Weihnachten. 24. Dezember 1942. Heiliger Abend.
Überall im Kessel Stalingrad flackerten die Kerzen auf. In den Erdbunkern, in Ställen, in Hütten, in Zelten, in der Steppe wie in den Trümmern der Stadt, in zerschossenen Panzern und unter Planen, vor den verzerrten Gesichtern der Sterbenden und den für einen Augenblick entspannten, hohlwangigen, verschmierten, vergreisten Gesichtern der noch Lebenden.
An einem Wegweiser in der Steppe hing ein Petroleumlämpchen, und ein Weihnachtsbaum mit richtigen Lichtern brannte auf einer Höhe und leuchtete weithin über das sterbende Land. Es war, als halte für eine ganz kurze Zeit die Weltgeschichte den Atem an, für ein Zwinkern nur, ein erstauntes Besinnen und Begreifen, daß es so etwas noch gab, daß Menschen, die verfaulten und verhungerten, sich um das flackernde Licht einer Kerze sammelten, die Hände falteten und leise das Vaterunser beteten, mit einer Innigkeit, die sonst nie in ihnen gewohnt hatte.
In den Kellergewölben unter dem Kino stand Pfarrer Webern vor einem kleinen Altar aus Kisten und Brettern und betete vor einem Kreuz, das Knösel aus zwei Stuhlbeinen gezimmert hatte. Um ihn herum lagen die Todgeweihten, dahinter knieten die Hoffnungslosen, an den Wänden, auf den Kinoklappstühlen hockten die anderen Verwundeten, fiebernd, mit klappernden Zähnen, mit schmerzweiten Augen und zuckenden Gliedmaßen.
«… denn Euch ist heute der Heiland geboren, welcher ist Christus, der Herr«, sagte Pfarrer Webern. Seine Stimme schwebte über den vergehenden Gesichtern der Sterbenden und deckte das Stöhnen und Röcheln zu, das sich um seinen Altar versammelte.
Dann sprach er von der Liebe, von der Erlösung, von der Gnade Gottes, von der offenen Tür des Himmels, an der niemand abgewiesen werde, der rufen würde: Ich will zu DIR, Herr, denn ich bin ein armer, sündiger Mensch.
Als er betete, senkte selbst Dr. Portner den Kopf. Vor ihm lagen drei Schwerverwundete, die den Morgen nicht mehr erleben würden. Aber ihre Augen waren weit offen, ihr Blick starrte selig in die Kerzen am Altar und auf den Weihnachtsbaum aus verkohlten Dachlatten und Steppengras. Und sie falteten die Hände über ihren zerfetzten Körpern, und ihre Lippen bewegten sich lautlos, als sie alle im dumpfen Chore beteten.
Vater unser, der Du bist im Himmel… und vergib uns unsere Schuld… denn Dein ist das Reich…
Dann sangen sie, mit gefalteten Händen, die Augen auf den brennenden Baum gerichtet, ein Geisterchor fast, Stimmen aus durchgebluteten Verbänden in der Begleitung von Röcheln und wimmerndem Weinen, fiebrigen Schreien und bettelndem Stammeln.
Stille Nacht, heilige Nacht…
Vor dem Altar Paul Weberns starben bei diesem Lied sieben Soldaten. Sie streckten sich, und ihre gläsernen Augen starrten noch immer in die Kerzen, lebendige Punkte in einem ausgedörrten Leib.
Über ihnen schwieg der Krieg nicht. Die Artillerie donnerte, sowjetische Kommandotrupps durchkämmten die Trümmer in der Hoffnung, daß Weihnachten die Aufmerksamkeit der Deutschen behindere. Aber die Gräben und MG-Nester, die Bunker und Panzerstellungen, die Pak-Geschütze und Granatwerfer waren besetzt. Wenn auch zwischen den Trümmern einsame Kerzen flak-kerten, Irrlichter sich erinnernder und Abschied nehmender Herzen, wenn auch der Gesang aus den Bunkern und Erdhöhlen, den Kellern und Unterständen dumpf über die tote Stadt wehte, ein Feld singender Gräber, daß ein Schauer über die Rücken der Rotarmisten glitt… es wurde zurückgeschossen, es wurde sich weiter in den Schnee gekrallt und es wurde auch an diesem Tag gestorben, dreckig wie immer, verzweifelt und sinnlos. Aber die Nachwelt würde es Heldentod nennen, und die Jugend nach zwei Generationen würde davon lesen und es nicht verstehen und sich nicht vorstellen können, was es heißt: Krieg.
Ober die Kellertreppe des Kinos schleppten zwei Landser eine zusammengesunkene, blutende Gestalt. Feldwebel Wallritz, der mit zwei Sanitätern im Vorkeller war, um die frisch Verwundeten in Empfang zu nehmen, klappte einen der Kinostühle herunter und winkte den beiden Landsern zu.
«Setzt ihn dorthin. Ich komme gleich…«
Die beiden Soldaten blieben mit ihrer Last in der Mitte des Raumes stehen. Sie hörten aus dem Nebenkeller den dumpfen Gesang des Weihnachtsliedes; auch der Mann in ihrer Mitte richtete sich mit letzter Kraft auf und starrte aus blutverschmiertem Gesicht um sich.
Wallritz machte ein paar Schritte auf ihn zu. Vor der Brust des
Verwundeten pendelte wie bei Pfarrer Webern ein kleines Kreuz. Nur glänzte es nicht mehr… es war rot von Blut. Noch einmal sah der Mann sich um, dann sank er wieder zusammen, wurde besinnungslos und hing schlaff in den Armen der beiden Landser.
«Mein Gott, wer ist denn das?«fragte Wallritz. Er packte mit zu, und gemeinsam trugen sie den Ohnmächtigen zu einer Stellage aus Kistenbrettern.
«Unser Pastor«, sagte einer der Landser heiser.»Pastor Sanders… er machte bei uns die Weihnachtsfeier. Da kam der Iwan mit 'nem Stoßtrupp, wir 'raus in'n Graben, und plötzlich steht der Pastor auch im Graben und trägt die Verwundeten in'n Bunker. Und da hat's ihn erwischt, verdammt noch mal…«
Wallritz schnitt die Uniform auf. Aus einer breiten Schulterwunde floß Blut in Strömen. Er drückte eine dicke Lage Zellstoff darauf und rannte in den großen Keller. Durch die Singenden bahnte er sich einen Weg zu Dr. Portner, der ihm bereits entgegenkam.
«Was ist, Wallritz? Haben sie einen General eingeliefert?«
«Nein, Herr Stabsarzt. Aber ein Pastor ist da. Pastor Sanders.«
Dr. Portner hob die Schultern.»Sagen Sie dem Herrn, sein Kollege Webern zelebriert bereits die deutsche Seele. Aber wenn er will, kann er auch auf evangelisch die Stille Nacht singen lassen…«
«Er ist schwer verwundet, Herr Stabsarzt…«
Dr. Portners Gesicht wurde sofort hart, der Spott verlor sich. Er wandte sich zu Pfarrer Webern am Altar.
«Pastor Sanders ist da, Pfarrer. Verwundet. «Paul Webern ließ die gefalteten Hände sinken.
«Wo? Ich kenne ihn gut. Wir müssen sofort zu ihm.«
«Er ist nebenan.«
Dr. Portner rannte Wallritz nach, der bereits im Nebenkeller verschwunden war. Auch Pfarrer Webern rannte durch die singenden Reihen. Aber es störte die Feier nicht. Die Lichter am Altar und am Lattenbaum brannten, und es war so, als sähe man das alles nicht, als wären die Herzen weit, weit weg aus der verschneiten Steppe in einer warmen, nach Äpfeln, Nüssen und Lebkuchen riechenden Stube, in der ein Tannenbaum brennt, in der Kinderstimmen singen und sich bunte Kugeln im Lichterglanz drehen…
Dr. Portner beugte sich über Pastor Sanders. Dieser hatte die
Augen wieder offen, er war bei Besinnung und erkannte seine Umwelt.
«Sie hier, lieber Webern?«sagte er schwach und hob mühsam die Hand. Pfarrer Webern ergriff sie und drückte sie.»Daß wir uns so wiedersehen müssen…«
«Am Heiligen Abend. Gibt es einen besseren Tag, lieber Sanders?«Pfarrer Webern blickte kurz zu Dr. Portner. Der schüttelte den Kopf. Keine Lebensgefahr, hieß das. Wenn er fachgerecht versorgt wird, wird er überleben.
Fachgerecht… das hieß: Ausfliegen. Hinaus aus dem Kessel von Stalingrad, dem Massengrab von dreihunderttausend deutschen Soldaten.
Pfarrer Webern hielt Pastor Sanders’ Hände fest, als Dr. Portner und Feldwebel Wallritz die Wunde reinigten. Sanders knirschte mit den Zähnen, aber er schrie nicht. Nur seine Nägel krallten sich in die Handrücken seines katholischen Kollegen.
Im Hauptkeller sangen sie noch einmal die erste Strophe.»… schlaf in himmlischer Ruh’…«Und es waren in diesem Augenblick nur wenige, die an den ewigen Schlaf dachten.
«Mit dem nächsten Transport, morgen nacht, kommen Sie nach Gumrak, Pastor«, sagte Dr. Portner.»Ich gebe Ihnen Knösel mit. Er wird dafür sorgen, daß alles glatt verläuft.«
«Nach Gumrak?«Pastor Sanders drehte den Kopf zu Pfarrer Webern.»Warum Gumrak?«
«Sie werden sofort ausgeflogen, Sanders.«
Pastor Sanders sah von dem Arzt zu seinem katholischen Amtsbruder, von Feldwebel Wallritz zu den Klappstühlen an den Wänden, auf denen die anderen Verwundeten warteten, eisverkrustete Gestalten, eingemummt in Zeltplanen und steif gefrorene Decken.
«Nein!«sagte er. Und lauter, sich mühsam aufrichtend:»Nein!«
Dr. Portner und Wallritz sahen sich kurz an. Es war nicht nötig, daß sie ihre Gedanken aussprachen. Man wird Pastor Sanders gar nicht fragen, hieß dieser Blick. Knösel, der Unverwüstliche, wird ihn aus der Stadt schleppen. Bei den Artilleriestellungen und der Feldbäckerei wird es schon ein Fahrzeug geben, das sie weiterschafft nach Gumrak. Vor allem, weil es ein Pastor ist.
Pfarrer Webern setzte sich neben seinen evangelischen Kollegen auf den Kellerboden. Dr. Portner und Wallritz gingen zurück in den großen Keller. Die Weihnachtsfeier war beendet. Nun saßen und lagen die verfaulenden Gestalten herum und starrten auf die Kerzen, stumm, mit gefalteten Händen, die Gedanken weit weg in einer warmen Stube, in der früher um diese Zeit der Weihnachtsbraten aufgetragen wurde. Auch oben, in der Hölle, war es merkwürdig still. Die sowjetischen Granatwerfer schöpften Atem, die Stoßtrupps der Rotarmisten lagen zwischen den Trümmerbergen, hockten auf zerborstenen Häuserdecken, klebten hinter Mauerresten und sahen hinüber zu den deutschen Bunkern und Erdhöhlen.
Auf dem zerfetzten Turm eines Panzers flackerte eine dicke Kerze in einem Glas… Hindenburglichter irrten wie Glühwürmchen durch die geborstenen Häuser… auf einem Trümmerberg lag ein Toter auf dem Rücken, steif gefroren, den Arm nach oben
fereckt, als habe er noch mit dem letzten Atemzug die Sterne erabreißen wollen oder das Auge Gottes, damit es diese Qual von Hunderttausenden erkenne. Es mochte auch sein, daß er den Arm gegen eine Wand gestützt hatte, sich festkrallend, hoffend, doch noch leben zu können, bis eine neue Detonation ihm auch diesen letzten Halt raubte. Er merkte es nicht mehr, er war schon gestorben und sein Arm, hoch gereckt, vereist. Nun stach sie in den Nachthimmel, eine Hand, die nach Halt schrie… und jemand hatte in diese Hand eine Kerze gestellt. Sie brannte weithin sichtbar von diesem Trümmerberg, flackerte hinüber zu den Rotarmisten, die zwischen den zerfetzten Mauern lagen — ein Licht in der Schale einer Hand, deren Finger Gott um Hilfe riefen.
Es war der grausamste und treffendste Weihnachtsbaum von Stalingrad.
… Friede auf Erden… und den Menschen ein Wohlgefallen.
Im Norden der Stadt wurde noch geschossen. Durch die Ruinenwüste des Werkes >Roter Oktober< rannten geduckt die pelz-mützigen Rotarmisten. Unter verbogenen Eisenträgern hervor ratterten die MGs. Hier ging es um Meter, um eine Hallenecke, um eine zerrissene Maschine, um die Breite eines Deckenträgers… die Perfektion eines Wahnsinns.
«Ich gehe nicht«, sagte Pastor Sanders und lehnte sich gegen Pfarrer Webern.»Sie werden es verstehen, nicht wahr?«
«Nein, lieber Amtsbruder«, sagte Webern. Sanders drehte mühsam den Kopf zu ihm.
«Wir haben doch die Pflicht, als Seelsorger — «
«Sie haben diese Pflicht erfüllt, Sanders. Nun ist es Ihre Pflicht, zu überleben… Sie haben eine Familie, Sie haben eine Frau und drei Kinder…«
«Ich bleibe bei meinen Jungs!«Pastor Sanders’ Kopf fiel auf Weberns Schulter. Er atmete röchelnd, in der zerschossenen Schulter bohrte der Schmerz, als läge sie in glühender Asche. Wallritz hatte ihm nur die Hälfte der schmerzstillenden Injektion geben können. Sparen, hatte Dr. Portner gesagt. Auch beim Pfarrer! Der Tag war auszurechnen, an dem es überhaupt keine Medikamente mehr gab. Die Kisten, die man auf dem Flugplatz Gumrak aus den Ju 52 auslud, blieben auf dem Weg in die Stadt irgendwo liegen… schon in Gumrak selbst, wo zehntausend Verwundete herumlagen und verfaulten. Die Sanitätskisten, die wirklich verladen wurden, kamen bis an den Stadtrand. Dort waren die großen Krankensammelstellen, die alles aufnahmen, was aus den Trümmern Stalingrads nach hinten gekrochen kam. Was hier übrigblieb an Medikamenten, nahmen Melder oder Kuriere mit in die Hölle. Ein Bruchteil dessen, was jeden Tag in Gumrak landete. Es half nichts, daß Dr. Portner tobte, daß außer ihm die anderen Kellerlazarette Alarm schrien und bei den Divis ions stäben anriefen… die Heeresoberapotheker meldeten ihre Listen, legten die Zahl der eingeflogenen Kisten vor, die Transportpapiere, die quittierte Auslieferung… mehr konnte man nicht tun. Was jenseits der Schreibstuben vor sich ging, entzog sich der Kontrolle der Beamtenschaft. Es war genug, daß man selbst seine Pflicht gewissenhaft erfüllte.
Der Schmerzanfall verflog. Pastor Sanders wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn. Die vereiste Uniform taute auf, er lag in einer Pfütze von Schneewasser, in seinen Stiefeln staute es sich und weichte die Füße auf.
«Sie bleiben doch auch, Webern…«, sagte er mit knirschenden Zähnen.
«Ich habe keine Familie. Meine Familie sind meine Gläubigen.«
Pfarrer Webern nestelte die Feldflasche von seinem Koppel und setzte sie Pastor Sanders an die zitternden Lippen.»Trinken Sie noch mal. Eine Fingerspitze Tee in Schneewasser… aber ein Schuß Wodka ist drin. Wir fanden ihn im Brotbeutel eines toten Russen. Im übrigen sollten wir jetzt nüchtern denken, lieber Amtsbruder. Sie haben die Chance, ausgeflogen zu werden. Sie werden in das Leben zurückkehren. Und das ist Ihre Pflicht! Nicht allein gegenüber Ihrer Frau und den Kindern, sondern auch uns gegenüber. Verlassen Sie dieses Massengrab, überleben Sie… und dann reden Sie! Erzählen Sie denen in der Heimat von Wolga und Don und wie es hier wirklich aussieht! Schreien Sie hinein in die Sendungen des Großdeutschen Rundfunks: Nein! Das ist kein Heldenkampf mehr… das ist ein Hinmorden von dreihunderttausend deutschen Landsern und ebenso vielen russischen Vätern und Söhnen! Das ist keine Gotenschlacht — wenn ich dieses Wort schon höre! — , sondern ein Verbrechen, ein geschichtliches Verbrechen! Hier wird abgeschlachtet, weiter nichts. Und während sie im Radio Beethoven und Wagner und Liszt spielen, sooft der Name Stalingrad fällt, verrecken hier in den Kellern und Erdhöhlen Tausende von Menschen, verhungern, vergreisen, werden wahnsinnig, verbluten, werden vom Eiter zerfressen! — Das, lieber Sanders, ist Ihre Aufgabe, das müssen Sie denen in der Heimat erzählen. Dafür sollten Sie leben! Und darum werden Sie auch ausfliegen.«
«Und Sie, Webern?«
«Ich bleibe hier und verfaule mit. Ich werde mein Kreuz jedem hinhalten und nicht fragen: Bist du katholisch… bist du evangelisch?! Im Sterben sind wir alle gleich, und im Ruf nach Gott gibt es keine Unterschiede. Oder glaubt man, Christus steht an der Pforte des Himmels und sortiert die Gläubigen?«Pfarrer Webern legte den Arm um Pastor Sanders. Es war eine Geste inniger Verbundenheit.»Gehen Sie ins Leben zurück, Sanders… eine Stimme, die von Gott spricht, genügt jetzt…«
Pastor Sanders nickte. Kurz darauf schlief er vor Erschöpfung ein. Webern und ein leicht verwundeter Soldat trugen ihn zu einem Strohsack an der Kellerwand. Er war gerade frei geworden… der junge, blonde Landser, der auf ihm gestorben war, lag jetzt im Totentrichter 7, einem großen Minentrichter, in den nach vorsichtigen Schätzungen etwa 300 Tote hineingingen. Natürlich gut gestapelt, einer neben dem anderen und über dem anderen, unter Ausnutzung des vorhandenen Platzes. Eine geballte Kompanie, noch im Verschimmeln ausgerichtet. Trichter 1 bis 6 waren schon gefüllt. Die Mühe des Zuschüttens sparte man sich… das besorgte die Artillerie, die die Trümmer immer wieder umdrehte, so wie man einen Teig durchknetet, damit sich alles in ihm gut verteilt.
Die Nacht zum ersten Weihnachtstag blieb still. Man benutzte sie dazu, Nachschub heranzuschaffen. Aus den Steppenstellungen, den Zeltlagern und Erdbunkern zwischen Gumrak und Stalingrad, Gorodischtsche und Kuperassnoje, Karpowka und Baburkin zogen die grauen Gestalten in die vorderen Stellungen. Auch die Sowjets gruppierten um. Über das Eis der zugefrorenen Wolga rollten neue Panzer heran, frische Bataillone aus Sibirien und von den Grenzen der Mandschurei, Geschütze und Werkstätten, und immer wieder Menschen… Menschen… in dicken Steppmänteln, in Schafspelzen, mit Pelzmützen, gut genährt und ausgeschlafen, siegessicher und mit Haß gegen die Deutschen bis in die Mundhöhle gefüllt. Mit ihnen kamen die Propagandafunktionäre, Volkskommissare aus den Parteischulen von Moskau und Swerdlowsk. Sie verhörten die deutschen Kriegsgefangenen und sprachen den Rotarmisten, die seit dem Sommer in den zerwühlten Straßen ihrer Stadt lagen, Mut und Siegeswillen zu. Und sie brachten zu essen mit… auf jedem Panzer, der über das Eis der Wolga donnerte, klebten Kisten mit Verpflegung, Säcke mit Bohnen und Grütze, getrocknetem Fisch und Kapusta, Mehl und Sojaschrot.
Es war der 25. Dezember 1942, der erste Weihnachtstag. Das Armeeoberkommando gab die neue Lebensmitteleinschränkung bekannt mit dem Befehl, diese Kürzung erst am 26. Dezember bekanntzugeben, um die Weihnachtsstimmung nicht zu gefährden. Auch Dr. Portner bekam telefonisch diese neue Anweisung des Oberquartiermeisters der Armee durchgesagt und notierte sie sich.
«Hören Sie sich das an, Körner«, sagte er bitter. Die Brotration wird auf fünfzig Gramm pro Tag beschränkt. Mittags ein Liter Suppe aus Hülsenfrüchten, abends etwas Büchsenverpflegung oder ein zweites Süppchen… Man macht sich wirklich Mühe mit unserer Speisekarte. «Er hieb mit der Faust auf den Tisch und hielt dann die Kerze fest, einen Stummel, der für den Abend ausreichen mußte.»Rufen Sie zurück, Körner: Menü a la Hungerkünstler verstanden. Fragen an, wann Hülsenfrüchte frei Haus geliefert werden. Kreuzdonnerwetter noch mal… wenn weiterhin solche Anrufe kommen, sollte man in die Hörer kotzen!«
Immerhin war an diesem Tag und in der Nacht zum 26. Dezember ein Kommen und Gehen zwischen den Trümmern, den Kellern, in den Laufgräben, von Trichter zu Trichter. Was Dr. Portner nie geglaubt hatte, wurde Wahrheit: Nachschub kam heran! Vier Kisten mit Medikamenten, von der Bäckerei sechs Säcke heiße
Brote, vier Kartons mit Schmalzfleisch, ein Sack Grieß, zwei Säcke Mehl… Dr. Portner stand sprachlos vor diesen Schätzen und begriff nichts mehr.
«Wo kommt denn das her?«fragte er einen jungen Leutnant, der mit vierzig Mann dieses Schlaraffenland herangebracht hatte.»Mann — wie kommen Sie an das Paradies?«
Der junge Leutnant setzte sich, holte aus dem Brotbeutel eine Flasche französischen Cognac und hielt sie Dr. Portner hin.
«Auch das noch!«sagte Portner entgeistert.
Der Leutnant nickte. Er war vor Schließung des Kessels aus Kalatsch ausgebrochen und hatte bis jetzt in Woroponowo Wachdienst in dem russischen Gefangenenlager geschoben. Als Bettelkurier war er oft mit einigen LKW nach Karpowka gefahren, um Lebensmittel zu holen. Was er dort gesehen hatte, überstieg seinen Verstand.
«Wissen Sie, was in der Steppe los ist, Herr Stabsarzt? Was sich da draußen tut?«fragte er, als Dr. Portner und Dr. Körner aus der Flasche einige Schlucke Martell genommen hatten.»Sie leben hier wie die Ratten im Keller… seien Sie froh, daß Sie nichts anderes sehen als Sterbende! Da draußen verlören Sie den Verstand. Ich habe mir einiges aufgeschrieben, was ich erfahren habe. Für später… ich werde einmal, wenn wir diese Scheiße wirklich überleben, mit diesen Notizen beweisen, welche Schweine es unter uns gab, die Tausende von uns auf dem Gewissen haben, nur weil ihr Beamtengehirn an Bestimmungen denkt. «Er holte aus der Brusttasche ein kleines schwarzes Notizbuch und las daraus vor.»In Karpowka lagern seit Wochen dreiundvierzig Waggons mit Alkohol. Es war ein Sonderzug aus Oels. In diesen dreiundvierzig Waggons befinden sich dreitausendsiebenhundertvierundsechzig Kisten mit Sekt, Branntwein, Likör und Wein. Jeden Tag knallen durch die Kälte Hunderte von Sektflaschen auseinander… aber von diesen Zehntausenden von Flaschen in den dreiundvierzig Waggons wird nichts ausgegeben, weil eine Transportbestimmung noch nicht eingegangen ist! In Jassinowotaja stehen zweiunddreißig Eisenbahnwaggons mit den Weihnachtspäckchen für die 6. Armee. Dreieinhalb Millionen Päckchen sind es! Dreieinhalb Millionen! Aus der Heimat. Mit Kuchen, mit Plätzchen, mit warmen Pullovern, mit Wollsocken, mit Ohrenschützern, mit Pulswärmern, mit lieben Briefen, mit Äpfeln und Nüssen… Aber sie liegen da, wurden ausgeladen und gestapelt, mit Zeltplanen überdeckt und verfaulen… Und warum? Weil kurz vor Weihnachten die Eisenbahntruppe im Kessel mangels Brennstoff den Zugverkehr einstellte! Die Zahlmeister aber haben die Anweisung, die Weihnachtspäckchen per Bahn zu den Truppen zu befördern! Es fährt keine Bahn… also wird nicht transportiert. Auch wenn täglich Hunderte von Lastwagen vorbeikommen, die die Päckchen mitnehmen können! Nein, das geht nicht! Das steht in keiner Bestimmung!«Er hielt die Flasche noch einmal hoch.»So, nun trinken Sie noch mal, Herr Stabsarzt. Man muß besoffen sein, um das zu begreifen! Wissen Sie, was ich getan habe? Ich habe mir einfach’ das genommen, was ich nehmen konnte. Ich habe alles, was Sie hier sehen, organisiert, aus den Lagern um Stalingrad, die zum Teil überlaufen von Material, auf dem die Zahlmeister sitzen wie brütende Glucken. Ein Tatbericht ist unterwegs… ich habe einen dieser fetten Beamten geohrfeigt und in sein Zimmer eingesperrt, bis meine Leute sich beladen hatten. Mir ist wurscht, was kommt… ich möchte den sehen, der mich deswegen hier aus den Trümmern ’rausholt! Und nun trinken Sie, Doktor…«
Am Abend des 26. Dezember war Knösel reisebereit. Er hatte eine schöne Zeltplane organisiert und zwei starke Männer, die unter seiner Oberleitung Pastor Sanders zum nächsten Sammelplatz tragen sollten. Die Fahrt mit dem LKW wollte Knösel dann allein fortsetzen. In Gumrak muß es was zu fressen geben, hatte er verkündet. Und Knösel kommt nicht ohne zurück!
Nun tappte er durch die Keller des Kinos und suchte Pastor Sanders. Das Kommen und Gehen des Nachschubs und der Verwundeten erschwerte das Suchen. Sanitätsfeldwebel Wallritz sah ratlos auf den Strohsack, auf dem Pastor Sanders noch vor vier Stunden gelegen hatte. Wallritz wußte es genau, er hatte Sanders neu verbunden und ihm als erstem Sulfonamidpuder auf die Wunde gestreut, Puder, der gerade mit den Medikamentenkisten angekommen war. Nun lag ein aschgrauer Unteroffizier auf dem Strohsack; das Bein war ihm weggerissen, und das Fleisch des Schenkels über dem Verband war rot-schwarz. Wundbrand, dachte Wallritz. Hoffnungslos. Aber wo ist der Pastor?
Mit Knösel rannte er von Keller zu Keller. Sie riefen den Namen Sanders, sie gingen von Körper zu Körper. Pastor Sanders war nicht mehr da.
«Warten Sie hier, Knösel«, sagte Wallritz heiser.»Ich hole den Chef.«
Auch Dr. Portner, der sofort mit Pfarrer Webern in den großen Keller kam, konnte nur auf den Strohsack mit dem sterbenden Unteroffizier starren und die Schultern zucken. Pfarrer Webern umklammerte sein Brustkreuz.
«Ich habe so etwas geahnt«, sagte er leise.»Er wollte nicht weg…«
«Aber um Himmels willen, wo ist er denn hin?«schrie Portner.»Mit dieser Verwundung?!«
«In irgendeinen Keller… bei anderen Verwundeten, bei Sterbenden, bei auf den Tod Wartenden, neben einem MG…«Pfarrer Webern senkte den Kopf.»Ich gebe es zu… ich wäre auch nicht aus der Stadt gegangen.«
«Mein Gott… dieses Heldentum stinkt widerlich!«schrie Dr. Portner.»Können die Deutschen nicht aufhören, ein Volk von Selbstmördern zu sein unter der Maske des Heroischen?«
«Sie sehen es falsch, Doktor. «Pfarrer Webern tastete wieder nach seinem kleinen goldenen Brustkreuz. Auch ich brauche Kraft, dachte er. Mehr Kraft, als ihr alle ahnt. Ich habe Angst vor dem Tod, hündische Angst. Aber ich darf sie nicht zeigen… ich muß trösten und beten und Augen zudrücken und Gott um Gnade bitten. Auch für mich… Mein Gott, gib mir Kraft, immer wieder Kraft. Auch ich bin nur ein Mensch und habe wie sie alle Angst…»Gott hat mich hier hingestellt, und wo er mich hinführt, da bleibe ich, bis er mich weiterruft. Mein Platz ist dort, wo man beten will… ob in einem Granattrichter oder auf einem Kaminrest, im Eisengeflecht einer Betondecke oder in einer Kanalröhre oder hier, bei Ihnen, in der Unterwelt aus Blut und Eiter. Ich glaube, auch Sie verstehen Pastor Sanders…«
Dr. Portner gab darauf keine Antwort. Er wandte sich ab und stapfte in seinen Operationskeller zurück. Knösel stand mit hängender Pfeife neben Pfarrer Webern und saugte schmatzend am trockenen Mundstück.
«Wat denn nun?«fragte er.
«Fehlmeldung, Knösel.«
«Aba ick muß doch nach Gumrak. Alles is orjanisiert. Ne scheene Zeltplane… Pastor hin, Fressen zurück… so hab' ick mir det jedacht. Und nu?«Er kratzte sich den Kopf, wozu er den
Stahlhelm nach vorn über die Augen schob.»Weit kann er nich sein«, sagte er dumpf, weil der Helmrand auf die Nase drückte.
«Wer?«Pfarrer Webern starrte auf den weißgestrichenen Helm vor sich.
«Der Pastor. Mit der zerschossenen Schulter… und vor ’ner Stunde war er doch noch da! Ick jeh ihn suchen.«
«Knösel! Sie bleiben!«
Pfarrer Webern hielt ihn am Ärmel fest. Knösel überlegte, ob er sich mit einem Ruck befreien oder höflich bleiben sollte. Ist’n geistlicher Herr, dachte er. Bleib also friedlich, Hans.
«Außadem muß ick ihn sprechen. Ick hab’ was auf’n Herzen. Und er ist doch mein Pastor, nich?! Ick kann mir erinnern, wat Se vorhin in der Morgenpredigt im Keller 3 jesagt haben: Man soll Jott suchen… Also denn… ick suche ihn!«
«Knösel!«Pfarrer Webern griff ins Leere, als er erneut zufassen wollte. Der Obergefreite Schmidtke war bereits die steile Treppe hinauf. Vier Mann mit Kisten, die die Treppe heruntertappten, verhinderten ein Nachlaufen. Pfarrer Webern sah noch, wie Knösel über die Verwundeten stieg, die auf den Treppenstufen lagen und warteten, wie auf einem holprigen Transportband nach unten geschoben zu werden.
Dr. Portner, Dr. Körner und Feldwebel Wallritz saßen dicht vor einem kleinen Batterieempfänger und lauschten, als Pfarrer Webern aufgeregt in den Operationskeller stürmte.
Aus dem runden Lautsprecher tickte es. Klar und deutlich.»Tick… tick… tick…«
«Was ist denn das?«Pfarrer Webern blieb an der Tür stehen. Auf dem Küchentisch lag ein toter Soldat, er war Dr. Körner während der Operation gestorben. Ein Bauchschuß.
«Die fröhliche Weihnachtssendung des Moskauer Rundfunks, Pfarrer. Zufällig bekamen wir sie. Hören Sie sich das mal an. Da…«
Aus dem Radio kam eine klare Stimme.
«Alle sieben Sekunden stirbt in Rußland ein deutscher Soldat. Stalingrad — Massengrab…«
Stille. Dann wieder das Ticken der Todesuhr… tick… tick tick… Siebenmal. Und wieder die Stimme:
«Alle sieben Sekunden stirbt in Rußland ein deutscher Soldat…«
Dr. Portner drehte das Radio aus. Pfarrer Webern war bleich geworden.»Wie furchtbar«, sagte er leise.
«Dämlich ist das!«Dr. Portner winkte. Wallritz und Körner hoben den toten Körper vom Küchentisch.»Nicht mal zählen kann der Iwan! Oder er ist großzügig. Alle sieben Sekunden… bei unserer deutschen Gründlichkeit geht das schneller…«
Und Pfarrer Webern vergaß, von Knösels Suchgang zu berichten.
Iwan Iwanowitsch Kaljonin hatte es sich gemütlich gemacht. Man soll es nicht glauben, aber auch so etwas gab es in Stalingrad. Wenn man keine Ansprüche an Luxus stellte, war eine Mulde zwischen zwei herabgestürzten Decken wirklich ein gemütliches Plätzchen. Hier konnte man ein Nickerchen machen, seine Zigarette aus der Prawda drehen, vor sich hinträumen, ein Liedchen singen — ich bitte, warum nicht, wenn einem der Sinn danach steht
— und ab und zu den Kopf heben und hinübergucken zu den Deutschen, ob sie auch schön brav sind und ihr Weihnachtsfest feiern.
Doppelt glücklich war Kaljonin, weil er am sogenannten Heiligen Abend beschert worden war. Nicht von Englein oder dem Weihnachtsmann — den hatten die Bolschewiki abgeschafft —, sondern von Veraschka, seinem süßen Weibchen. Plötzlich war sie in dem Haus, zwischen dessen zerborstenen Decken es sich Kaljonin so gemütlich gemacht hatte, sie war einfach da, kroch zu ihm, fiel ihm um den Hals und sagte, als sei es ganz natürlich:»Ein frohes Fest, Wanja…«Dann hatte sie ihn geküßt, hatte sich an ihn ge-kuschelt, seinen Bart gestreichelt und eine Flasche Knollenschnaps ausgepackt.
«Wo kommst du her, Veraschka?«hatte Iwan Iwanowitsch streng gesagt.»Hier ist die Front, mein Täubchen. Sie können dir die Flügelchen wegschießen. Und was dann? Los, zurück! Woher weißt du überhaupt, daß ich hier bin?«
«Von Piotr, der dir die Verpflegung gebracht hat. Er wollte erst nichts sagen, aber dann habe ich ihm ein Büchschen Sojabohnen in den Rock gesteckt. Freust du dich, Wanja?«
Und wie er sich freute, der gute Kaljonin. Er trank ein paar lange Schlucke aus der Flasche und faßte Vera um die Taille. Ein bißchen unbequem war's schon, ein wenig hart im Kreuz und vor allem uneben, aber Iwan Iwanowitsch war ein kluger Junge. Er zog seinen Mantel aus und baute aus Steppstoff und Brotbeutel ein schönes Lager in der Deckenmulde.
«Du wirst frieren, Wanja«, sagte Vera, als er sie auf seinen Mantel legte.»Du zitterst schon.«
«Das ist etwas anderes, Täubchen«, stotterte Iwan Iwanowitsch. Er fror erbärmlich, zugegeben, aber so etwas gesteht man nicht in dieser Situation. Er hoffte darauf, daß es ihnen beiden bald warm werden würde. So war’s denn auch; sogar schwitzen tat er, der brave Kaljonin, und sein Frauchen kam sich vor, als würde sie gebacken.
Später saßen sie nebeneinander und sahen hinüber zu den Weihnachtskerzen der Deutschen.
«Schön sind eigentlich diese Kerzen, nicht wahr, Wanja?«sagte Vera Kaijonina verträumt und lehnte an Kaljonins Schulter.»Mamuschka zündete auch immer eine Kerze an… ich kann mich daran erinnern… auch wenn Papuschka schimpfte. Er war ein großer Bolschewik…«
«Auch wir brannten Kerzen«, sagte Vera.
Gegen Morgen kroch Veraschka wieder zurück zum Lazarett und ließ Iwan Iwanowitsch mit teils traurigen, teils sündigen Gedanken in seiner zerborstenen Hausdecke zurück. Er schlief ein wenig, und keiner kann ihm das verübeln, denn schließlich hatte er eine lange Nachtwache am Busen Veraschkas hinter sich.
Knösel war zurückgekehrt, ohne Pastor Sanders gefunden zu haben. Am Abend des 26. Dezember ging Weihnachten zu Ende… sowjetische Panzer, frische mongolische Truppen und sechs Batterien Stalinorgeln brachen aus dem >Tennisschläger< vor und hämmerten auf die deutschen Kellerbunker. Kalkstaub und Schneenebel zogen träge über die Trümmerwüste. Aus ihrem Schutz heraus sprangen die Stoßtrupps, zischten die prasselnden Ölfinger der Flammenwerfer, ratterten die Panzer durch die Straßen und walzten die deutschen Trichterstellungen nieder.
Aber noch etwas anderes geschah, was ungewöhnlich war: Der junge Leutnant, der mit seinem Ersatz und seiner gestohlenen Verpflegung im Keller bei Dr. Portner saß und nicht wußte, wohin er mit seinen Männern sollte, weil alle Telefonleitungen zerschossen waren und der Funkverkehr nach dem Feuerüberfall abriß, dieser junge Leutnant mit dem Gesicht eines Greises stand neben dem Funkgerät und sah zu, wie der Funker sich bemühte, irgendeine Verbindung zu bekommen. Plötzlich sah er Stabsarzt Dr. Portner an, wollte etwas sagen, lächelte grundlos und sank um. Dr. Körner riß ihm die Uniform auf, legte das Ohr auf seine Brust und schüttelte den Kopf.
«Tot!«sagte er völlig ratlos.
«Schon wieder einer!«Dr. Portner half mit, den jungen Leutnant auf den Küchentisch zu heben.»Sobald irgendeine Verbindung zustande kommt, lassen Sie die Meldung durchgehen. In den letzten neun Tagen hat unser Regiment vierzehn Ausfälle durch plötzlichen Herztod gehabt. Die Leute stehen herum, graben neue Stellungen, stützen sich auf den Spaten, spielen Karten, trinken aus der Feldflasche… und plötzlich fallen sie um und sind tot! Wir haben das schon mal gemeldet… aber in Pitomnik scheint man auf den Ohren zu sitzen!«
Bei dem Armeeoberkommando westlich Gumrak stapelten sich die Meldungen von allen Frontabschnitten des Kessels. Ein Oberarzt sammelte sie gewissenhaft in einem roten Schnellhefter. Sie wurden zur Geheimen Kommandosache. Überall machte man die gleichen Beobachtungen… völlig gesunde Männer fielen plötzlich ohne Feindeinwirkung um und starben einen Sekundentod.
Ein Befehl ging an alle Truppenärzte, denen solche Todesfälle vorkamen: Keine Beerdigung der Leichen. Die Körper sollen eingefroren werden. Bei 35 Grad Kälte war dies kein Problem. Man lebte ja in einem riesigen Eisschrank.
Der Generalarzt sprach mit Berlin.
Berlin antwortete sofort.
Das deutsche Oberkommando wird einen Pathologen in den Kessel von Stalingrad einfliegen lassen.
Einen Pathologen?
Ja. Einen Oberarzt von Professor Dr. Rößle, einen hervorragenden Anatomen. Er wird den geheimen Auftrag mitbringen, festzustellen, warum so viele Soldaten ohne äußere Einwirkung so plötzlich sterben. Er wird Leichenöffnungen vornehmen, Sezierungen, anatomische Untersuchungen. Das Oberkommando ist sehr an einer Klärung der geheimnisvollen Tode interessiert, denn… diesen plötzlichen Tod, diesen Tod aus dem Nichts gibt es nur in Rußland… nur bei der 6. Armee…!
Am 20. Dezember tickte es im Funkgerät des Kellerlazaretts am >Tennisschläger<. Der Funker nahm die Meldung auf und schob Dr. Portner den Text auf den Operationstisch.
«Morgen früh 8.30 Uhr Bereitstellung zur Sektion. Bergner, Oberstarzt, Ende.«
«Das ist etwas für Sie, Körner«, sagte Dr. Portner und verband weiter einen Armstumpf.»Sie traben heute nacht mit unseren drei Spontantoten los nach Gumrak. Wallritz und Rottmann begleiten Sie.«
Um drei Uhr früh, bei heulendem Schneesturm, rannten sie los. Vorweg der stämmige Rottmann, der Feldgendarm, der den Anschluß verloren hatte und nun zum Lazarett gehörte, der die Strohsäcke aufschüttelte, abends in Operationspausen den Küchentisch von Blut, Eiter und Knochensplittern blank scheuerte, der die Toten aus den halbwegs ganzen Uniformen pellte und sie den Verwundeten überzog, die halbnackt und blaugefroren den Weg von ihren Bunkern und Gräben bis zum Kino zurückgekrochen waren, der trotz der 50 Gramm Brot am Tag noch immer etwas feiste Emil Rottmann mit den Schlangenaugen und dem Freifahrschein nach Hause in Hirn und Herz, der nicht von der Seite Wallritz’ wich, weil dieser für ihn das Leben bedeutete, dieser imitierte Bulle, wie ihn Knösel nannte, rannte voraus. Ihm folgten sechs Träger, die zwischen sich in Zeltbahnen drei steifgefrorene Leichen trugen. Beim Rennen stießen die Körper gegen Mauern und Trümmer, man brauchte keine Rücksicht mehr zu nehmen, die Kameraden in den Zeltplanen spürten längst nichts mehr. Den Leichenträgern folgten Dr. Körner und Feldwebel Wallritz. Wallritz trug eine prallgefüllte Meldetasche bei sich.
«Ich lege Ihnen ans Herz, die Meldungen dem Oberarzt selbst zu geben!«hatte Dr. Portner zu ihm gesagt.»Und wenn der alte Herr huch macht und umfällt, können Sie ihn gleich bei dem Anatom auf den Seziertisch legen! Vielleicht werde ich auch erschossen wegen Wehrkraftzersetzung.«
«Was steht denn da drin, Herr Stabsarzt?«Wallritz sah seinen Chef nachdenklich an.
«Die Wahrheit, Wallritz. Was wir brauchen, und was wir bisher gekriegt haben! Und was ich über diese Sauerei denke. Alles zusammen ist das strafbar, denn ein deutscher Soldat denkt nicht, er gehorcht nur! Und nun hauen Sie ab.«
Außerhalb der Trümmerwüste, an der Zariza, wartete ein Lastwagen auf sie. Er war umringt von verzweifelten Verwundeten, die im Schnee standen, hockten oder lagen, ein Wall von Leibern, dicht um das Fahrzeug geschart, das für sie Rettung bedeutete,
Fahrt nach Gumrak, zu den Flugzeugen, die sie mitnehmen würden… Sie wußten nicht, daß in Eisenbahnwaggons und Zelten rund um den Flugplatz Zehntausende lagen und täglich hundert steifgefrorene Leichen aus den Wagen und Zelten geworfen wurden, wie Holzbretter auf einen Haufen. Stapel der Namenlosen. Ein Hügelland aus grauen Leibern, dem der Schnee barmherzige Decken gab.
Vor dem Lastwagen standen drei Landser mit angelegter Maschinenpistole. Als der kleine Trupp mit den drei Zeltplanen aus dem Schneesturm auftauchte, kam Bewegung in die Verwundeten.
«Kumpels, es geht los!«schrie jemand.
Aus dem Schnee reckten sich Arme und Hände. Auf dem Bauch krochen sie zu dem Wagen. Die Gehfähigen traten rücksichtslos auf die Rücken der Kriechenden und stampften sie in den Schnee. Eine Welle von Wahnsinn und nackter Lebensangst brandete auf die drei mit den Maschinenpistolen zu.
«Stehenbleiben!«brüllte einer von ihnen, ein Feldwebel.»Jungs, ich lasse schießen! Der Wagen gehört dem Generalarzt.«
«Scheiß was auf deinen General! Wir wollen mit!«schrie jemand.»Wir wollen hier nicht verrecken!«
«Ich schieße!«brüllte der Feldwebel.»Zurück! Seid doch vernünftig… zurück…«
«Rennt sie um!«Ein greller Schrei aus der Tiefe der heranwankenden Leiber.»Zerreißt sie, die Lumpen!«
Der Feldwebel zögerte. Er starrte in hohle und aufgedunsene Gesichter, in irre Augen und aufgerissene Münder, in Totenschädel, in denen es lebende Augen gab, auf Skelette, die durch den Schnee hüpften.
Da schoß er. Zuerst vor der heranschwankenden Mauer in den Schnee, dann auf die Beine der ersten. Sie brüllten auf, fielen in den Schnee, und die anderen trampelten über sie hinweg und stürmten weiter. Bis er die ersten erschoß… er mußte es tun, denn sie kamen auf ihn zu, zerbrochene Gewehre wie Keulen in den Fäusten schwingend. Als die drei ersten zusammensanken, blieb die Mauer stehen. Der Klang der Schüsse hatte ihren Widerstand zerschmettert.
Dr. Körner und Wallritz gingen stumm zum Wagen, die Zeltplanen mit den drei Toten wurden aufgeladen, die Träger und Emil Rottmann folgten. Neben Körner und Wallritz standen die drei Fahrer schußbereit.
«Wieviel können wir mitnehmen?«fragte Dr. Körner leise.
«Keinen, Herr Assistenzarzt. «Der Feldwebel beugte sich zu ihm.»In Gumrak ist es ja noch schlimmer als hier. Und wenn wir einen mitnehmen, wollen sie alle mit. Sie sehen doch, daß sie halb wahnsinnig sind.«
Aus der geballten Masse der Verwundeten trat ein Mann vor. Er hatte den Kopf verbunden, aber das Blut war durchgesickert und vereist. Er sah aus, als trage er eine rote Haube. Dr. Körner biß sich auf die Lippen. Viel zu wenig Binden, dachte er. Die Kälte frißt sich in die Kopfwunde. Daß er überhaupt stehen kann, denken kann, reden kann.
«Hauptmann von Beukow«, sagte der Mann und verbeugte sich korrekt.»Sie leiten diesen Transport, Herr Assistenzarzt?«
«Es ist kein Transport, Herr Hauptmann. Ein Sonderwagen des Herrn Generalarztes…«Dr. Körner schluckte krampfhaft. Für drei Tote schickt man einen Wagen, dachte er. Für drei Tote hat man Sprit von Gumrak nach Stalingrad und zurück. Und dort stehen dreihundert Verwundete, die man in der Steppe krepieren läßt, weil es kein Fahrzeug gibt, das sie abholt. Dreihundert Väter, Söhne, Männer, von denen zweihundert weiterleben könnten.
Hauptmann von Beukow blickte auf die drei Zeltplanen im Hintergrund des Wagens.»Dann handelt es sich bei den drei Kameraden wohl um drei hochgestellte Herren?«
«Nein. Um drei Tote.«
«Um was, bitte?«
«Um Tote, Herr Hauptmann. Wir haben einen Sonderwagen für Tote. Sie wundern sich?«
«Nein, wie Sie sehen. Ich habe in Stalingrad das Wundern verlernt. Besteht die Möglichkeit, daß sich Ihrem Totentransport auch einige Lebende anschließen?«
Dr. Körner wandte sich ab. Er wußte nicht, für wen er sich schämte, aber er schämte sich. Vielleicht schämte er sich, daß er noch lebte.
Hauptmann von Beukow stellte sich an den. Wagen. Er starrte auf die im Schnee Liegenden, die wimmernd und flehend die Hand hoben, die wieder gekrochen kamen, in letzter, aufbäumender Kraft, den Wagen, das Leben zu erreichen.
«Die ersten zwanzig…«, sagte von Beukow.»Wer sich vordrängt, wird erschossen. Los… vortreten… die ersten zwanzig…«
Als der Lastwagen anfuhr, war er überladen. Selbst auf den Trittbrettern und dem Kühler hockten die Verwundeten.
Hauptmann von Beukow blieb zurück bei den anderen, den Hoffnungslosen. Bevor Dr. Körner ins Führerhaus kletterte, hielt ihn der Hauptmann fest.
«Herr Kamerad, darf ich um Ihre Pistole bitten… ich habe meine unsinnigerweise weggeworfen.«
Körner zögerte. Er starrte in die flehenden Augen des Offiziers, auf die ausgestreckte, blaugefrorene, aber ruhige Hand. Da nestelte er seine Pistole aus dem Futteral und legte sie in die bittende Hand des Hauptmanns.
«Danke, Herr Kamerad. «Hauptmann von Beukow grüßte. Dann fuhr der Wagen an… nach einem Aufheulen des Motors schluckte der Schnee jedes Geräusch. Nur den trockenen Knall eines Schusses verschluckte er nicht. Dr. Körner hörte ihn… er hatte auf ihn gewartet.
Hauptmann von Beukow, dachte er. Wie wird es draußen in Deutschland heißen? Gefallen auf dem Feld der Ehre für Großdeutschland. In stolzer Trauer…
Man müßte schreien, dachte er. Man müßte nichts anderes tun als schreien… schreien… immer nur schreien…