Kapitel 3

Als er vor ihr stand, war es nicht Marianne. Es war ein junges Mädchen in einem braunen Wintermantel mit schmalem Fuchspelzkragen; um sie herum standen einige Koffer und Schachteln, und sie sah sehr verlassen und unglücklich aus. Als habe sie Dr. Körner erwartet, ging ein freudiges Leuchten über ihr schmales Gesicht. Sie streckte ihm die Hand entgegen und atmete sichtbar auf.

«Gut, daß Sie endlich kommen«, sagte sie.»Ich hatte schon Angst, man hätte mich vergessen.«

«Verzeihen Sie. «Dr. Körner verbeugte sich korrekt. Die Enttäuschung, daß es nicht Marianne war, machte ihn unsicher und schnürte seine Kehle zu. Er blickte sich noch mehrmals suchend um, aber der Zug hatte sich geleert, die meisten Angekommenen hatten die Sperre und die Kontrolle der Feldjäger passiert. Die Lok wurde bereits abgekoppelt. Durch die Wagen ging eine Streife, um etwaige Schlafende zu wecken und aus dem Zug zu werfen. Auch das war schon vorgekommen, daß Urlauber die Ankunft in Warschau verschliefen, umrangiert wurden und aufwachten, als sie wieder auf der Rückreise in die Heimat waren. Dr. Körner wandte sich wieder dem Mädchen zu, das mit erstaunten, fragenden Augen einen der Koffer vom Boden genommen hatte und darauf wartete, daß sie gingen.

«Erwarten Sie noch jemanden?«fragte sie.

«Ja. Meine Frau…«

«Ihre Frau?«

«Sie wollte mit diesem Zug kommen.«

«Von Berlin?«

«Von Köln.«

«Vielleicht hat sie in Berlin den Zug verpaßt. Auf der Strecke Köln — Berlin waren einige Angriffe.«

Dr. Körner nickte. Ein beklemmendes Gefühl stieg in ihm auf. Ich werde noch ein Telegramm schicken, dachte er. Mit bezahlter Rückantwort. Er wollte sich abwenden und zurück zur Sperre gehen, aber das Mädchen hielt ihn am Ärmel fest.

«Wohin gehen wir?«fragte sie.»Ich weiß überhaupt nichts. Es hieß, ich würde abgeholt und in meine Dienststelle eingewiesen. Wohne ich in einem Hotel, oder hat man ein Zimmer für mich? Ich weiß überhaupt nichts…«

Dr. Körner kam es erst jetzt zum Bewußtsein, daß man ihn verwechselte. Er grüßte und stellte sich vor. Die Augen des Mädchens wurden groß und weit vor Hilflosigkeit.

«Sie sind Arzt?«sagte sie leise.»Aber… ich — ich soll doch im Sekretariat des Gouvernements anfangen. Warum — «

«Sie verwechseln mich offensichtlich, mein Fräulein.«

«Sie sind nicht hier, um mich abzuholen?«

«Nein. Ich wollte meine Frau…«

«Ja, das sagten Sie. «Das Mädchen bekam blanke Augen. Plötzlich weinte es und setzte den Koffer wieder auf den Bahnsteig.»Wo soll ich denn hin?«sagte sie wie ein verlaufenes Kind.»Ich weiß doch gar nichts…«

Dr. Körner sah sich um. An der Sperre standen zwei Feldpolizisten. Ihre blanken Schilde vor der Brust leuchteten auf, wenn sie sich bewegten. Körner hob beide Arme und winkte. Die beiden sahen herüber, überlegten, einigten sich schließlich und kamen langsam näher. Sie grüßten ein wenig lässig und warteten ab, was der junge Assistenzarzt von ihnen wollte. Hier auf dem Bahnhof waren sie wie kleine Könige. Sie blockierten die Sperre wie Erzengel das Paradies, und es war ihnen immer eine tiefe Genugtuung, wenn selbst Offiziere ihre Marschbefehle vorzeigen mußten.

«Hier hat man ein Fräulein vergessen«, sagte Dr. Körner.»Sie sollte abgeholt werden, aber niemand ist gekommen.«

«Das kommt vor«, sagte der eine Feldpolizist.

«Ihre saudummen Bemerkungen können Sie unterlassen. «Dr. Körner war wütend. Zu Enttäuschung und Angst kam das Wissen, daß seine Zeit in Warschau bald abgelaufen war. Man sollte mit dem Leiter der Lazarettplanungsstelle sprechen, dachte er. Vielleicht kann er mich nach Köln beurlauben. Hier in Warschau sitzt man ja doch nur herum… nominell für die Beratungen aufgeführt, aber völlig ohne Meinung in dem Kreis der Planungsexperten. Was kümmert einen planenden Beamten die Erfahrung eines Frontoffiziers? Alles schon einkalkuliert, hatte man ihm gleich zu Anfang gesagt. Wir leben doch nicht hinter dem Mond, mein Bester. Bei der Truppe denkt man anscheinend, wir im Hinterland fressen und saufen und huren bloß. Auch wir arbeiten, zerbrechen uns die Köpfe zum Wohle der kämpfenden Truppe und leisten unseren Beitrag zum glorreichen Endsieg. Wer trägt denn die ganze Last des Nachschubs für Stalingrad? An wem liegt es, daß alles so vorzüglich klappt? Na also… überlassen Sie also alles uns, junger Mann… Und so war man froh, daß sich Dr. Körner mehr um das Kommen seiner Frau kümmerte als um den Aufbau eines großen Lazarettbereiches bei Kalatsch.

Die Stimme des Feldpolizisten riß ihn aus seinen Gedanken.

«Ihre Papiere«, sagte er zu dem weinenden Mädchen. Dr. Körner fuhr herum.

«Sie könnten auch höflicher sein.«

«Ich bin im Dienst, Herr Assistenzarzt.«

«Ach so. Das ändert allerdings vieles.«

Der Feldpolizist lief rot an, aber es war keine Scham, sondern offener Unwillen. In seinem Blick lag deutliche Wut. So etwas haben wir gern, sagten diese Augen. Junge Schlipse mit großer Fresse. Wollen den Weibern durch Forschheit imponieren. Heute abend haste sie im Bett, und wir schieben wieder Wache an der Sperre. Ein Scheißleben ist das.

«Gouvernement«, sagte der Feldpolizist.»Das ist eine private Dienststelle. Da sind wir nicht zuständig.«

«Aber das Fräulein kann doch nicht auf dem Bahnsteig übernachten«, rief Körner.

«Wenn der Herr Assistenzarzt helfen würden, ein Hotelzimmer zu suchen?«Der Feldpolizist grinste unverhohlen. Das will-ste doch bloß, mein Junge, sagte dieses Grinsen. Ein bißchen Theater, wie anständig du bist, ist immer gut und hebt das Vertrauen der jungen Dinger. In Wirklichkeit juckt dir schon die Hose. Junge, das kennen wir. Geh mit ihr ins Hotel, und morgen ist noch immer Zeit, die zuständige Dienststelle zu suchen. Sieh, das Gute ist so nah…

«Es muß doch festzustellen sein…«Dr. Körner sah auf das hilflose, weinende Mädchen inmitten der Koffer.»Kommen Sie«, sagte er mit einem tröstenden Unterton.»Wir werden schon Ihr Domizil finden, ich helfe Ihnen weiter.«

«Danke, Herr Doktor. «Das Mädchen nahm den Koffer wieder auf. Dr. Körner packte die anderen. Die Feldpolizisten grinsten wieder.

«Einen schönen guten Abend«, sagte der eine noch. Dr. Körner verhielt den Schritt und überlegte, ob er sich umdrehen und losbrüllen sollte. Aber dann ging er doch weiter. Es hat keinen Sinn, dachte er. Sie schütteln es ab wie ein Hund das Wasser aus dem Fell. Es hat alles keinen Sinn. Warum ist Marianne nicht gekommen? Warum schickt sie kein Telegramm? Ist in Köln etwas geschehen? Die Angst stieg wieder in ihm hoch und preßte sein Herz zusammen.

«Wohin gehen wir?«fragte das Mädchen neben ihm.

«In mein Hotel«, sagte Dr. Körner.

«Ich heiße Monika Baltus.«

Dr. Körner nickte. Ein Name, den er morgen schon vergessen haben würde.

«Ich bin nach Warschau dienstverpflichtet worden«, sagte Monika Baltus, als sie aus dem Bahnhof kamen und auf dem Vorplatz stehenblieben.»Mein Vater hat sich dagegen gewehrt, er ist von Stelle zu Stelle gerannt, aber es war nichts zu machen. Im Gegenteil, sie haben zu ihm gesagt: Wollen Sie als Nationalsozialist den Aufbau des Ostens sabotieren? Da wußten wir, daß es keinen Sinn hat, die Verpflichtung rückgängig zu machen…«

Mit einem alten, klapprigen Auto, das als Taxi für Offiziere mit Gepäck diente, fuhren sie zum Hotel >Ostland<. Hinter der Theke der Rezeption machte der Chefportier einen tiefen Diener vor dem deutschen Offizier.

«Willkommen, gnädige Frau«, sagte er und holte den Schlüssel vom Schlüsselbrett.»Werden der Herr Mediziner und Gattin heute bei uns speisen? Ich kann Ihnen anbieten etwas Erlesenes. Gefüllte Täubchen. Jung, zart…«

«Es ist ein Irrtum. «Dr. Körner stellte die Koffer ab.»Meine Frau ist nicht mitgekommen. Ich möchte für Fräulein Baltus ein Einzelzimmer.«

«Oh, das ist schade. «Der Chefportier sah Dr. Körner mit einer Mischung von Verständnis und Tadel an.»Ein Einzelzimmer. Nummer fünfundvierzig. Neben dem Herrn Mediziner. Nur das Bad liegt dazwischen, aber es hat zwei Türen…«Er reichte den Schlüssel zu Monika Baltus und lächelte süffisant.»Also ein Tisch mit zwei Gedecken im kleinen Saal. Darf ich notieren?«

«Bitte.«

Ein älterer Hausdiener brachte die Koffer weg. Monika Baltus gab Körner beide Hände.»Ich danke Ihnen vielmals, Herr Doktor«, sagte sie leise.»Ich hatte solche Angst… allein, in einer fremden großen Stadt…«

«Wir werden morgen alles für Sie regeln. Ich schlage vor, wir treffen uns um zwanzig Uhr hier wieder in der Halle.«

Er winkte ihr nach, als sie mit dem Lift nach oben fuhr. Aber es war ein mechanisches Winken. Was ist mit Marianne, dachte er immer wieder. In den Wehrmachtsberichten steht nur immer etwas von Störangriffen und geringem Sachschaden. Vielleicht ist das Telegramm gar nicht angekommen? Die Leitung könnte gestört sein, die Empfangsstation der Kölner Post, oder das ausgeschriebene Telegramm war bei einem Angriff verlorengegangen… es gab so viele Möglichkeiten.

Er ging zur Rezeption zurück. Der Chefportier nickte mehrmals.

«Ein schönes Fräulein, Herr Mediziner. Ich habe Vertrauen zu Ihnen, Sie sagen es nicht weiter… ich habe noch einen Posten französischen Sekt. Ich lasse eine Flasche aufs Zimmer stellen, wenn’s recht ist…«

«Zunächst ein neues Telegramm. Mit Rückantwort.«

«An die Frau Gemahlin?«Das Gesicht des Chefportiers wurde lang vor Erstaunen. Man wird aus den Deutschen nicht klug, dachte er. Sie haben eine eigenartige Moral. Sie legen sich mit jungen Mädchen ins Bett und telegrafieren der eigenen Frau, sie solle kommen. Es muß eine besondere Art von Perversität sein…

Mit geneigtem Kopf nahm der Chefportier den Text auf, den er telefonisch zur Warschauer Hauptpost durchgeben sollte.

Bitte sofort Rückantwort, wann Eintreffen in Warschau. Nimm den nächsten Zug. Hans.

«Es kommt noch ein Zug aus Berlin heute nacht um drei Uhr«, sagte der Chefportier mit einer leisen Warnung in der Stimme.»Es kann ja sein, daß die gnädige Frau — «

«Um drei Uhr?«Körner sah eine neue Hoffnung.»Das ist gut«, rief er.»Das ist sehr gut. Schönen Dank.«

«O bitte. Es erschien mir wichtig…«Der Chefportier lächelte voll männlichem Verständnis.

Die beiden Männer merkten nicht, daß sie verschiedene Gedanken hatten.

Plötzlich, erwartet und doch, als es eintrat, unerwartet, fiel am 16. November der erste Schnee. Er wurde begleitet von einem eisigen Wind, der aus den Steppen Kasachstans herüberwehte. Das Thermometer sank auf minus zehn Grad; in den Gräben und Erdlöchern, Bunkern und Höhlen standen und lagen die Soldaten, schlugen die Arme gegen den Körper und fluchten. Der kalte Wind aus der Steppe blies durch die Kleidung und strich wie eine eisige Hand über die Haut

«Da haben wir den Mist«, sagte Stabsarzt Dr. Portner und sah in den fahlgrauen Himmel, aus dem es weiß herunterrieselte, als bestände das unendliche All nur noch aus Schnee.»Winter an der Wolga. Von jetzt ab wird es hier gemütlich wie mit ’nem nackten Arsch auf einer Eisscholle. Haben wir genug Holz im Keller, Wallritz?«

«Nein, Herr Stabsarzt. Aber es gibt ja Häuser genug.«

«Welch ein naiver Junge. «Portner ging zurück in den Lazarettkeller.»Machen wir weiter. In einer Woche haben wir hier ein Lager für Eisbeine. Haben Sie schon Erfrierungen gesehen, Wallritz?«

«Nein, Herr Stabsarzt. «Feldwebel Wallritz hob die Hände, fing die Schneeflocken auf und zerrieb sie im Gesicht. Es erfrischte köstlich.

«Ich war doch bis vor einem halben Jahr in Frankreich.«

«Na, Sie werden sich wundern. «Portner ging durch den Lazarettkeller. Er war etwas leerer geworden, ein großer Teil der Schwerverwundeten war nach rückwärts geschafft worden, nach Pitomnik und Kalatsch. Von dort gingen die Lazarettzüge in die Ukraine, nach Polen oder Deutschland. Es war ein beschwerlicher Weg, denn mehrmals in der Woche wurden die Strecken von Partisanen zerstört oder beschossen. Wer in Polen ankam, konnte aufatmen.

Stabsarzt Dr. Portner hatte heute einen stillen Tag. Die Front war fast still geworden. Bis auf ein paar Stoßtrupp-Unternehmen lagen die Trümmer von Stalingrad verlassen unter dem Bleihimmel. Es war wie ein unbewußtes Atemanhalten von beiden Seiten, wie ein Verschnaufen, ein erschöpftes Augenschließen.

«Überlegen wir mal, was wir alles brauchen, Wallritz«, sagte

Dr. Portner.»Wenn wir hier schon den ganzen Winter über hok-ken sollen, muß man uns wie ein gutes Murmeltier versorgen.«

Feldwebel Wallritz nähm Papier und Bleistift. Er sah seinen Chef nachdenklich an.»Glauben Sie, daß wir hier monatelang… Ich denke, in ein paar Tagen ist der letzte russische Widerstand zerstört.«

«Wallritz. «Dr. Portner zählte in seinem >Giftschrank< die Packungen und Gläser mit den Anästhesiemitteln.»Sie sind ein guter Sanitätsfeldwebel, aber politisch und militärisch ein Rindvieh. Wir sitzen hier wie die Ratten in den Kellern, und uns gegenüber haben die Iwans die gleichen Nester wie wir. Und jetzt schneit es… morgen oder übermorgen geht die Temperatur weiter 'runter… Sie wissen nicht, was ein richtiger eisiger Steppenwind ist. Und was dann kommt, ist Scheiße, mit Blumen garniert. Wir werden hier unten hocken wie die Wichtelmänner und froh sein, wenn wir einen warmen Hintern haben. Das Heldentum wird zu Gefrierfleisch, mein Lieber. «Er kraulte sich den Kopf und schloß den >Giftschrank< wieder.»Fangen wir also an. Denen soll im Depot die Hose flattern. Schreiben Sie: Bestandsmeldung. Oder nein… besser: Materialanforderung. Zur Aufrechterhaltung des vorgeschobenen Verbandsplatzes benötige ich dringend…«

Stabsarzt Dr. Portner diktierte eine lange Liste. Wallritz schrieb; ab und zu sah er auf und wunderte sich, woher Dr. Portner den Mut nahm, in seine Zahlen Bemerkungen einzuflechten, die jeden Stabsapotheker an die Decke springen ließen. Als Dr. Portner geendet hatte, legte Feldwebel Wallritz den Bleistift weg.

«Und wieviel werden wir bekommen? Fünfzig Prozent vielleicht?«

«Sie Pflaume! Dann lebten wir ja im Paradies. Nichts werden wir bekommen. Vielleicht ein paar Rollen Zellstoff…«

«Aber… Herr Stabsarzt. «Feldwebel Wallritz starrte auf die lange Liste.»Alles, was hier steht, brauchen wir doch wirklich dringend…«

«Allerdings.«

«Und wenn nichts kommt… das gibt ja eine Katastrophe, Herr Stabsarzt.«

«Sie merken aber auch alles, Sie kleiner Schlaukopf. «Dr. Portner sah in einen Topf, der auf einem Spirituskocher brodelte.

In einer gelblichen Brühe schwammen einige Nudeln und ein paar Stückchen Fleisch.»Wieder ein Pferd krepiert?«fragte er.

«Nein, Herr Stabsarzt. Büchsenfleisch. Zehn Kartons sind gekommen.«

«Himmel noch mal — dann war das ein Irrtum. Oder der Intendant war besoffen. Los, ’ran an die Suppe, Wallritz… ehe sie es merken und wieder kassieren. Haben die anderen auch was?«

«Natürlich, Herr Stabsarzt.«

«Genug?«

«Jeder ein Kochgeschirr voll.«

Wallritz holte zwei Teller und schöpfte sie voll. Mit beiden Händen trug er sie zum Tisch, damit sie nicht überschwabbten.

Die Materialanforderung bekam einen großen Fettfleck.

«Lassen Sie den drauf, Wallritz«, lachte Dr. Portner.»Der wird einmal historisch. Wenn später einmal ein Aktendeckel gefunden wird, in den man die Materialanforderungen abheftete, wird man sagen: Sieh an, am sechzehnten November 1942 hatten die in Stalingrad noch so viel zu fressen, daß sie mit Fett um sich warfen… So wird auch die Geschichte im Grunde relativ…«

Mit dem ersten Schnee begann Pawel Nikolajewitsch Abranow, der Greis, fröhlich zu werden wie ein Füllen auf der Weide.

«Seht, seht«, rief er allen zu, denen er begegnete,»es schneit, Brüderchen. Es schneit.«

«Wir sehen es, Alterchen«, antworteten die so Angesprochenen.»Wir sind nicht blind.«

«Aber ihr versteht es nicht, ihr jungen Dummköpfe. «Abranow war in einer gehobenen Stimmung und fühlte sein heißes patriotisches Herz schlagen.»Jetzt werden die Deutschen das Laufen lernen, glaubt es mir. Die Schlacht um Stalingrad haben wir gewonnen. Ihr sollt es sehen… Weihnachten ist alles vorbei. Wenn erst die Panzerchen kommen…«

Man ließ den Alten reden und jubeln und kümmerte sich wenig um seinen Optimismus. Die Verluste waren schwer, die 62. Sowjetarmee bestand nur aus 12 Divisionen, und wenn nicht nach einem Gewaltmarsch durch die Steppe General Rodimzew mit seiner 13. Gardeschützen-Division zu Hilfe gekommen wäre, wer weiß, was aus Stalingrad geworden wäre und aus den tapferen Männern im >Tennisschläger< und in Beketowka. Aber im Feuer der deutschen Artillerie setzte General Rodimzew in Fährbooten über die schäumende Wolga und warf seine Männer in die Trümmer der Stadt zum erbarmungslosen Kampf Mann gegen Mann. Es dauerte nicht lange, da war auch diese Division nur noch regimentsstark, und trotz aller Hilferufe an General Tschuikow gab es immer nur die eine Antwort: Aushalten. Aushalten. Ein schreckliches Wort, wenn es an allem fehlt und man weiß, daß es genug Freunde gibt, die helfen könnten. Aber der Generalstab

— verflucht sei er — hält die Reserven zurück. Wozu bloß? Soll man in den Kellern und Hausruinen verbluten? Wer kann das verstehen?

Und so saß man mürrisch in den Höhlen am Wolgasteilufer, warf sich in den Stoßtruppkampf und sah mit gemischten Gefühlen auf den ersten Schnee, der alles mit einer weißen Decke überzog und die bizarren Trümmer wie in Watte hüllte.

Major Kubowski hatte eine Aussprache mit Olga Pannarewskaja, der Ärztin. Seine Verletzung war nicht so schwer, daß er aus der Stadt wegkam. Er wollte es auch gar nicht, und als der Divisionschirurg, der stille Andreij Wassilijewitsch Sukow, eine Bemerkung in dieser Richtung machte, wehrte sich Kubowski mit aller kaukasischen Beredsamkeit.

«Genosse Major«, hatte die Pannarewskaja gesagt,»Sie haben mich geküßt. Ich nehme an, daß Sie Angst hatten, als das Licht ausging. Wenn es etwas anderes war, müßte ich mich nachträglich noch meiner Ehre wehren.«

Und Kubowski hatte geseufzt, hatte sie wie ein nasser Hund angesehen und geantwortet:»Es war wirklich Angst, Genossin. Lassen Sie mir diese Angst, sie beflügelt mich…«

Nun schneite es, sie saßen draußen zwischen den Trümmern und sahen hinüber zu den Hausruinen, in denen die Deutschen hockten.

«Jetzt wird es schlimm werden«, sagte Kubowski.»Treibeis auf der Wolga, kein Nachschub mehr, keine Munition, kein Essen… wer weiß, wann die Wolga zufriert? Die Deutschen haben es besser, sie können heranschaffen. «Er rauchte langsam eine Zigarette und sah dem weißen Rauch nach, der von den Schneeflocken zerschlagen wurde.»Ich liebe Sie, Olga…«

Die Pannarewskaja schwieg. Ihr schmales Gesicht unter der Fellmütze war ernst und bleich. Major Kubowski kaute auf seiner Zigarette. Wenn eine Frau auf eine solche Rede schweigt, ist es ein schlechtes Zeichen, dachte er.

«Sie mögen mich nicht, nicht wahr?«sprach er weiter.»Ich nehme es Ihnen nicht übel, Genossin. Nur sagen Sie es mir frei heraus, damit ich wieder schlafen kann.«

Olga Pannarewskaja schüttelte langsam den Kopf.»Es ist sinnlos, Jewgenij Alexandrowitsch, jetzt von solchen Dingen zu sprechen. Wissen wir, ob wir morgen noch leben? Wenn wir uns ineinander verlieben, wird es ein schwerer Krieg für uns… so aber lieben wir nur unser Vaterland und freuen uns auf die Zeit, wo wir wieder eigennützig denken können…«

Major Kubowski ließ seine Zigarette fallen.»Genossin«, sagte er beschämt.»So viel Patriotismus…«..

«Nennen Sie es Selbstbetrug. «Die Ärztin erhob sich. Schön sah sie aus. Kubowski nagte an der Unterlippe und rieb die Stiefelabsätze aneinander.»Sie müssen wieder weg, Major…«

Es klang ganz beiläufig, aber in ihrer Stimme war ein Unterton, der nicht zu den Worten gehörte. Kubowski sah zu ihr empor.

«Weg? Wieso?«

«Der Genosse Divisionskommandant hat Sie angefordert.«

«Seit wann wissen Sie das?«

«Seit zwei Tagen.«

«Und sagen es mir jetzt erst?«

Olga Pannarewskaja nickte und wandte Kubowski den Rücken zu. Ihr Blick überflog die deutschen Häusergruppen. Vier zerfetzte Panzer bildeten die Grenze. Um diese Panzertrümmer hatten schon wilde Kämpfe stattgefunden, obgleich sie sinnlos waren und es keinerlei Nutzen brachte, die Panzer erobert zu haben.

«Ich habe Sie bis morgen noch krank melden können, Major.«

«Olga.«„

Kubowski sprang auf. Er riß die Ärztin an der Schulter herum, und er tat es so heftig, daß sie gegen ihn fiel und sich an ihn klammern mußte, um nicht hinzufallen. Kubowski drückte sie an sich, und als er ihr Gesicht sah, war er glücklich und hätte jubeln können.

«Sie sind traurig, Olgaschka«, sagte er leise.

«Ja, Jewgenij Alexandrowitsch.«

«Es ist Ihnen nicht gleichgültig, ob mich die Deutschen erschießen oder ob ich den Krieg überlebe…«

«Nein, durchaus nicht«, sagte sie tief aufatmend.

Da vergaß Major Kubowski, daß er in der zuschneienden Trümmerwüste einer gestorbenen Stadt stand, daß es morgen wieder ein

Sterben gab und daß der Kampf an der Wolga mehr war als nur eine Schlacht, sondern die Entscheidung über das Leben Mütterchen Rußlands.

Er küßte Olga Pannarewskaja, und diesmal war es weder dunkel noch hämmerten die deutschen Granaten auf das Kellerdach, noch gab es überhaupt einen Anlaß außer dem, daß man verliebt war wie noch nie in seinem Leben.

Fünfzig Meter weiter kroch der Gefreite Knösel durch die verschneiten Trümmer und suchte ein paar dicke Balken, die ausreichten, den Bunker für eine Woche zu wärmen. In der Nacht sollte ein Stoßtrupp dann die Balken abtransportieren, wenn nötig unter Feuerschutz. Es ging im Augenblick darum, daß man nicht fror, und nicht, daß man wieder zwei Keller eroberte oder eine Straßenseite.

«Ja, ist denn das möglich«, sagte Knösel entgeistert, als er um eine Hausecke kroch und mitten in den Trümmern einen Russen stehen sah, der eine Russin küßte. Sie taten es so gründlich, daß ihre sich umarmenden Gestalten aussahen wie ein weißes Denkmal.

Knösel duckte sich hinter einen Mauerrest und überlegte, was zu tun sei. Nun streichelt er sie auch noch, herrjemine, dachte er. Ihr Haar, ihr Gesicht, ihre Schulter… wenn das so weitergeht, wird's ein Pariser Film mit Ringelpietz und Anfassen… Und das mitten in Stalingrad. Im Schnee. Muß ein verdammter Notstand bei ihnen sein…

Jäh wurde das Idyll gestört. Seitlich von Knösel hämmerte eine Maschinenpistole los. Die Geschosse schlugen vor den Küssenden in das Gestein, und so als seien sie getroffen, stürzten beide umschlungen in den Schnee und rollten in Deckung.

«Idioten!«schrie Knösel.»Wem geht denn die Knutscherei so auf die Nerven…«

Durch die Trümmer sprangen ein paar dunkle Gestalten. Auch Knösel robbte davon und stieß auf einen jungen Leutnant, der schwer atmend hinter einem Hauseingang saß. Auf der russischen Seite bellten ein paar Granatwerfer auf und setzten einen Riegel vor die vier zerfetzten Panzer. Die Explosionen waren dumpf, der Schnee schluckte die hellen Laute.

«So eine Saubande«, keuchte der junge Leutnant.»Tun so, als sei nichts los und küssen sich. Na, denen salzen wir ein… denen vergeht noch diese bolschewistische Frechheit. «Er bemerkte erst

jetzt, daß Knösel nicht zu seinem Spähtrupp gehörte, und wechselte das Magazin seiner Maschinenpistole.»Wer sind denn Sie?«

«Gefreiter Schmidtke auf der Suche nach Brennholz. «Knösel setzte sich neben den jungen Leutnant.»War so ein schönes Bild, Herr Leutnant.«

«Was?«Der junge Offizier ließ das Magazin einrasten.»Sie haben die Knutscherei gesehen?«

«Ja.«

«Mann. Sie sind doch bewaffnet. Warum haben Sie nicht geschossen? Wie heißen Sie?«

«Gefreiter Hans Schmidtke.«

«Einheit?«

«Transportbataillon 234, zugeteilt zu Feldlazarett III, vorgeschobener Verbandsplatz, Stabsarzt Dr. Portner.«

«Ich werde Sie melden. «Der junge Leutnant sah um die Mauer. Die Russen schossen nicht mehr, der Platz, wo Kubowski und die Pannarewskaja gestanden hatten, war leer. Ein Trümmerfeld wie tausend andere.»Sieht zwei Russen und schießt nicht. Wissen Sie, was das ist? Wie man das nennt? Das wird ein Nachspiel haben, mein Lieber.«

Der junge Leutnant winkte. Der Spähtrupp sprang weiter, durch eine Straßenschlucht in Richtung >Tennisschläger<. Es war alles so sinnlos, daß Knösel sitzen blieb und den wie Hasen Zickzack hüpfenden Männern kopfschüttelnd nachsah.

Noch einmal blickte er hinüber, wo das Liebespaar von Stalingrad gestanden hatte, zwei Menschen, die für eine Minute das Grauen vergaßen und aus der Seligkeit wieder in das Grauen gerissen wurden. Dann kroch auch Knösel weiter, suchte seine Balken und kehrte zum Lazarettkeller zurück. Dr. Portner operierte wieder.

«Herr Stabsarzt«, sagte Knösel,»da ist mir eben ein Ding passiert…«

Portner winkte ab.

«Ich weiß schon. Der Leutnant war bereits da.«

Knösel schluckte.»Wenn Sie gesehen hätten, Herr Stabsarzt…«

«Was reden Sie da, Knösel. «Dr. Portner verband den Verwundeten, während Wallritz die Tetanusinjektion vorbereitete.»Das sind die kleinen Menschlichkeiten, die plötzlich aus der Hölle einen Himmel machen.«

«Sie werden keinen Tatbericht…«Knösels Kehle war wie zugeschnürt. Dr. Portner sah ihn fast beleidigt an.

«Raus, Sie Nilpferd. Halten Sie mich für einen Idioten?«Es war ein Augenblick, m dem Knösel den Stabsarzt hätte umarmen können. Er unterließ es, weil es — militärisch gesehen

— sittenwidrig war…

Auch auf das Rückantwort-Telegramm kam keine Nachricht aus Köln. Dr. Körner sah es schon von weitem an dem Gesicht des Chefportiers, als er von der Besprechung des Planungsausschusses zurückkam. Er hatte wieder eine Stunde herumgesessen, hatte einmal von der Wichtigkeit des Transportes Schwerverwundeter gesprochen und zur Antwort bekommen, daß dies Angelegenheit einer anderen Dienststelle sei und nicht des Baugremiums.

«Ich kann es mir nicht erklären«, sagte der Chefportier des Hotels.»Wenn es Angriffe gegeben hätte… aber wenn man den Wehrmachtsbericht liest… es war ja nichts los in Köln. «Er sagte es so, als wolle er ausdrücken: Siehst du, mein Junge, wie sie uns belügen? Und man muß es sogar glauben… was bleibt uns übrig?

«Schicken wir neue Telegramme«, sagte Dr. Körner gepreßt.»An die Kreisleitung, an die Gauleitung, an den Stadtkommandanten… ich schicke hundert Telegramme, wenn es sein muß. Ich mache ganz Köln rebellisch.«

Der Chefportier hob die Schultern. Der junge Mediziner tat ihm leid. Er war ein anderer Typ als die Offiziere, Zahlmeister, Parteibonzen und Wehrwirtschaftsführer, die sonst im >Ostland< wohnten und sich wie Cäsaren benahmen. Es waren oft Stunden, in denen trotz allem Geschäftsgeist der Nationalpole bei ihm durchbrach und er sich beherrschen mußte, nicht seine Freunde zu rufen und die ungebetenen Gäste einfach entfernen zu lassen.

«Das Fräulein wartet schon im kleinen Salon auf Sie, Herr Mediziner«, sagte er.»Und Sekt habe ich kalt gestellt. Die Telegramme gebe ich sofort durch.«

«Und Sie benachrichtigen mich, wenn…«

«Sofort, Herr Mediziner, sofort…«

Es wurde ein stilles Essen. Der Kellner servierte die gefüllten Täubchen und blinzelte Körner dabei zu.

«Nix Krähe«, sagte er nahe an seinem Ohr, als er vorlegte.

«Sind sich wirklich Tauben… und Füllung ist sogar Läbbär von Rind…«

Monika Baltus beobachtete während des Essens ihren Gastgeber. Zuerst hatte sie Bedenken gehabt, als er sie in sein Hotel mitnahm. Sie hatte Zudringlichkeiten befürchtet und sich vorgenommen, Dr. Körner zu erklären, daß sie nicht von >jener Sorte Mädchen< sei, die in den Osten kommen und Offizierserinnerungen sammeln wie andere Briefmarken. Aber schon als sie allein mit dem Lift nach oben in ihr Einzelzimmer fuhr, sah sie die Grundlosigkeit ihrer Befürchtungen ein. Nun, während des Essens, war er ihr fast zu still, zu zurückhaltend und gedanklich abwesend.

«Sie kommen direkt von der Front?«fragte sie, als sie erzählt hatte, woher sie kam, wer ihr Vater sei und daß sie noch vier Geschwister hatte, jünger als sie, auch einen Bruder, der sich nächstes Jahr freiwillig melden wolle, obwohl der Vater ihn schon deswegen geohrfeigt hätte.

«Ja«, sagte Dr. Körner.»Ich komme von der Front.«

«Aus dem Mittelabschnitt?«

«Nein. Aus Stalingrad.«

«Oh, aus Stalingrad? Haben wir das bald erobert?«

«Vielleicht…«

«Der Russe ist doch am Ende, sagen sie alle. Nach Stalingrad wird Rußland auseinanderbrechen.«

«Bestimmt«, sagte Körner zerstreut. Er sah immer wieder zur Tür. Heute nacht um drei Uhr kann sie ankommen, dachte er. Sie hat in Berlin nicht den Zug bekommen, das wird es sein. Darum kann sie auch nicht antworten; sie ist ja unterwegs. Dieser Funken Hoffnung glühte in ihm und wuchs zu einer Zuversicht, die die vergangenen Stunden fast vergessen ließ.

Etwa eine Stunde nach Beginn des Essens winkte der Chefportier vom Eingang des kleinen Speisesaales her. Dr. Körner schnellte hoch.»Bitte entschuldigen Sie, Fräulein Baltus«, sagte er mit plötzlich heiserer Stimme.»Ich werde gerufen. Ich bin gleich wieder da. «Mit langen Schritten rannte er hinaus in die Halle. Dort stand der Chefportier mit einem schmalen Umschlag in der Hand. Ein Telegramm.

«Es kann unmöglich eine Antwort der letzten sein«, sagte er.»Es muß die Rückantwort sein oder…«

«Nun geben Sie schon her…«Körner riß den Umschlag auf und entfaltete das schmale Blatt Papier. Er überflog die Zeilen, und es war, als falle plötzlich alles Fleisch von seinem Gesicht, die Augen verdunkelten sich, und die Finger krallten sich in das Telegramm. Der Chefportier zog sich leise zurück. Er ahnte, was aus Köln gekommen war, und das Mitleid wuchs in ihm, als sehe er seinen eigenen Sohn leiden.

Dr. Korner las noch einmal die Zeilen, dann steckte er das Blatt in die Tasche und senkte den Kopf. Langsam ging er zurück in den Speisesaal und blieb vor dem Tisch stehen. Monika Baltus sah ihn entsetzt an, als erkenne sie ihn nicht wieder.

«Ist… ist etwas?«fragte sie, als er stumm vor ihr stand und an ihr vorbeistarrte, gegen die Wand.

«Meine Frau ist tot«, sagte er langsam.

«Nein. «Monika sprang auf.»Aber… aber wieso denn…«

«In Köln… ein Luftangriff… Bitte entschuldigen Sie mich. «Er versuchte noch eine korrekte Verbeugung und ging langsam hinaus. Es war, als hätten seine Stiefel Bleisohlen, die er über den Boden schleifen müßte.

In der Nacht vom 31. Oktober zum 1. November, dachte er bei jedem Schritt. Verschüttet und erstickt… In der Nacht vom 31. Oktober zum…

Er blieb stehen und sah in einen Spiegel. Er war bereits auf seinem Zimmer und hatte es nicht gemerkt.

«Ich bin ja gar nicht verheiratet«, sagte er leise und starrte sein bleiches Spiegelbild an.»Ich habe eine Tote geheiratet… in Pitomnik… am ersten November…«

Mit einem Aufschrei hob er die Faust und hieb in sein Spiegelbild. Das Glas splitterte, die Scherben schnitten ihm den Handballen auf, Blut spritzte auf seine Uniform… er sah und spürte das alles nicht, zusammengesunken saß er in einem Sessel, die blutende Hand gegen die Brust gepreßt.

Ich habe eine Tote geheiratet, dachte er nur immer wieder. In einem Keller ist sie erstickt… Marianne ist erstickt… in einer Nacht >ohne besondere Vorkommnisse<… ein Polterabend in den Tod… erstickt…

«Mein Gott… o mein Gott«, sagte Dr. Körner und preßte die blutende Faust gegen die Stirn.»Wie soll man das je begreifen…«

Der 19. November begann mit einem heulenden Schneesturm. Aus der Steppe fegte er heran und übergoß das Land mit eisiger Kälte und erstickenden Schneemassen. Vom großen Donbogen über Stalingrad bis Beketowka kroch das Leben unter die Erde, in die Bunker und Erdhöhlen, Baracken oder Keller, Unterstände oder ausgebauten Granatlöcher. Das Thermometer fiel auf zwölf Grad Kälte… auch zwischen Kletskaja und Serafimo witsch hockten die Männer der rumänischen und deutschen Divisionen in ihren Bunkern und Erdhöhlen, rollten sich in Decken, zogen Zeltplanen über die MGs und Minenwerfer und banden Wollschals um Schiffchenmütze und Ohren. Die Rumänen mit ihren Fellmützen hatten es besser, sie zogen sie nur tiefer und hockten sich um die wärmenden Bunkeröfen, rauchten ihre Zigaretten und tranken ein paar Schlucke Marketenderschnaps.

Der Schneesturm heulte ununterbrochen und trieb die letzten Wachtposten in die Erdhöhlen. Es war ein Wetter, vor dem sich selbst eine Ratte verkroch. Der russische Winter hatte begonnen, und er gab seine beste Visitenkarte ab.

Um vier Uhr morgens tönte in diesen Sturm hinein ein blechernes Trompetensignal. Es war eine symbolische Handlung, fast eine theatralische Geste, denn mit diesem Trompetensignal wurde der Untergang einer Armee eingeblasen.

Achthundert Geschütze begannen nach diesem Signal zu feuern. Auf einer Breite von nur drei Kilometern wälzte sich eine Feuerwand über die deutschen und rumänischen Stellungen, zerbarsten die Bunker und Unterstände, wurden die Erdhöhlen verschüttet, wirbelten Körper und Lastwagen, Geschütze und Balken, Werkstätten und Ersatzlager, Munition und Menschen durch die eisige, flammendurchzuckte Luft.

Die rumänischen Divisionen wurden unter die Erde gepflügt, ehe sie begriffen, was überhaupt über sie gekommen war. Sie lagen plötzlich in einer Hölle, die aus einem eisigen, nebelverhangenen Himmel über sie hereinbrach. Es war, als bräche die Erde auf drei Kilometer Breite auf und verschlinge alles, was sich bisher auf ihr bewegt hatte.

Vier Stunden lang trommelten die achthundert sowjetischen Geschütze auf, die deutschen Divisionen. Um acht Uhr früh setzte dann der Sturm ein… Panzerwelle auf Panzerwelle rasselte heran und walzte alles in den aufgerissenen Boden, was sich ihr entgegenstellte. Auf den stählernen Kolossen saßen die sowjetischen

Infanteristen, dunkle Trauben, um die feuernden Türme klebend wie Wespennester.

Drei Panzerkorps und drei Kavalleriekorps der sowjetischen Heeresgruppe >Don< rollten über die aufgerissene deutsche Stellung und drückten die Flanke der Stalingradfront ein. Während in den Trümmern der Stadt die deutschen Regimenter in den Kellern saßen und Haus um Haus eroberten oder wieder verloren, vollzog sich in ihrem Rücken die Tragödie eines vollkommenen Zusammenbruchs, der auch sie mitschluckte wie ein unersättlicher Moloch… die sowjetische Großoffensive zur Befreiung Stalingrads hatte begonnen. Die Reserven, die man so lange zurückgehalten hatte und die man in der Stadt immer wieder angefordert hatte, rollten nun unaufhaltsam in den Rücken der deutschen Truppen.

Das Drama der 6. Armee begann. Noch ahnte es niemand. Noch überblickte keiner die Lage, denn das Durcheinander war nach diesem massiven plötzlichen Feuerüberfall verheerend. Erst am Abend des 19. November sah man klarer. Es bot sich ein trostloses Bild: Eine breit aufgerissene Front, russische Panzerspitzen mitten im Hinterland Stalingrads, flüchtende Kompanien und Regimenter, überrollte Stäbe und Magazine. Der Donbogen war eingedrückt, ein sowjetisches Panzerkorps war auf dem Anmarsch auf Kalatsch… es war ein Sterben in Ratlosigkeit und völliger Überraschung.

In seinem Erdloch am Steilhang der Wolga saßen der Greis Abranow, seine Enkelin Vera Kaijonina, wie sie jetzt hieß, und einige andere Zivilisten aus Stalingrad um einen kleinen Radioapparat und hörten die stündlichen Meldungen von der großen Offensivfront. Abranow weinte. Die Tränen rannen dem Alten nur so aus den müden Augen und liefen die Runzeln herunter bis zum Kinn, wo sie in einer Mulde einen kleinen See bildeten. Aber er schämte sich nicht, in seinem Alter noch so zu heulen, o nein, er saß da, hocherhobenen Hauptes, die Hände auf die Knie gelegt, hörte die Meldungen und weinte dabei wie ein Kind.

«Mütterchen Rußland lebt«, sagte er immer wieder.»Mütterchen Rußland lebt… Bald werden wir frei sein… frei… oh.«

Vera Kaijonina saß da mit gesenktem Kopf und sagte nichts. Sie dachte an Iwan Iwanowitsch, der noch immer im Tennisschläger hockte, zusammen mit einer Gruppe Soldaten, und den Befehl hatte, sein Haus und seinen Keller zu verteidigen, solange er noch einen Finger rühren konnte. Sie hatte in den letzten Tagen nichts mehr von ihm gehört; sie wußte nicht, ob er noch lebte, und alle Erfolge, die aus dem Radio tönten und den alten Abranow zum Weinen brachten, waren ihr nicht so wichtig wie die Erfüllung ihrer heimlichen Gebete: Laß ihn zurückkommen. Laß ihn Stalingrad überleben…

Abranow stieß seine Enkelin in die Seite, so wie man einen stehengebliebenen Esel wieder antreibt.»Was ist, Töchterchen?«schrie er vor patriotischer Begeisterung.»Du freust dich gar nicht? Tanzen solltest du. Habe ich es nicht immer gesagt: Wartet erst den Schnee ab und den Eiswind… und wenn die Wolga zugefroren ist…«Es war ein altes Lied, das der Greis sang, und jeder am Wolgasteilhang kannte es. Nur sangen sie es anders — sie fluchten dabei. Auf der Wolga begann das Treibeis, und es war abzusehen, wann der letzte Fährverkehr eingestellt werden mußte. Und dann? Wie kam Munition nach Stalingrad? Wie Verpflegung? Wie Sanitätsmaterial?

«Drei Wochen wird's dauern, Brüderchen«, sagte Abranow immer.»Dann ist die Decke zu…«

Drei Wochen ohne Munition. Man sah den Greis an und schwieg. Wer kann einen alten Ziegenbock ein anderes Meckern lehren?

Erst am späten Vormittag kam Dr. Körner wieder aus seinem Zimmer. Er hatte sich die Hand verbunden und sah verfallen und übernächtig aus. Es schien, als habe ihm der vergangene Tag zehn Jahre seiner Jugend genommen. Das bisher jungenhafte weiche Gesicht war kantig geworden, von einem festgefressenen Trotz, der erschreckend war, wenn man Körner von früher her kannte.

Der Chefportier kam auf ihn zu, als er unschlüssig in der Halle stand.

«Guten Morgen, Herr Mediziner«, sagte der wendige Pole. Er trug einen dunklen, festlichen Anzug und hatte einen silbergrauen Seidenschlips umgebunden. Die schwarzen Haare glänzten und dufteten nach Rosenpomade.»Ich hätte Ihnen das Frühstück auch auf dem Zimmer servieren lassen. «Dabei sah er fragend auf die verbundene Hand.

«Danke. Ich habe keinen Appetit. «Dr. Körners Stimme war abgehackt und rauh.»Was macht Fräulein Baltus?«

«Sie ist schon weggegangen. Ich habe die Dienststelle gefunden auf Grund ihrer Zuweisung. «Der Chefportier sah sich um. Sie waren allein in der Halle. Im Frühstückszimmer tönte Musik aus dem Radio. Märsche und markige Lieder.»Heute morgen hat die russische Offensive begonnen«, sagte er leise und beugte sich zu Körner vor.»Am Don und am Tschir… die ganze Front ist aufgerissen…«

Dr. Körner starrte den Chefportier ungläubig an.»Das ist doch nicht möglich«, sagte er heiser.

«Es ist so, Herr Mediziner. Sowjetische Panzerdivisionen sind weit im Rücken der deutschen Armeen.«

«Woher wissen Sie denn das?«

Der Chefportier lächelte und hob beide Hände.»Man hat seine Informationen, Herr Mediziner. Ohne Informationen gäbe es in Polen keine Hoffnung mehr…«

Dr. Körner atmete tief. Zurück nach Stalingrad, dachte er. Was soll ich noch hier? Marianne ist erstickt… ich war schon Witwer, als ich heiratete… In der Wolgastadt krallen sie sich in die Trümmer und zerfleischen sich um einen Keller oder ein Granatloch… in der Heimat werden die Frauen und Kinder von den Bomben zerfetzt… die Fronten sind aufgerissen und Zehntausende sterben in der Steppe. Warum sieht keiner diese Sinnlosigkeit?

Er merkte nicht den Widerspruch zwischen seinen Gedanken und seinem Wunsch, zurück nach Stalingrad zu gehen. Es war die gleiche Sinnlosigkeit, von der man nicht begreift, daß sie einen Menschen so völlig beherrschen kann.

«Sie hassen uns, nicht wahr?«fragte Dr. Körner unvermittelt. Der Chefportier zuckte zusammen.

«Sie nicht, aber nein, Herr Mediziner.«

«Aber uns Deutsche…«

Der Pole schwieg. Er sah Dr. Körner groß an, und sein Blick schien zu sagen: Begreifst du das nicht?

«Als Napoleon I. Deutschland besetzt hatte, nannte man jeden Widerständler einen Freiheitshelden. Heute nennt man die Freiheitshelden, die sich gegen die deutsche Besatzung wehren, Partisanen und hängt sie auf. Bitte erklären Sie mir das, Herr Mediziner: Gibt es Helden nur in Deutschland?«

«Sie haben recht. «Dr. Körner sah auf den geschniegelten Polen herab.»Sie haben sich festlich gekleidet… Sie feiern still die deutsche Niederlage…«

Der Chefportier lächelte schwach.»Ich liebe mein Land.«

Dr. Körner senkte den Kopf und wandte sich ab.»Ich wünschte, ich könnte es auch noch«, sagte er dabei. Der Pole hielt ihn am Ärmel fest.

«Was werden Sie tun?«

«Wieso? Ich kehre nach Stalingrad zurück.«

«Das ist doch Irrsinn.«

«Vielleicht. Aber wo soll ich hin? In den Kellern habe ich Freunde und Kameraden, die mich brauchen. Was habe ich hier? Was habe ich überhaupt noch?«

«Ihr Leben und Ihre Jugend, Herr Mediziner. Ich kann Sie bei Freunden unterbringen…«Der Pole wurde ernst und beugte. sich zu Dr. Körner vor.»Es wird eine Zeit kommen, wo wir Ärzte gebrauchen können… und Freunde…«

«Ich… ich verstehe Sie nicht«, sagte Dr. Körner rauh.

«Sie wollen es nicht verstehen… Ziehen Sie die Uniform aus, tauchen Sie unter… ich werde Sie wegbringen, wo Sie sicher sind. Sie werden überleben können, Herr Mediziner…«

«Das nennt man desertieren.«

«Man nennt es: sich retten.«

«Und die Kameraden an der Front, deren Arzt ich bin? Die mich brauchen?«

Der Pole schwieg. Er ist ein Deutscher, dachte er traurig. Natürlich hat er recht, aber mit diesen Gedanken wird er untergehen wie Millionen mit ihm.

«Gut«, sagte er.»Schweigen wir darüber. Werden Sie ein Held…«

«Ich erfülle nur meine Pflicht. Was ist Ihr Traum von der Freiheit Polens anderes?«

«Es stimmt. «Der Pole nickte.»Man kann es nicht erklären, warum sich Völker hassen… und dabei sind wir doch alle nur Menschen…«

Etwas anderer Ansicht war die Kommission, die gegen Mittag wieder zusammenkam. Sie hatte noch keine Ahnung, was sich seit Stunden am Donbogen, bei Kalatsch und am Tschir vollzog, sie wußte noch nicht, daß eine Reihe deutscher Divisionen nur noch aus einer Nummer in der Liste bestand, die Männer, Waffen und Fahrzeuge aber durch die Luft gewirbelt waren oder in die verschneite Erde gewalzt wurden. Sie ahnten nicht, daß sowjetische Panzer mit aufgesessener Infanterie bereits weit im deutschen Rücken operierten und einen Spalt trieben zwischen der 6. Armee und der 4. Panzerarmee, einen Spalt, der sich zu einem Riß und zu einer klaffenden Wunde erweiterte, an der die Stalingradfront sich verblutete.

«Sie wollen also wieder zur Truppe, Herr Assistenzarzt?«sagte der Kommissionsleiter, ein’ Oberst der Pioniere.»Ich kann Sie nicht halten. Und ich glaube, das, was Sie zu sagen hatten, haben Sie auch vorgetragen. Wenn Sie das alles noch einmal schriftlich fixieren können, damit es zu den Akten kann…«

Dr. Körner starrte den dicklichen Oberst an. Sie ahnen noch nichts, dachte er erschrocken. Und sie werden auch morgen und übermorgen noch nichts wissen. Sie werden weiter an der Lazarettstadt Kalatsch planen, wenn der Russe schon die Stadt besetzt hat. Und auch dann werden sie weitertagen, denn:»Eines Tages werden wir es zurückerobert haben. Und dann, meine Herren…«

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