Pfeife mit Machorka und blies den Qualm in dicken Wolken von sich. Kenner behaupteten, er müsse eine Lunge aus Leder haben, um das auszuhalten.
Wie ein großer Junge sieht er aus, dachte Knösel bei einem Seitenblick auf den schlafenden Körner. Und Arzt ist er schon! Und ab morgen verheiratet. Das war ein Punkt seines Denkens, wo bei Knösel das Verständnis aufhörte. Heiraten ohne Braut und Hochzeitsnacht, nur so auf dem Papier… das blieb ihm unbegreiflich.
«Wie 'ne Molle ohne Schaum!«hatte er bei dem Bekanntwerden der Ferntrauung gesagt.»Wenn ick mir de Hochzeitsnacht nur träumen soll, vazichte ick drauf!«
Am Abend erreichten sie Pitomnik.
«Ich halte es für eine Dummheit, verzeih mir, Söhnchen, aber es ist die Meinung eines alten Mannes«, sagte Pawel Nikolaje-witsch Abranow und schlürfte aus einem Unterteller heißen Tee. Sie saßen in einem Erdbunker im Steilufer der Wolga. Es war ein wohnliches Plätzchen, das sich der Greis Abranow eingerichtet hatte. Aus seinem Stadthaus hatte er noch etwas retten können, bevor er sich in den Leib der Erde verkroch wie ein Känguruh in den Muttersack. Da war ein Bett an der Wand, ein richtiges weißes Eisenbett mit einer Matratze und zwei Decken, ein eiserner Herd, der gleichzeitig Ofen war, ein Spültisch, ein Kleiderschrank, drei Stühle, ein Tisch, Töpfe und Geschirr… wahrhaftig, es war eine luxuriöse Höhle, in der sich leben ließ, wenn nicht immer die Wände wackelten, sobald eine deutsche Granate oben auf der Kuppe oder unten in der Wolga einschlug.
Um Abranow, den Greis, herum saßen Vera Tscherkanowa, sein Enkelkind, und der mittelgroße, breitschultrige und immer fröhliche Mladschij Sergeant Iwan Iwanowitsch Kaljonin.
Mit Iwan Iwanowitsch und Vera hatte es vor über einem Jahr begonnen. Damals kam der tapfere Sergeant zurück nach Stalingrad in die Traktorenfabrik >Dsershinski<, nicht weil er übrig war in der Roten Armee oder man ihn nicht brauchen konnte, sondern weil er ein Facharbeiter war, der etwas von dem verworrenen Innenleben eines Panzers verstand. Und Panzer brauchte man an allen Fronten. Im Eiltempo wurden sie gebaut, auf dem Versuchsgelände eingefahren und dann, umkränzt mit Blumen und Schildern wie >Fahr in den Sieg!< oder >Fürs Vaterland siege!<, sofort abtransportiert an die Front.
Vera Tscherkanowa wiederum war eines der vielen hundert Mädchen, die im Traktorenwerk schweißten und nieteten, die Drähte spannten und Anschlüsse verklemmten, ein fleißiges, liebes, hübsches Mädchen, vor dem die Männer an den Mützen rückten, wenn sie an ihnen vorbeiging. Denn das war kein Gehen mehr, das war ein Schweben. Und stolz war sie. Immer den Kopf im Nacken. Bis Iwan Iwanowitsch ins Werk >Dsershinski< kam und von Panzer zu Panzer kletterte und kontrollierte, ob auch alles richtig sei. Da sahen sie sich beide groß an, und sie wußten, daß von diesem Augenblick an das Leben eine andere Richtung nehmen würde. Wie ein Funken war's, der in beider Herz fiel und sich dort entzündete zu einer heißen Flamme.
«Ich heiße Iwan Iwanowitsch Kaljonin«, hatte der breitschultrige Mladschij Sergeant gesagt.»Stalingrad ist eine schöne Stadt. Hier kann man leben.«
Und Vera Tscherkanowa hatte geantwortet:»Ich heiße Vera. Es freut mich, Genosse, wenn Sie in dieser Stadt leben können…«
So dumm hatten sie dahergeredet! Aber was sie nicht sagten, sprachen ihre Augen. Und das war viel, viel zuviel auf einmal, um es verarbeiten zu können. Dazu brauchte man Zeit… Und so ging ein Jahr dahin, der alte Abranow lernte Iwan Iwanowitsch kennen und sagte:»Vera! Ich habe deiner Mutter versprochen, auf dich aufzupassen. Es war ihr letzter Wunsch, bevor sie starb. Und Igor, deinem Vater, habe ich die Hand gegeben und gesagt: >Zieh in den Krieg, Söhnchen, dein Töchterchen Vera wird mein Augapfel sein!< Unser guter Igor ist vermißt, und an mir liegt s nun, alles zu entscheiden. Also sei's. Ich entscheide: Bring deinen Iwan Iwanowitsch zu mir, damit ich ihn mir ansehe…«
So war er, der alte Abranow. Immer ein wenig langatmig in seinen Reden, aber gut, herzensgut! Er hatte Kaljonin umarmt, seinen Bruder genannt, zwei Gläschen Wodka mit ihm geteilt, sich über Politik unterhalten und herausgefunden, daß er ein guter Mensch sei. Dann stießen die Deutschen vor, sie überrannten den Don, sie kamen zur Wolga, und Iwan Iwanowitsch vertauschte den Monteurkittel wieder mit der Uniform, ergriff seine Maschinenpistole und wurde einem Sonderkommando des städtischen Verteidigungskomitees zugeteilt. Es hatte sich mitten in der Neustadt, ein paar Häuserblocks von der Zariza entfernt, verschanzt, und wie gegen den >Tennisschläger< oder den Getreidesilo rannten die deutschen Bataillone vergeblich dagegen an. Auch Vera Tscherkanowa hatte sich geweigert, Stalingrad zu verlassen. Sie stellte sich dem Sanitätsdienst zur Verfügung und verkroch sich mit den Tausenden anderen in das Wolgasteilufer, verband die Verwundeten, tröstete Sterbende, begrub die Toten, kochte und trug Verpflegung herum. Manchmal tat sie auch etwas, was niemand sah: Nachts, neben Großvater Abranow auf einem Strohsack liegend, faltete sie unter der Decke die Hände und betete leise für das Leben Iwan Iwanowitschs.
Das war etwas ganz Merkwürdiges mit dem Beten; sie glaubte nicht daran, denn auf der Komsomolzenschule hatte man gelehrt: Ob es Gott gibt, kann man nicht beweisen. Aber ein doppeltes Plansoll, das kann man beweisen. Und den Sozialismus kann man beweisen. Und die Freiheit aller Schaffenden kann man beweisen. Das war einleuchtend… aber als ihre Mutter starb, an einer Lungenembolie, hatte Großvater Abranow am Bett gesessen und gebetet, und die Mutter hatte gebetet, und danach war sie so still gestorben, so voller Frieden. Vera hatte daneben gestanden, verwundert und nachdenklich. Irgendwie gibt es Kraft, hatte sie gedacht. Man soll's nicht meinen.
Jetzt, wo es um das Leben Iwan Iwanowitschs ging, hatte sie es versucht, nachts, unter der Decke. Und wirklich, es gab einen inneren Halt, sie hatte jemanden, den sie bitten konnte und der sie anhörte und dem sie alles sagen konnte, ohne sich zu schämen.»Gib mir Iwan Iwanowitsch zurück!«hatte sie gesagt.»Beschütze ihn. Laß ihn leben! Ich liebe ihn doch so. Laß ihn leben…«
Nun war es soweit: Kaljonin saß im Bunker des alten Abranow, und in einer Stunde sollte er mit Vera getraut werden. Der Standesbeamte des V. Bezirks war noch da, er hatte alle amtlichen Briefbogen, Stempel und die wichtigsten Papiere in zwei großen Blechkisten bei sich, residierte in einem aus Balken gefügten großen Bunker nahe an der Wolga und repräsentierte die kommunale Obrigkeit der Stadt. Die anderen Beamten lagen im Gebäude des Verteidigungskomitees der Partei und stemmten sich den Deutschen entgegen. Sogar Trauzeugen würden kommen. Oleg Sim-ferowitsch Odnopoff, der Leutnant Kaljonins, und Shuri Andreje-witsch Fulkow, der Kommissar für Kriegspropaganda im Befehlsstand des Frontmilitärrates.
«Ich halte es für unnötig, Söhnchen«, sagte Abranow wieder.»Warum heiraten? Morgen schon kann Vera eine Witwe sein! Man sollte warten, bis Stalingrad wieder befreit ist. Oder müßt ihr?«
«Nein, Väterchen. «Iwan Iwanowitsch wurde rot. Wahrhaftig, das konnte er noch!» Aber wir lieben uns.«
Abranow seufzte. Sie lieben sich, dachte er. O ihr Seelchen! Oben hämmern die Deutschen die Stadt zu Pulver, und sie lieben sich wie zwei Täubchen im Frühling. Man könnte philosophisch werden und sagen: Das ist die Kraft des Lebens. Aber was hilft's? Aus der Tiefe des Landes rollen dreihundertfünfzigtausend Deutsche gegen Stalingrad, eine graue Woge, die an die zerborstenen Mauern brandet. Immer und immer wieder, auch wenn die Woge rot wird von Blut. Und da wollen zwei kleine Menschlein heiraten, weil sie sich lieben! Abranow seufzte noch einmal und trank seinen Tee aus.
«Ich kann's nicht ändern«, sagte er.»Einem alten Mann hört man zu wie einem quäkenden Schaf. Heiratet also…«
Am Abend gingen sie langsam den Hang hinunter zur Wolga. Ober ihnen brannte wieder ein Stadtviertel. Es war erstaunlich, daß es immer noch Dinge gab, die brennen konnten. Die Wolgafähre, die Panzer übersetzte, lag unter dem Feuer deutscher Artillerie. Sie schwankte bedrohlich, und Abranow blieb stehen, schlug ein Kreuz und sagte laut:»Gott schütze unsere Brüder dort drüben…«Vor dem Verwaltungsbunker warteten schon Leutnant Odnopoff und Kommissar Fulkow. Auch einige Zivilisten standen herum, Freunde der Abranows. Aus Weiden und Asten hatten sie Kränze geflochten und mit bunten Bändern verziert. Sie überreichten sie Vera Tscherkanowa und sagten:»Wenn wir wieder frei sind, holen wir es nach, Veraschka. Wir haben ja nichts mehr.«
Iwan Iwanowitsch faßte Vera unter. Sein rundes Gesicht glänzte vor Glück und Freude. Vera senkte den Kopf. Ihr blondes Haar quoll unter dem Kopftuch hervor. Bei der Heiligen Mutter von Kasan — sie war ein schönes Bräutchen!
«Viel Glück!«sagte Leutnant Odnopoff, bevor sie in den Behördenbunker gingen.
Und Kommissar Fulkow sagte laut:»Diese Hochzeit zeigt den Glauben an den Frieden!«
Na ja, er war eben ein Propagandist. Man muß so reden, und niemand nahm's ihm übel.
Am Abend, eine Stunde später, grub Abranow eine versteckte Flasche Wodka aus der Erde.
Er war eben ein alter Fuchs, der Pawel Nikolajewitsch.
Es war alles vorbereitet.
Ein Tisch stand da, mit einer weißen Decke, ein Asternstrauß in einer Vase, ein geflochtener Kranz aus verblichenen Immortellen, vier alte Stühle mit geflickten Korbsitzen, ein zugeschraubter Füllfederhalter und ein paar Blatt Papier in einer ledernen Schreibmappe, auf die eine stolze Hansekogge eingeprägt war. links an der Wand hing ein Bild Hitlers, rechts, ihm gegenüber, ein hölzernes Kruzifix. Auf einem der alten Stühle lag ein Blumengebinde. Neben der Schreibmappe stand ein anderes Kruzifix, aus vergoldetem Messing, aufgesetzt auf einen weißen Marmorsockel.
Sonst war der Raum leer. Die Morgensonne schien aus einem dunstigen Himmel, glanzlos und wie beschlagen. Auf dem Flugplatz von Pitomnik landeten in kurzen Abständen die Transportmaschinen. Dicke, behäbige Ju 52 rollten zu den Lagerschuppen und wurden ausgeladen. Munition, Pak, leichte Flak, Panzerersatzteile, Autowerkstätten, Verpflegung. Als Rückladung nahmen sie Schwerverwundete mit, die rund um den Flugplatz in Blockhütten, Zelten oder Sanitätskraftwagen warteten. Ein kleines Heer von Zahlmeistern war vollauf beschäftigt, Ordnung herzustellen und die herangeflogenen wertvollen Güter sofort auf Lager zu nehmen und dem Anblick Unbefugter zu entziehen.
Im Offizierskasino des Feldlazaretts Pitomnik stand Assistenzarzt Dr. Körner im Kreis trinkender und politisierender Kameraden. Irgendwie kam er sich verlassen vor inmitten der Menge sauberer Uniformen aus glänzendem Tuch und gepflegten, blitzenden Auszeichnungen.
Oberst von der Haagen führte das Wort. Er entwickelte seine Theorie, wie man nach dem endgültigen Fall von Stalingrad durch die kasachstanische Steppe stoßen könnte, um in einem weiten Bogen das sagenhafte Industriegebiet im Innern Sibiriens zu erobern. An der chinesischen und mandschurischen Grenze vorbei konnte man dann bis nach Wladiwostok vorstoßen. Von dort war es ein Sprung hinüber nach Alaska.
«Sie sehen, meine Herren«, sagte Oberst von der Haagen und hob sein Weinglas,»der Weitblick des Führers ist genial, einmalig in der Geschichte. Stalingrad bringt die Entscheidung, das hat man im Führerhauptquartier klar erkannt. Nicht Moskau, wie man zuerst dachte! Die Seele Rußlands ist nicht der Kreml, sondern Sibirien. Wir gehen einer neuen Weltordnung entgegen…«
In einer Ecke stand der katholische Feldgeistliche, Pfarrer Paul Webern. Er beteiligte sich nicht an der Verteilung der Welt. Still beobachtete er Dr. Körner, der mitten im Kreis der Offiziere stand, sein Glas umklammerte, als wolle man es ihm entreißen, und den Reden von der Haagens zuhörte mit der Abwesenheit eines Hypnotisierten.
Pfarrer Webern sah Körner heute morgen zum erstenmal. Am Abend hatte er eigentlich gleich nach der Ankunft des Arztes mit ihm sprechen wollen, aber in der Baracke III starben drei Schwerverwundete und mußten die Letzte Ölung erhalten. Bis zum Morgen hatte er an ihren Holzpritschen gesessen und gebetet, bis der letzte gestorben war. Kaum daß sie sich gestreckt hatten, wurden sie von der Pritsche geschoben und hinausgetragen. Man brauchte die Betten für den unaufhörlichen Nachschub, der über die Steppe von Stalingrad heranrollte.
Zufällig trafen sich die Blicke Pfarrer Weberns und Dr. Körners. Sie sahen sich an, und Körner stellte sein Glas ab, drängte sich durch den Kreis der Offiziere und kam auf den Pfarrer zu.
«Sie wollen mir etwas sagen, Herr Pfarrer?«fragte er. Es schien, als sei er erleichtert, aus dem Kreis der Welteroberer herausgekommen zu sein.
«Ich? Nein! Wie kommen Sie darauf?«
«Sie sahen mich so an.«
Ober das schmale, blasse Gesicht Pfarrer Weberns huschte ein leichtes Lächeln.
«Ich beobachtete nur, Doktor.«
«Mich?«
«Den illustren Kreis. Es ist erstaunlich, welch erdkundliche Kenntnisse die Herren besitzen.«
«Warum so sarkastisch, Herr Pfarrer?«
«Ich bin nur ein paar Tage hier in Pitomnik. Bis vorigen Mittwoch lag ich in einem Keller westlich des Stalingrader Hauptbahnhofes. Ich hörte, Sie kommen vom >Tennisschläger<…«
«Ja.«
«Ist Ihnen da unten in Ihrem Keller schon der Gedanke gekommen, daß wir an der chinesisch-mandschurischen Grenze vorbeistoßen könnten bis Wladiwostok…?«
Dr. Körner verstand. Er blickte auf Oberst von der Haagen. Die Herren standen vor einer hohen Rußlandkarte, die einen großen Teil der Breitwand des Zimmers einnahm. Mit einem Lineal bewies von der Haagen, welche Schwenkungen die Heeresgruppe Süd und die Heeresgruppe Mitte vollführen mußten, um in einer riesigen Zangenbewegung nach dem Fall von Stalingrad die kopflosen sowjetischen Armeen noch vor dem Ural abzufangen und aufzureiben.
«Was dann kommt, meine Herren, ist nur ein Spaziergang«, schloß von der Haagen seinen strategischen Vortrag.»Vor uns liegt leeres Land… im Norden die Tundra, in der Mitte die Taiga, im Süden die Steppen und Wüsten. Wir werden sie durchrollen wie früher der Transsibirische Expreß. Interessant wird es wieder bei Irkutsk. Aber Widerstand? Nee, meine Herren! Haben Sie schon mal 'nen Knaben mit Rückenmarksschwund Walzer tanzen sehen?!«
Man lachte laut über diesen Witz. Oberst von der Haagen war doch ein charmanter Kerl. Wie er die Gedanken des Führers in
Tatsachen umsetzte, das war gekonnt und beste, alte Generalstabsschule. Nach dem verebbten Lärm von Anerkennung und Fröhlichkeit sah der Oberst auf die Uhr und winkte Dr. Körner zu.
«Unser Hochzeiter, meine Herren! Steht da in der Ecke, wie ein verwelkter Primelpott! Lieber Körner… Angst vor der Ehe? Was kann Ihnen schon passieren… liegen ja zweitausend Kilometer dazwischen!«Man lachte wieder und fand die Andeutung witzigfrech.»In zwanzig Minuten ist es soweit. Nehme an, daß Fräulein Braut schon im Standesamt I in Köln sitzt und den Stahlhelm ansieht, der neben ihr auf dem Stuhl liegt und den Ehemann symbolisiert. Ich schlage vor, meine Herren, wir gehen hinüber. Herr Pfarrer, alles bereit?«
«Ja«, sagte Webern schlicht.»Gott ist immer bereit…«
Oberst von der Haagen stutzte etwas. Eine passende Antwort fiel ihm so schnell nicht ein. Es war schwer, im Zusammenhang mit Gott witzig zu sein. Mit forschen Schritten ging er voraus, eine Ordonnanz riß die Tür des >Trauzimmers< auf. Vor dem Tisch stand Knösel und steckte eine Kerze an. Oberst von der Haagen blieb auf der Schwelle stehen.
«Wer ist denn dieser Neandertaler?«
Knösel fuhr herum. Er hielt ein brennendes Streichholz in der Hand und knallte die Hacken zusammen.
«Obergefreiter Schmidtke, 2. Kompanie, Infanterie-Regiment… Au, so'n Mist!«Er schüttelte die Hand.»Habe mich soeben verbrannt, Herr Oberst…«
«Ordonnanz!«brüllte von der Haagen.»Wie kommt ein Halbaffe in diesen Raum?«
«Er ist mein Fahrer. «Körner winkte KnöseL Der Obergefreite machte eine Kehrtwendung und marschierte an dem Oberst vorbei hinaus.»Ich wußte nicht, daß er eine Kerze organisiert hat. Er wollte mir eine Freude machen.«
«Leute sind in der Armee — na ja, gehen wir!«Der Oberst sah wieder auf seine Uhr.»Gleich geht es in Köln los. Wir müssen das alles synchron machen, meine Herren, um den feierlichen Augenblick voll auszuschöpfen. In Stalingrad heiratet ein Kamerad. Im Angesicht des täglichen Todes, umgeben von einem mitleidlosen, brutalen, vertierten Feind, ehelicht er ein deutsches Mädchen, das über zweitausend Kilometer entfernt in Köln im gleichen Augenblick vor dem Standesbeamten steht, stolz und aufrecht, eine echte, deutsche Maid, gewillt, nach dem Sieg unserer Truppen und dem Triumph des Führers über eine geifernde, feindliche Welt dem Vaterlande eine neue Mutter zu sein, eine treue Ehefrau, eine Trägerin heiligen germanischen Blutes…«
Dr. Körner sah hinüber zu Pfarrer Webern. Sein Blick war groß, bittend und traurig. Unmerklich nickte ihm Webern zu und legte beide Hände über das goldene Kreuz, das er vor der Brust trug.
Oberst von der Haagen sprach weiter. Mit glühendem Pathos, mit ehernen Worten, mit zukunftsträchtigen Visionen.
Ab und zu blickte er schnell auf seine goldene Armbanduhr. Während der Rede klappte er die Ledermappe auf. Die Trau-urkunde war schon vorbereitet, es fehlten nur noch das Datum und die Unterschriften.
«In diesem Augenblick, lieber Kamerad Dr. Körner, vollzieht sich der ergreifende Akt der Werdung einer neuen deutschen Familie. Ihre Braut steht jetzt in Köln vor dem Standesbeamten, neben sich den symbolischen Stahlhelm, und wie sie in diesem Augenblick gefragt wird, frage ich nun Sie: Hans Ulrich Fritz Körner, wollen Sie die Marianne Erika Lieselotte Bader…«
Das >Ja< Dr. Körners war gepreßt und durchzuckt von innerer Ergriffenheit. Er hatte die Augen dabei geschlossen und versuchte sich vorzustellen, wie Marianne in diesen Minuten aussah: In einem weißen Kleid, mit einem kurzen Schleier auf den schwarzen Locken und einem Myrtenkranz darüber. Sie weinte und sah immer wieder auf den Stahlhelm neben sich — das war so sicher, wie er jetzt die Augen geschlossen hatte und 2000 Kilometer überbrückte.
«So erkläre ich Sie hiermit kraft meiner Vollmacht zu Mann und Frau«, sagte Oberst von der Haagen. Und mit einem Blick zu Pfarrer Webern fügte er hinzu:»Gott möge Ihren Lebensbund schützen.«
Er streckte Dr. Körner die Hand entgegen. Ein leiser Stoß in den Rücken, von einem der Trauzeugen, ließ Körner die Augen öffnen. Er sah die Hand und legte seine kalten Finger hinein.
«Ich danke Herrn Oberst«, sagte er.»Ich danke auch im Namen meiner Frau…«
Meine Frau, dachte er. Zum erstenmal — meine Frau. Frau Marianne Körner…
Über dem Flugplatz heulten Sirenen auf. Grell, auf- und abschwellend. Oberst von der Haagen ließ Körners Hand los.
«Fliegeralarm! Wieder «so'n paar sowjetische Störbrüder! Nicht mal in Ruhe heiraten kann man!«
Sie stürmten aus dem Zimmer, um die Bunker hinter den Baracken zu erreichen. Pfarrer Webern und Dr. Körner blieben allein zurück. Niemand kümmerte sich mehr um sie. Die Kerze flackerte, als rund um den Flugplatz die Flak zu schießen begann.
«Es wird lange dauern, bis sie in Wladiwostok sind«, sagte Webern und kam auf Körner zu. Er reichte ihm beide Hände und legte sein goldenes Kruzifix darüber.»Ich wünsche Ihnen und Ihrer Frau Gottes Segen. Mehr kann ich Ihnen nicht geben, Doktor. Ich bin ein armer Priester, der nur das Wort hat.«
Dr. Körner senkte den Kopf und sah auf das goldene Kreuz auf seinem Handrücken.
«Kommen Sie mich einmal besuchen, Herr Pfarrer?«fragte er.
«In Köln? Wenn es einmal möglich wird, natürlich…«
«Nein. In Stalingrad. In meinem Bunker am Tennisschlä gern Sie werden ihn leicht finden… wo die Blutenden durch die Trümmer hinkriechen und wo im Umkreis von zehn Metern die Granattrichter mit Leichen gefüllt sind… da bin ich in einem Keller Der Weg ist nicht zu verfehlen…«
Pfarrer Webern nickte.»Ich komme, Doktor. Bestimmt.«
Dann sahen sie stumm in den flackernden Schein der Kerze, und was sie dachten, verschlossen sie in ihren Herzen. Und doch wußte jeder vom anderen, was er verschloß.
Um sie herum bellte die Flak und zitterte der Boden. Die Barackenwände schwankten in den Druckwellen der Detonationen.
Der Obergefreite Knösel lag in einem Einmannloch und rauchte. Er hatte den Mantel über den Kopf gezogen und sah aus wie eine schlafende Fledermaus.
Ihn quälten andere Sorgen. Er hatte bei der Abfahrt in Stalingrad versprochen:»Kumpels… ich bringe euch einen Sack voll zu fressen mit!«Das wahr zu machen war eine Sorge, die ihn mehr beschäftigte als der Bombenregen, der über die Rollbahn II niederging.
Am Morgen mußte Iwan Iwanowitsch Kaljonin wieder zurück in die Stadt. Es gab keinen Urlaub, um das junge Frauchen in den Arm zu nehmen und zu schaukeln. Am Bahnhof hatten die Deutschen zwei Häuserblocks erobert, und auch am >Tennisschläger< hatten Pioniere ein System untereinander verbundener Keller ausgeräuchert. Da brauchte man Iwan Iwanowitsch Kaljonin, auch wenn er nur ein einzelner war. Auch ein einzelner Mann, der noch schießt, kann zu einer Gräte im Hals werden, an der man erstickt, sagt ein russisches Sprichwort.
Nichts da also mit Liebchen und schmatzenden Küssen, mit knirschenden Strohsäcken und dunklem Geraune am heißen Ohr! Man kann es nachholen, aber ein paar Meter Boden der Stadt in deutscher Hand, das kann der Tod von Mütterchen Rußland sein.
Vera Tscherkanowa, die jetzt also Kaijonina hieß, begleitete Iwan Iwanowitsch bis zum Kamm des Steilufers. Dort sah sie in die sterbende, in jeder Sekunde grell aufschreiende Stadt, und es krampfte sich ihr das Herz zusammen vor Angst und Liebe.
Selbst der alte Abranow war mitgekrabbelt und hockte hinter einer Bodenwelle, starrte hinüber in die Staubnebel und Feuerschleier, wo einmal seine Wohnung gewesen war, in einem schönen, neuen Haus, das eine Maurerbrigade in Rekordzeit gebaut hatte und das man allgemein als sehr gelungen angesehen hatte, weil es für _jede Familie sogar eine Toilette besaß, und er hatte Tränen in den Augen, als er Iwan Iwanowitsch umarmte und sagte:
«Wir sehen uns wieder, Söhnchen… bestimmt sehen wir uns wieder…«
Dann gliederte sich Kaljonin in einen Trupp Rotarmisten ein, der hinüberzog zum Bahnhof. Er winkte noch ein paarmal zurück, ehe er zwischen den Trümmerbergen verschwand.
Zur gleichen Zeit marschierte auch Major Kubowski mit seinem neuen Bataillon zum >TennisschIäger<, und Assistenzarzt Dr. Körner kehrte mit Knösel aus Pitomnik zurück.