Im Operationskeller unterbrach Dr. Portner eine breite Rückennaht und sah die beiden Eintretenden verdutzt an. Der Verwundete vor ihm auf dem blutigen Küchentisch brüllte mit unmenschlichen Lauten, aber er wußte es nicht, er brüllte auch nicht aus Schmerz, er schrie im Delirium, im Fieberwahn, der seinen Körper ausglühte.
«Was ist denn das?«fragte Dr. Portner und starrte die Pannarewskaja an. Die Ärztin erwiderte den Blick mit Stolz und hoch erhobenem Kopf.
«Ich bin Olga Pannarewskaja. Seit acht Tagen Kapitänärztin der siegreichen Roten Armee. «Ihre harte Stimme übertönte das rhythmische Brüllen des Verwundeten. Stabsarzt Dr. Portner legte seinen Nadelhalter hin.
«Sie erwarten doch nicht, daß ich Ihnen die Hand küsse, gnädige Frau?«Er machte mit beiden Händen eine umfassende Bewegung.»Sie sehen, im Augenblick werde ich abgehalten, galant zu sein. Die kleinen Widerwärtigkeiten des Lebens, meine Gnädigste. Aufgerissene Bäuche, halbe Köpfe, erfrorene Gliedmaßen, Fleckfieber, Wahnsinn, Wundbrand… Sie müssen mich entschuldigen…«
Die Pannarewskaja drückte das Kinn an ihr Uniformhemd, das sie unter dem olivgrünen Rock trug. Sie verstand den blutigen Sarkasmus Dr. Portners… sie kam aus einer Hölle und war in eine neue hineingeraten. Hinter ihr entstand Bewegung… zwei Soldaten führten Chefchirurg Dr. Sukow in den Keller, in einer Zeltplane hinter ihm schaukelte ein blutiger Körper. Zwei sowjetische Krankenträger schleppten ihn über die auf dem Kellerboden liegenden deutschen Leiber. Der schneidige deutsche Oberleutnant war schon wieder hinausgelaufen in die Trümmerwüste der Stadt… die eisige, mit Kalkstaub durchsetzte Luft in den Ruinen war ihm lieber als die stinkende Wolke aus Eiter, Blut und Kot, die fettig in den Kellern des Kinos lag.
«Noch einer?«fragte Dr. Portner.
«Chefchirurg Dr. Sukow…«, stellte die Pannarewskaja vor. Ein böser Blick des sowjetischen Arztes traf sie. Er lehnte sich an die Wand und verschränkte die Arme. Von seinem Mantel troff das geschmolzene Eis auf den Boden. Dr. Portner trat auf ihn zu. Ganz nah standen sie sich gegenüber und sahen sich an.
«Sie sprechen auch deutsch?«fragte Dr. Portner.
Dr. Sukow schwieg.
«Sie verstehen mich also nicht?«
Dr. Sukow schwieg. «Er verzog sogar das Gesicht, als ekele er sich, von einem Deutschen angeredet zu werden. Dr. Portner hob die Schultern und wandte sich ab. Er sah auf den blutigen Körper in der russischen Zeltplane. Die beiden sowjetischen Krankenträger standen daneben, als hielten sie Ehrenwache.
«Wer ist denn das?«
«Oberst Juri Trifomewitsch Sabotkin«, antwortete Olga Pannarewskaja.
Der deutsche Verwundete war vom Tisch genommen worden, die beiden sowjetischen Krankenträger, Dr. Körner und Olga Pannarewskaja hoben den Oberst auf den Tisch. Dr. Körner und Olga Pannarewskaja verständigten sich durch einen Blick. Es war hoffnungslos. Auch Dr. Portner sah es und stützte die Hände auf den Tisch.
Anders Andreij Wassilijewitsch Sukow. Er legte die Hand fast zärtlich auf den Bauch des Obersten und warf dann den Kopf zu Olga herum.
«Was ist denn?«schrie er. Entsetzt starrte ihn die Pannarewskaja an.
«Du bist verrückt, Andreij«, sagte sie leise.
«Skalpell…«
Dieses Wort verstand auch Dr. Portner. Er beugte sich zu Dr. Sukow vor.
«Das ist doch Zeitverschwendung…«
«Oberst Sabotkin ist ein Held der Nation!«sagte Sukow hart.
«Himmel, Arsch und Zwirn… hier in den Kellern liegen über zweitausend Helden der Nation!«schrie Dr. Portner.»Wollen Sie hier eine friedensmäßige Bauchoperation vornehmen?!«
«Ja.«
«In aller Ruhe, was?!«
«Ja.«
«Runter mit dem Kerl vom Tisch!«schrie Dr. Portner.»Jedes Theater ist so lange gut, wie es logisch ist!«
Dr. Sukow winkte einem der Träger. Er nahm ihm eine Tasche ab, die dieser um den Leib geschnallt trug, und öffnete sie. Sie war gefüllt mit Ampullen aller Art, ein paar waren zerbrochen, es schwappte in der wasserdichten Ledertasche. Dr. Portner starrte auf die gläsernen Phiolen.
«Was soll das?«
Dr. Sukow machte eine darbietende Handbewegung.»Ich tausche, Kollege. Oberst Sabotkin gegen Tasche voll Medikamente. Alles Anästhesiemittel…«Er lächelte mokant.»Sie haben keine Anästhesiemittel mehr?«
«Nein…«
«Bittää… gegen Oberst…«
«Ich könnte Ihnen die Tasche ja einfach abnehmen. Sie sind mein Gefangener, Dr. Sukow.«
«Ehe Sie zugreifen, ich sie an die Wand geworfen habe. Es wäre Dummheit, Kollege…«
Dr. Portner sah noch einmal auf die Ampullen. Anästhesiemittel, dachte er. Mein Gott, das reicht für eine Woche, wenn man sparsam ist. Und die Russen schleppen das mit sich herum, als seien es Probefläschchen von Wodka…
Er drehte sich um, zu dem Küchentisch. Dort hatten Olga Pannarewskaja und Dr. Körner bereits den Bauch des Obersten Sabotkin und die Bauchhöhle eröffnet. Sie war angefüllt mit frischem und zu Klumpen geronnenem Blut, eine fast überschwappende Fleischwanne, in der die Därme schwammen. Mit beiden Händen suchte die Pannarewskaja in diesem Blutsee nach der zerschossenen Arterie, während Dr. Körner mangels eines Spreizers mit seinen Händen die Bauchhöhle offenhielt.
Dr. Portner sah Dr. Sukow wieder an.
«Sehen Sie, Kollege«, sagte er ruhig,»auch wir sind schon eine Generation zurück. Während wir reden und verhandeln und uns Angebote machen, handelt die Jugend bereits ohne große Worte! So sollte es sein, Kollege… wir sollten uns schämen…«
Sie traten an den Tisch und lösten Dr. Körner und die Pannarewskaja ab. Dr. Sukow suchte weiter nach der Blutquelle… er tastete blind in der Bauchhöhle herum, bis er glaubte, die zerrissene Ader gefunden zu haben. Mit Daumen und Zeigefinger kniff er sie zu und hob sein schweißüberströmtes Gesicht zu Dr. Portner.
«Isch habbenn…«Er keuchte und biß die Zähne zusammen. Er lag halb über dem offenen Leib, aber er konnte sich nirgends aufstützen, weil er beide Hände in der Bauchhöhle hatte. So schwebte er fast über dem Körper, eine Haltung, die ihn von den Hüften an zittern ließ und ihm das Gefühl ins Hirn jagte, er müsse in der Mitte seines Rückgrats zerbrechen.
Dr. Portner riß eine Lage Zellstoff aus der Hand Körners und versuchte, mit ihr den Blutsee soweit aufzusaugen, daß man einen Überblick hatte. Es gelang nicht, es war zuviel. Aus einem Seidenfaden machte er eine Schlinge, tastete mit seinen Fingern den Arm Sukows entlang und fühlte das aufgerissene Arterienstück, das die Finger Sukows abdrückten. Er schob die Schlinge darum und zog sie zu. Im gleichen Augenblick ließ Sukow los und richtete sich stöhnend auf. Er preßte beide Fäuste gegen sein Rückgrat und bog sich keuchend zurück, holte ein paarmal tief Atem und lehnte sich an die Wand, weil er schwindlig wurde und sich der Keller vor seinen Augen drehte.
Am Küchentisch standen sich mit bluttropfenden Händen Dr. Körner und die Pannarewskaja gegenüber. Dr. Portner legte eine richtige Ligatur um die zerschossene Arterie. Es könnte noch rechtzeitig sein, dachte er. Wenn dieser Oberst Sabotkin ein starkes Herz hat, kann er überleben… aber nicht hier, nicht in diesen Kellern, in denen die Menschen verwesen, bevor sie gestorben sind. So ist es eigentlich sinnlos, was wir tun… wir kämpfen gegen einen Tod, der nichts anderes zu tun braucht, als zu warten. Die Zeit arbeitet für ihn.
«Die Blutung steht«, sagte Dr. Portner und richtete sich auf. Er bemerkte voll Erstaunen, daß sich Dr. Körner und die Pannarewskaja ansahen und daß in ihren Augen der Krieg und das Grauen verschwunden waren und das Träumen über sie zog wie weiße Federwolken über die Sonne. Auch das noch, dachte er und seufzte. Wir stehen in einem Grab, das man langsam zuschaufelt, und sie fangen an, sich zu lieben. Als ob das Leben sich noch einmal aufbäumt und nach dem Schönsten fleht, das ein Mensch empfinden kann…
Dr. Sukow kam wieder an den Tisch. Er hatte seinen Schwächeanfall überwunden. Er war ärgerlich, daß er ihn nicht hatte überspielen können und die Deutschen gesehen hatten, daß auch ein sowjetischer Major Nerven besaß. Er fühlte Oberst Sabotkin den Puls, legte das Ohr auf die Herzgegend und klappte die Lider hoch.
«In einem Krankenhaus hätte er alle Chancen«, sagte Dr. Portner, als sich Sukow wieder aufrichtete.
«Er wird bald in einem Krankenhaus sein«, sagte Sukow stolz.
«Oder in einem Granattrichter, Nummer sieben der elften Leichenschicht.«
«Nein.«
«Und warum nicht?«
«Weil wir siegen werden.«
«Aber wann?«
«Bald…«
.. Er streckte den Arm aus und stieß die Pannarewskaja an. Die Ärztin schrak zusammen und wischte sich mit der blutigen Hand über das Gesicht. Sie sah schrecklich aus, als sie die Hand sinken ließ.
«Wir sind nicht zum Vergnügen hier, Täubchen«, sagte Andreij Wassilijewitsch Sukow ernst.»Kümmern Sie sich um den Oberst!«
Dann ging er zurück an die Wand und setzte sich. Seine Hände wischte er an der Stiefelhose ab.
Es kam selten vor, daß der Gefreite Knösel keine Worte mehr fand. Ein so bemerkenswertes Ereignis trat ein, als er den Packsack entrollte, den er aus der Luftwaffenbaracke von Gumrak mitgenommen hatte.
Es war eine stille Stunde in der Stadt. Entweder hatte man keine Munition mehr, oder die Rohre mußten sich etwas abkühlen. Die Artillerie schwieg, das Bellen der Paks schlief ein, selbst das Rumpeln der Minen verstummte. Es war der 8. Januar 1943, vormittags 10 Uhr. Ein Datum wie jedes andere für Knösel, in der Geschichte der 6. Armee aber ein Tag und eine Stunde, die über ihr Schicksal entscheiden und die später in aller Klarheit das Verbrechen bloßlegen sollte, dem 300 000 deutsche Soldaten zum Opfer gefallen waren. Ein Verbrechen, wie es bisher in der Kriegsgeschichte einmalig war.
An allen Fronten rund um den Kessel machte der Tod eine Pause. Ganz schlief das Sterben nicht ein… Stoßtrupps und Panzerspitzen durchkämmten das Gelände, und in Gumrak, Pitomnik, Stalingrazkij und Gorodischtsche, in den Kellern und Erdlöchern, Granattrichtern und Bunkern der Stadt Stalingrad starben sie weiter, die Verwundeten, die keiner mehr ausfliegen konnte, weil die Luftwaffe keine Maschinen und die Flugplätze im Kessel Stalingrad keine Vorwärmgeräte hatten, um die bei 40 Grad Frost vereisenden Motoren und Leitwerke aufzutauen. Und es starben die, die im letzten Aufbäumen gegen ihr Schicksal sich auf den Weg machten nach Pitomnik, von dem die mystische Hoffnung ausging, daß vielleicht doch ein Flugzeug da war, ein winziges Eckchen im Laderaum einer Ju 52, in das sich der Schütze Meier III oder der Unteroffizier Weber oder der Leutnant Vogelsang hineindrücken konnte, um weinend vor Glück zu hören, wie die Motoren liefen, wie sich der Leib des blechernen Vogels abhob, wie er schwebte, wie er schaukelte, wie er flog… in die Heimat, in das Leben, in den Himmel…
Das war ein Magnet, ein solcher Gedanke. Und Tausende trieb es nach Pitomnik, zu Fuß, auf Schlitten, kriechend, getragen, humpelnd, auf Stümpfen, auf Brettern durch Eis und Schnee rutschend, dunkle, mit Eis überkrustete, unförmige, stöhnende, jammernde, betende, fluchende, im Wahn singende, von den anderen, schnelleren niedergetretene und im Schnee erstarrende Insekten, steife Knüppel aus Menschenleibern, die die Straße nach Pitomnik pflasterten und über die hinweg der Nachschub rollte, bis es keinen Nachschub mehr gab, sondern nur noch wankende Gespenster, in Gruppen, geballt oder allein, einzeln in ihrer Sehnsucht nach Leben, mit nur einem Ziel… Pitomnik… das Flugfeld… das letzte Fenster, durch das Gott in die Hölle blickte…
An diesem 8. Januar 1943 aber war es verhältnismäßig still. Knösel benutzte die Stille, um seinen Gepäcksack aufzuschnüren und im Hof eines Hauses auszurollen. Sein Mitbringsel aus Gumrak erwies sich als ein Markierungstuch der Luftwaffe, eine viereckige Leinwand mit einem großen weißen Kreuz darauf. Diese Markierungstücher lagen bereit, um an besonders unzugänglichen Stellen, vor allem bei eingeschlossenen Gruppen, den Versorgungsmaschinen Zeichen zu geben, in diesem Quadrat die Verpflegungsund Munitionsbomben abzuwerfen. Der Befehl, diese Markierungstücher an die kämpfende Truppe auszugeben, kam zu spät. Die Flugzeuge waren froh, überhaupt noch Pitomnik oder Gumrak zu erreichen… an einen Anflug auf Stalingrad-Stadt und eine Versorgung der in den Trümmern hausenden Regimenter war überhaupt nicht zu denken. Nachschub in die Stadt war nur noch auf dem Landweg möglich… und dort fehlten die Fahrzeuge und der Sprit. Und die Pferde. Sie wurden gegessen, sie waren die einzige Nahrung, die man noch kontingentieren konnte… zwölftausend Pferde für dreihunderttausend Menschen…
«Det is ’ne Scheiße!«sagte Knösel endlich, nachdem das Wunder seiner Sprachlosigkeit geschehen war. Aber dann beruhigte er sich. Auch Leinentücher wärmen, wenn man sie faltet, und aus
Leinentüchern kann man Binden reißen. Vor allem aber sagte sich Knösel nach der ersten Verblüffung, daß man ein Markierungstuch einmal ausprobieren sollte. Mehr als Feuer konnte nicht vom Himmel fallen, und das war nichts Neues mehr. Also rollte er sein Leinentuch mit dem großen weißen Kreuz wieder zusammen und ging auf die Suche nach einem Platz, wo man es ausbreiten und wo ein himmlischer Segen auch landen konnte. Zu diesem Zweck nahm er den Feldwebel Rottmann mit.
«Los, du Riesenschwein!«sagte Knösel zu ihm und stieß ihn die Kellertreppe hinauf.»Wenn du glaubst, du könntest hier nur ’rumsitzen und Wachmann spielen, dann haste dir in ’n eigenen Stiefel gepißt! Los, mach schon! Und wennste dreimal Feldwebel bist… hier biste nur ’n Klumpen Fleisch, das Jlück hatte, nich jespickt zu werden…«
Emil Rottmann dachte gar nicht an Widerstand. Seit man ihn als Bewacher von Dr. Körner wieder in die Stadt geschickt hatte, ahnte er, daß sein Leben ebenso abgeschlossen war wie das der anderen Landser. Ihm blieb nur noch die Flucht nach vorn, zu den Sowjets, das Überlaufen, das in den letzten Tagen ein paarmal vorgekommen war und von dem die großen Lautsprecher berichteten, die an allen Stellen der Stadt aus den Ruinen hinüber zu den deutschen Stellungen dröhnten, mit Marschmusik, Walzerklängen und den Berichten der Übergelaufenen. Sie erzählten von guter Verpflegung, warmer Winterkleidung, sauberer Unterkunft, anständiger Behandlung. Sogar ein General sprach einmal. Er lebte jetzt in Moskau und nannte es seine neue Heimat. Rottmann hörte sich das alles an, immer und immer wieder. Ob es stimmt, dachte er. Oder ob sie nur lügen, wie unsere Propaganda es sagt? So zögerte er immer wieder, starrte hinüber zu den Häuserruinen, in denen die Russen saßen, sah die Panzer hin und her rollen, sah ab und zu eine graue Gestalt herumhuschen, dicke Mäntel, Pelzmützen… Sie frieren nicht, dachte er. Sie haben alles, was uns fehlt. Über die Wolga rollen ihre Divisionen, während wir hier verfaulen. Man müßte überlaufen, man müßte…
Im Hof eines Magazins fanden sie einen guten Platz für ihr Markierungstuch. Der Hof war fast trümmerleer… die Häuser waren zur Straße hin umgekippt. Er war wie eine Oase, ein Stück jungfräulicher Haut im pockennarbigen und warzigen Gesicht der Erde.
«Faß an, du Dussel!«rief Knösel und rollte sein Tuch aus.
Emil Rottmann saß auf einer zerborstenen Mauer und starrte zu den Russen. Keine 150 Meter, dachte er und schielte zu Knösel. 150 Meter bis zum Überleben, wenn das stimmt, was sie immer durchs Sprachrohr blasen. Ob Knösel schießen würde, wenn er plötzlich aufsprang, mit dem Taschentuch winkte und hinüberlief zu den befestigten Ruinen?
Rottmann zögerte. Er sah Knösels Maschinenpistole vor dessen Brust pendeln.
«Du trübe Tasse!«schrie Knösel.»Faß an… det Ding muß ganz plan liejen, und Steine tun wir ooch druf, sonst fliecht det Ding weg! Mensch, such wenigstens ’n paar Steine…«
Rottmann griff in die Tasche und umkrallte sein Taschentuch. Aufspringen, ein Schwung über die Mauer, Taschentuch hoch und winken… laufen… winken… laufen… hinein in das Leben… Aber wenn er schoß… wenn Knösel wirklich schoß… Oder wenn die Russen schossen? Aber das konnten sie nicht tun. Man schießt auf keinen, der ein weißes Tuch schwenkt.
Rottmann riß sein Taschentuch heraus und duckte sich zum Sprung. Im gleichen Augenblick sah er, daß er kein weißes, sondern ein blaues Wehrmachtstaschentuch bei sich hatte. Diese Sekunde des Zögerns entschied. Von einer Ruine her bellte es auf. Dreimal ganz kurz… am Kopf vorbei summten die Geschosse wie riesige Hornissen. Rottmann ließ sich hinter die Mauer fallen, Knösel lag bereits in Deckung.
«Soll man das für möglich halten?!«brüllte er und kroch an Rottmann heran.»Du Eckenscheißer, du! Halt dich still!«
Sie lagen ein paar Minuten und warteten. Es geschah nichts weiter, der Hof war nicht einzusehen. Der sibirische Scharfschütze in seinem Stand hatte nur für einen Augenblick den weißgetünchten Helm Rottmanns gesehen und sofort geschossen. Nun lag die merkwürdige Stille wieder über den Trümmern.
Knösel und Rottmann arbeiteten wortlos weiter. Sie breiteten das Tuch aus, beschwerten es an den Kanten mit Steinen und betrachteten dann ihr Werk. Ein großes weißes Kreuz leuchtete auf dunklem Grund.
«Und was soll das?«fragte Rottmann.
«Das ist das Zeichen für ’n Nikolaus!«
«Du glaubst doch nicht, daß hier jemand etwas abwirft?«
«Abwarten.«
«Du lockst höchstens die Artillerie vom Iwan hierher.«
«Man muß alles versuchen. «Knösel setzte sich an die Mauer und stopfte sich seine berühmt-berüchtigte Pfeife. Wenn sie richtig brannte, schnalzte sie wie wiederkäuende Kühe. Auch was Knösel rauchte, machte ihn berühmt als >Mann ohne Lunge und mit ledernem Gaumen<, wie es Dr. Portner nannte… es waren kaum sichtbare Krümel von Machorka, vermischt mit Sägespänen, getrocknetem Gras und — als Superwürze — geschnittenen Disteln. Dr. Portner hatte Knösel befohlen, seinen >raucherischen Perversi-täten< nur im Freien zu frönen, und so saß Knösel viermal täglich auf der Kellertreppe und schmatzte mit seiner Pfeife.
«Man muß alles versuchen«, wiederholte Knösel und machte den ersten Pfeifenzug. Es röchelte in dem hölzernen Kopf.»Hätt-ste jejlaubt, det du einmal in ’nem Granatloch Platz hast, wat? Ick hab imma von ’nem Begräbnis jeträumt mit Fahnen, Musike, Pastoransprache und >Leb wohl, Bruder< vom Kejelklub. Neese, mein Junge. Jetzt sind wir Helden!«
Während der Stille wurde Stalingrad mehrmals überflogen. Meistens waren es sowjetische Aufklärer, die über den deutschen Stellungen kreisten und fotografierten. Am Abend kroch Knösel wieder hinaus zu seinem weißen Kreuz. Eine kleine, metallen blinkende Bombe lag am Rande des Tuches. Es schien eine Verpflegungsbombe aus Aluminium zu sein.
«Hurra!«brüllte Knösel. Er boxte Rottmann in die Seite und tippte an seine Stirn.»Hier muß man et haben, Junge. Nicht verzagen — Knösel fragen… det sollte sich die janze 6. Armee merken!«
Sie liefen zu der Bombe und brachen den Deckelverschluß auf. Knösel betrachtete sie fachmännisch und grinste breit.
«Kommt vom Iwan! ’ne russische Labung! Wetten, det Sojabohnen in Tomatensoße drin sind? Oder Jrütze?«
Sie stemmten den Deckel ab und zogen einen länglichen Holzbehälter heraus. In der Holzrolle war zusammengerollte Leinwand… Knösel zerrte sie heraus, stülpte die Bombe um und sah wieder hinein.
«Is det alles?«
«Ja.«
«Noch ’n Tuch! Aufrollen, Junge.«
Er legte die Leinenrolle auf den Boden und gab ihr einen Tritt. Sie entrollte sich… ein Bild wurde sichtbar… erst Himmel… dann graue, stehende Haare… Augen mit buschigen Brauen…
eine starke Nase… Schnurrbart… ein energisches Kinn… Der Kopf Stalins lachte Knösel an, riesengroß, jovial, ein auf Leinen gedrucktes Meisterwerk.
An diesem 8. Januar 1943 schien es, als wolle das Schicksal davor zurückschrecken, Hunderttausende von Menschen einer Sinnlosigkeit zu opfern.
Durch einen Funkspruch in deutscher Sprache ließ das Oberkommando der Roten Armee dem Oberbefehlshaber der 6. Armee vor Stalingrad, Generaloberst Paulus, mitteilen, daß drei Parlamentäre sich der nördlichen deutschen Stellung nähern würden, um ein wichtiges Schreiben zu überbringen. Man bitte darum, sie zu empfangen.
Generaloberst Paulus sagte zu. Um 10 Uhr vormittags erschienen die sowjetischen Offiziere mit der weißen Fahne. Als sollte ihre Mission deutlich unterstrichen werden, schwiegen die russischen Angriffe bis auf ein Minimum. Man beschränkte sich auf die Abwehr deutscher Stoßtrupps.
Die drei Parlamentäre brachten ein Schreiben mit, das sofort an den Befehlsstand der 6. Armee weitergereicht wurde. Generaloberst Paulus und sein Stabschef, General Schmidt, studierten den Brief… es war ein Ultimatum des Oberbefehlshabers der Truppen der Don-Front, Generalleutnant Rokossowskij. Das Ultimatum lautete folgendermaßen:
«An den Befehlshaber der deutschen 6. Armee, Generaloberst Paulus, oder seinen Stellvertreter und an den gesamten Offiziersund Mannschaftsbestand der eingekesselten deutschen Truppen von Stalingrad.
Die deutsche 6. Armee, die Verbände der 4. Panzerarmee und die ihnen zwecks Verstärkung zugeteilten Truppeneinheiten sind seit dem 23. November 1942 vollständig eingeschlossen.
Die Truppen der Roten Armee haben diese deutsche Heeresgruppe in einen festen Ring eingeschlossen. Alle Hoffnungen auf Rettung Ihrer Truppen durch eine Offensive des deutschen Heeres vom Süden und Südwesten her haben sich nicht erfüllt. Die Ihnen zu Hilfe eilenden deutschen Truppen wurden von der Roten Armee geschlagen, und die Reste dieser Truppen weichen nach Rostow zurück. Die deutsche Transportluftflotte, die Ihnen eine Hungerration an Lebensmitteln, Munition und Treibstoff zustellte, ist durch den erfolgreichen und raschen Vormarsch der Roten Armee gezwungen worden, oft die Flugplätze zu wechseln und ausgroßer Entfernung den Bereich der eingekesselten Truppen anzufliegen. Hinzu kommt noch, daß die deutsche Transportluftflotte durch die russische Luftwaffe Riesenverluste an Flugzeugen und Besatzungen erleidet. Ihre Hilfe für die eingekesselten Truppen wird irreal.
Die Lage Ihrer eingekesselten Truppen ist schwer. Sie leiden unter Hunger, Krankheiten und Kälte. Der grimmige russische Winter hat kaum erst begonnen. Starke Fröste, kalte Winde und Schneestürme stehen noch bevor. Ihre Soldaten aber sind nicht mit Winterkleidung versorgt und befinden sich in schweren sanitätswidrigen Verhältnissen.
Sie als Befehlshaber und alle Offiziere der eingekesselten Truppen verstehen ausgezeichnet, daß Sie über keine realen Möglichkeiten verfügen, den Einschließungsring zu durchbrechen. Ihre Lage ist hoffnungslos und weiterer Widerstand sinnlos.
In den Verhältnissen einer aussichtslosen Lage, wie sie sich für Sie herausgebildet hat, schlagen wir Ihnen zur Vermeidung unnötigen Blutvergießens vor, folgende Kapitulationsbedingungen anzunehmen:
1) Alle eingekesselten deutschen Truppen, mit Ihnen und Ihrem Stab an der Spitze, stellen den Widerstand ein.
2) Sie übergeben organisiert unserer Verfügungsgewalt sämt liche Wehrmachtsangehörige, die Waffen, die gesamte Kampf ausrüstung und das ganze Heeresgut in unbeschädigtem Zu stand.
3) Wir garantieren allen Offizieren und Soldaten, die den Wi derstand einstellen, Leben und Sicherheit und nach Beendi gung des Krieges Rückkehr nach Deutschland oder in ein be liebiges Land, wohin die Kriegsgefangenen zu fahren wün schen.
4) Allen Wehrmachtsangehörigen der sich ergebenden Truppen werden Militäruniform, Rangabzeichen und Orden, persön liches Eigentum und Wertsachen, dem höheren Offizierskorps auch die Degen belassen.
5) Allen sich ergebenden Offizieren, Unteroffizieren und Solda ten wird sofort normale Verpflegung sichergestellt.
6) Allen Verwundeten, Kranken und Frostgeschädigten wird ärztliche Hilfe erwiesen werden.
Es wird erwartet, daß Ihre Antwort am 9. Januar 1943 um 10 Uhr Moskauer Zeit in schriftlicher Form übergeben wird. Durch einen von Ihnen persönlich genannten Vertreter, der in einem Personenkraftwagen mit weißer Fahne auf der Straße nach der Ausweichstelle Konny, Station Kotlubani zu fahren hat. Ihr Vertreter wird von russischen bevollmächtigten Kommandeuren im Bezirk B 0,5 Kilometer südöstlich der Ausweichstelle 564 am 9. Januar 1943 um 10 Uhr empfangen werden.
Sollten Sie unseren Vorschlag, die Waffen zu strecken, ablehnen, so machen wir Sie darauf aufmerksam, daß die Truppen der Roten Armee und der Roten Luftflotte gezwungen sein werden, zur Vernichtung der eingekesselten deutschen Truppen zu schreiten. Für ihre Vernichtung aber werden Sie die Verantwortung tragen.
Der Vertreter des Hauptquartiers des Oberkommandos der Roten Armee,
Generaloberst der Artillerie Woronow
Der Oberbefehlshaber der Truppen der Don-Front,
Generalleutnant Rokossowskij.«
Noch einmal stellte sich die Vernunft vor Blindheit und Wahn. Wohl nie ist in einer solchen Situation einer besiegten Armee ein solch großzügiges Angebot gemacht worden. Das Schicksal von gegenwärtig 230 000 eingeschlossenen deutschen Soldaten hing an einem einzigen Ja oder Nein.
Generaloberst Paulus erfaßte die letzte Chance, ehrenvoll zu kapitulieren und seiner Armee das Leben zu retten. Er gab das Ultimatum per Funkspruch an das Führerhauptquartier durch und bat um Handlungsfreiheit. Er sprach diese Bitte aus, weil es ihm als Offizier alter preußischer Schule nie und nimmer in den Sinn gekommen wäre, selbständig zu handeln, wie es seit Wochen immer wieder der Kommandeur des LI. Armeekorps, General v. Seydlitz, forderte.
Die Antwort aus dem sicheren Führerhauptquartier kam sofort, bedenkenlos und kalt. Es war das Verbot, zu kapitulieren:
Jeder Tag, den die 6. Armee länger halt, hilft der gesamten Front und zieht von dieser russische Divisionen ab.
Das Todesurteil über 230000 Menschen war endgültig gesprochen. Generaloberst Paulus wußte es, als er die Ablehnung Hitlers in der Hand hielt… ein kleiner Zettel mit wenigen Zeilen, den ihm die Funker gereicht hatten. Ein paar Worte, ein paar heroisch klingende Sätze… das Sterben einer ganzen Armee!
Am 9. Januar 1943 wurde das sowjetische Oberkommando benachrichtigt, den Parlamentären das Schriftstück übergeben. Es war mit Generaloberst Paulus unterschrieben. Mit dieser Unterschrift übernahm er allein die Verantwortung für das Sterben seiner Armee.
Am selben Tag, diesem 9. Januar 1943, ging ein mysteriöser Funkspruch an alle Generalkommandos im Kessel zur Weitergabe an alle Truppenkommandeure. Absender war das Armee-Oberkommando. Der Funkspruch lautete:
Die Truppe ist davon zu unterrichten, daß Parlamentäre in Zukunft durch Feuer abzuweisen sind.
Die letzte hingestreckte Hand des Lebens wurde weggeschossen. Die Kommandeure, die den Funkspruch erhielten, sahen entsetzt auf den Fetzen Papier. Der Selbstmord einer Armee war perfekt geworden. Alle Rückfragen beim Armee-Oberkommando liefen sich tot… niemand wußte, wer diesen letzten, wahnwitzigen Befehl gegeben hatte, wer für ihn verantwortlich zeichnete… Generaloberst Paulus wußte nichts von ihm, Stabschef General Schmidt, die >Graue Eminenz< der 6. Armee, schwieg… aber der Befehl blieb weiterhin bestehen!
Bis heute weiß man nicht, wer für dieses Dokument deutscher Soldatenüberheblichkeit, das einzig in der Geschichte dasteht, verantwortlich ist.
Ober Stalingrad senkte sich das Leichentuch. Es deckte 230 000 deutsche Männer zu.
Wer kann es ihm verübeln, dem Mladschij Sergeant Iwan Iwano-witsch Kaljonin, daß er trotz seiner vaterländischen Begeisterung zuerst nach Vera, seinem Weibchen, suchte?
In den Kellern rund um den >Tennisschläger<, in denen noch immer Hunderte von Frauen, Kindern und Greisen hockten, hatte er erfahren, daß Veraschka nicht in Gefangenschaft geraten sei, wie es die Pannarewskaja gesagt hatte, sondern daß man sie noch gesehen habe, wie sie Verwundete durch die Ruinen schleifte und Frauen und Kinder durch das Feuer der deutschen MGs zum Wolgaufer in Sicherheit brachte.
«Ich bin keine Heldin«, hatte sie einmal gesagt, als ein Parteikomiteemitglied sie lobte.»Großväterchen haben sie erschossen, den guten, alten Abranow, und Iwan, meinen Mann, haben sie erschossen… was soll ich da noch auf dieser Welt? Aber ich will sterben wie sie… aufrecht und im Einsatz für das Vaterland…«
So hatte sie gesprochen, man erzählte es Kaljonin in den Kellern, und er war stolz und doch traurig zugleich.
«Ein dummes Vögelchen«, sagte er.»Seht, ich lebe doch!«Dann verschwand er wieder und suchte in der Trümmerwüste nach seiner Vera.
Das Leben in den Kellern war grausam. Zweimal mußte Kai-jonin helfen, ein Kind auf diese donnernde und sich in Feuer und Rauch auflösende Welt zu bringen. Da lagen die Gebärenden auf dem kalten, feuchten Kellerboden und schrien, die Nachbarinnen knieten daneben und massierten den Bauch, in einem Kessel kochte Schneewasser… weiter war nichts da. Sie mußten gebären wie die Hunde und Katzen.
«Laßt es nicht leben, ihr Lieben!«schrie eine der Gebärenden und krallte sich in die Schultern Kaljonins, der ihre Schenkel auseinanderdrückte.»Laßt es nicht diese Welt sehen, Genossen! Tötet es, tötet es, bevor es atmet…«
Der Keller bebte unter den Einschlägen der Granaten und Raketen. Es waren sowjetische Geschosse, die die Trümmer umpflügten. Wer wußte denn noch, wo in den Ruinen Freund oder Feind saß, wer kannte sich aus, ob das linke Haus der Straße von der Roten Armee und das rechte von den Deutschen besetzt war? Oft hockten im Erdgeschoß die Rotarmisten und in der ersten Etage deutsche Pioniere, und ein Häuserblock wie etwa eine Konservenfabrik war international… Kalmücken, Kirgisen, Weißrussen und Mongolen saßen hier hinter Steinbarrikaden ebenso wie Kölner, Sachsen, Bayern, Hamburger und Pommern. Wohin sollte man schießen?
Kaljonin zog an dem Kopf des Kindes. Er schwitzte, der Blutgeruch verursachte ihm Übelheit, das Schreien der Gebärenden hämmerte auf sein Hirn.
«Zerreiß es, Genosse!«brüllte sie.»Es wird glücklicher sein, als wenn es lebt. Hab Mitleid, Genosse… hab Mitleid…«
Nach der Geburt rannte Kaljonin weiter. Man hatte Vera gesehen, vor ein paar Stunden. Verwundet war sie, an der Stirn, nur ein Streifschuß. Sie sagte, sie wolle zurück zum Wolgaufer laufen, um Trinkwasser herbeizuschaffen. Und Hirse und Mehl… In einem Keller hatte sie vierzehn Frauen und Kinder gefunden, die seit acht Tagen nichts anderes aßen als eine schleimig-leimige Suppe, die sie aus geraspelten Deckenbalken kochten. Kaljonin ließ ihnen seine Brotration dort und rannte zurück zur Wolga.
Sie lebt, meine Veraschka, schrie es in ihm. Man hat ihr die schöne Stirn angekratzt, aber so ein Närbchen wird sie verzieren, nicht entstellen. Seht, wird man sagen, diese süße Narbe… im Großen Vaterländischen Krieg hat sie sie bekommen, mitten in Stalingrad! Und die Kinder werden davon erzählen und die Kindeskinder. Vera Kaijonina war ein tapferes, mutiges Mädchen.
Am Steilufer der Wolga erfuhr Kaljonin von der Gefangennahme des ganzen Lazaretts, als man versucht hatte, den Helden der Nation, Oberst Sabotkin, zu bergen. So gehen sie dahin, dachte Kaljonin und empfand einen eisigen Panzer der Angst um sein Herz. Erst der Major Kubowski, dann Dr. Sukow und die Pannarewskaja. Wenn man bloß Veraschka findet… Iwan Iwanowitsch rannte weiter. Er fiel nicht auf in dem Gewühl der Truppen, die im Schutz des steilen Wolgaufers sich sammelten und bereitstanden für den Tag, an dem die deutsche 6. Armee in der roten Flut ertrinken sollte.
Zwei Minuten nach 10 Uhr, am 10. Januar 1943, zwei Minuten nachdem das Ultimatum Generalleutnants Rokossowskij abgelaufen war, öffneten sich die Schleusen der letzten Hölle.
Fünftausend Geschütze aller Kaliber und Arten trommelten zwei Stunden lang auf die deutschen Stellungen. Auf eine Länge von achtzig Kilometern, auf einen riesigen Halbkreis krachte eine feurige Faust, hob sich die gefrorene Erde, schmolz der Schnee, wurde vereister Boden in der Glut der Detonationen zu Schlamm. Zwei Stunden lang hämmerten die sowjetischen Geschütze und Werfer, Mörser und Stalinorgeln auf das Land und pflügten es mehrmals um… zwölf armselige deutsche Divisionen lagen in diesem Feuerhagel, 540 zusammengeschrumpfte, hungernde, frierende, ausgemergelte, müde Kompanien wurden in den Boden gedrückt.
Nach diesem Feuerschlag traten die weißgetünchten Panzermassen der Sowjets an allen Fronten zum Angriff an… ein Ring feuernder Rieseninsekten, die den Kessel von allen Seiten eindrückten. Hunderte, Tausende stählerner Ungetüme… die deutschen Regimenter standen ihnen fassungslos und wehrlos gegenüber.
Im ganzen Kessel von Stalingrad befanden sich an diesem Tag noch vierzehn deutsche Panzer, die einsatzfähig waren! Sechzehn Panzer waren eingegraben worden, weil ihnen der Sprit fehlte. Sie bildeten kleine Forts, bis ihnen die Munition ausging.
In Stalingrad-Stadt hörte und sah man diesen Beginn des Sterbens einer Armee. Man saß an den Funkgeräten und nahm die Meldungen der Divisionen und Regimenter auf, die in kürzester Zeit überrollt wurden oder fluchtartig zurückgehen mußten. Aus allen Meldungen war zu erkennen, daß der Hauptstoß der sowjetischen Panzer auf Karpowka und über Dimitrijewka hinauf auf Pitomnik zielte, auf den Flugplatz Pitomnik, die Lebensader der 6. Armee.
«Mein Gott…«, sagte Dr. Portner am Abend des 10. Januar. Er saß mit Dr. Körner, Dr. Sukow und der Pannarewskaja am Funkgerät und sammelte die Sprüche der einzelnen Divisionen ein.»Das ist das Ende…«
Dr. Sukow schwieg. Nur seine Augen leuchteten. Er hatte seit seiner Gefangennahme und dem kurzen Gespräch mit Dr. Portner vor der Operation an Oberst Sabotkin kein Wort mehr gesprochen. Es war, als könne er seine Verachtung für die Deutschen nicht besser ausdrücken als dadurch, daß er sie übersah und sie nicht für wert hielt, ein Wort aus dem Mund des Chefchirurgen Sukow zu hören. Dr. Körner und Olga Pannarewskaja saßen dicht nebeneinander. Als die Funksprüche den Zusammenbruch der äußeren Stellungen klarwerden ließen, tastete sie nach seiner Hand und umfaßte sie.
In der Stadt war es jetzt stiller als am Einschließungsring. Die sowjetischen Divisionen drückten die ausgebluteten deutschen Regimenter nach Osten… die >Nase von Marinowka< wurde überrannt, Zybenko im Süden niedergewalzt… am Abend des 10. Januar 1943 meldete die 6. Armee an die deutsche Heeresgruppe >Don<:
Armee meldet schwere russische Durchbrüche, Norden, Westen, Süden, mit Zielrichtung Karpowka und Pitomnik. 44. und 76. Infanteriedivision schwer angeschlagen, 29. mot. nur mit Teilen einsatzfähig. Keine Aussicht, entstandene Durchbrüche zu schließen. Dimitrijewka, Zybenko undRadiotin aufgegeben…
Dr. Portner las die Armeemeldung langsam vor. Auf einer Karte zeichnete Dr. Körner den neuen Frontverlauf mit einem Bleistiftstummel ein.
«Wenn das so weitergeht, sind wir in vier Tagen zusammengedrückt«, sagte Dr. Portner.
Dr. Sukow lehnte sich zurück an die feuchte Kellerwand.
«Es wird so weitergehen…«
«Soll ich Ihnen gratulieren?«Dr. Portner sah zu Dr. Körner und Olga Pannarewskaja. Sie verließen den OP-Keller.»Sie wissen, daß wir hier alle in die Hölle fahren… auch Sie…«
«Ja.«
«Und das regt Sie nicht auf?«
«Nein.«
«Es regt Sie nicht auf, daß das alles sinnlos ist?«
«Nein. «Dr. Sukow sah auf den tickenden Funkempfänger. Neue Meldungen von den Fronten jagten sich. Neue Aufschreie des Sterbens.
Während die 6. Armee in den glühenden Zangen der russischen Panzerdivisionen zerdrückt und zermalmt wurde, wurde im Führerhauptquartier der Text für den Wehrmachtsbericht des 11. Januar vorgelegt. Er enthielt über den Untergang des Kessels Stalingrad nur einen einzigen Sammelsatz:
Das Oberkommando der Wehrmadit gibt bekannt: In Nordkaukasien, bei Stalingrad und im Dongebiet wurden fortgesetzte Angriffe zahlenmäßig überlegener Infanterie- und Panzerkräfte der Sowjets in schweren Kämpfen blutig abgewiesen.
Weiter nichts. Für Hitler war die 6. Armee bereits gestorben.
In einem Granattrichter saßen Dr. Körner und die Pannarewskaja. Sie starrten in den Nachthimmel, der von allen Seiten durchzuckt war von Bränden und Wetterleuchten. Ein riesiger Mond hing über der Stadt, unwirklich in seiner brennenden Kälte.
«Hast du Angst?«fragte die Pannarewskaja.
«Nein. «Dr. Körner lehnte den Kopf an den Trichterrand.»Wovor Angst?«
«Vor dem Sterben, Liebster…«
«Ich habe nie daran gedacht, wie es sein könnte, einmal nicht diesen Mond zu sehen, oder die Sterne, oder die Sonne, oder dich… Ich wußte nicht, daß es dich gibt. Jetzt müßte ich denken: Wie schön wäre es, nicht ’in einem Granattrichter, sondern im hohen Sommergras zu liegen, mit dir, deinen Atem zu hören, deine Wärme zu spüren… Aber ich kann es nicht denken… Es ist alles so leer in mir… so ausgebrannt wie die Ruinen um uns…«
Olga Pannarewskaja legte den Arm um seinen Hals und drückte ihr Gesicht an seine unrasierte, stachelige Wange. Jetzt sprach sie russisch, ihr Herz war so voll, daß ein deutsches Wort keinen Platz mehr hatte.
«Skolko tebje Ijet?«fragte sie. (Wie alt bist du?)
«Sechsundzwanzig, Olga.«
«Dai mnje twoju ruku…«(Gib mir deine Hand.)
26 Jahre ist er alt, dachte sie. Drei Jahre jünger als ich. Aber wir alle sind noch zu jung, um zu sterben. Was wissen wir denn vom Leben? Was hat man uns denn an Schönheit gegönnt? Haben wir überhaupt schon gelebt?! Was war es denn, dieses Leben? Ein Bauerndorf, ein betrunkener Vater, eine geduldige Mutter. Die Schule, die Jungaktivistenverbände, die Komsomolzen, die Universität, die Klinik, der Krieg… und nur immer lernen, arbeiten, aktivieren, Soll erfüllen, das Vaterland lieben, dienen, gehorchen… Man hatte das Herz vergessen. Jetzt spürte man es, ein paar Schläge, bevor es zerrissen werden würde.
Sie legte ihre Hände um Körners schmalen Kopf und drehte sein Gesicht zu sich. Ihre großen, schwarzen herrlichen Augen glänzten.
«Pozelui menja…«, sagte sie. (Küß mich.)
Er küßte sie, und unter ihren Lippen, die heiß waren und sich öffneten, begann er zu zittern und umklammerte ihre Schultern.
«Wir sind verrückt«, sagte er heiser.»Mein Gott… wir sind ja verrückt…«
«Jtibja ljublju…«(Ich liebe dich), sagte sie. Sie drückte seinen Kopf an ihre Brüste und streichelte seine blonden Haare.»Warum sollen in einer verrückten Menschheit wir zwei die einzigen Normalen sein? O mein Liebling… morgen ist es vorbei… oder in dieser Nacht… in einer Stunde… gleich, in der nächsten Sekunde… wissen wir es?«
«Warum machst du uns das Sterben so schwer, Olga?«
«Es wird nicht schwer sein… wir werden uns umarmen und wissen, warum wir sterben… Die Welt, in der wir leben könnten, wird es nie geben. Wir sind ein verfluchtes Geschlecht…«
Die Panzerkeile der sowjetischen Divisionen rasselten auf Pitomnik zu. Ihnen entgegen liefen, stolperten, tappten, taumelten, krochen auf Händen und Knien, wurden gezogen oder getragen, in Zeltplanen, auf Brettern, in leeren Munitionskisten, stöhnend, wimmernd, schreiend, fluchend, über 14 000 deutsche Verwundete.
Keiner von ihnen erreichte mehr den Flugplatz. Sie blieben auf der Straße, am Wegrand… sie schneiten zu, erfroren, wurden überfahren, in das Eis gestampft… 14 000 Männer mit aufgerissenen, blutenden Leibern… eine Stadt, so groß wie Oelde oder fünfmal mehr als Meersburg am Bodensee.
«Ich liebe dich…«, sagte die Pannarewskaja.»Wir wollen an nichts anderes mehr denken… auch das Denken ist vorbei…«