Kapitel 12

Die Luftversorgung brach, zusammen. Nur Gumrak wurde noch angeflogen. Dort landeten die Ju 52 mit dem Material, auf das die 6. Armee händeringend wartete… Waffen, Munition, Sprit für Panzer und Fahrzeuge, Sanitätsmaterial, Verpflegung… 500 Tonnen täglich hatten Hitler und Göring der Armee versprochen, nicht einmal der zehnte Teil wurde geliefert. Hinzu kam, daß nicht alles, was in Pitomnik oder Gumrak gelandet wurde, auch bis nach vorn an die kämpfende Truppe kam. Die Bürokratie der Beamten, die selbst in der Hölle nicht aufhört, was Stalingrad bewies, verhinderte mit deutscher Gründlichkeit die auch nur notdürftige Versorgung der kämpfenden Truppe. Von den 334 000 eingeschlossenen Mann waren 66 500 wirkliche Fronttruppen… die anderen, also über 270 000 Mann, gliederten sich in Nachschubeinheiten, Werkstätten, Eisenbahnbataillone, Bautrupps, Troß, Führungsstäbe, Transportstaffeln; es war klar, daß diese >Truppen am Drücker< zuerst von dem einfliegenden Material das abstaubten, was sie selbst brauchten. Für die kämpfenden, ausgebluteten, hungernden, frierenden, erschöpften Landser in den Löchern und Kellern Stalingrads, in den Erdbunkern und Schneewehen der schutzlosen Steppe blieb der kärgliche Rest. Vom 10. Januar an war es täglich fast nichts, vom 16. Januar ab gar nichts mehr… von Pitomnik flüchteten die Zahlmeister in warmen, dicken Lammfellmänteln und hohen Filzstiefeln… in der Steppe von Rakotino lagen die sterbenden Kompanien in dünnen Sommermänteln bei 40 Grad Kälte auf dem Eis, und in den Knobelbechern erfroren die Füße, weil es nicht einmal Wollsocken gab. Die lagen in einem riesigen Versorgungslager irgendwo im Kessel, das beim Anrük-ken der sowjetischen Panzer in Brand gesteckt wurde, nachdem der Stabszahlmeister vorher ordnungsgemäß die Posten ausbuchte und die Listen abschloß. Die Kisten mit den Bestandsmeldungen nahm er auf der Flucht mit. Er wollte beweisen, daß alles korrekt ge-handhabt worden war. Zwei Tage vorher hatte er sich geweigert, die Socken, es waren einige tausend, an durchziehende Truppen auszugeben, weil er keinen Befehl dazu hatte.

Stalingrad bewies, daß eine Armee auch durch die Korrektheit deutscher Beamter sterben kann.

Am 16. Januar fiel Pitomnik in sowjetische Hand. Die beiden letzten deutschen Flakbatterien der Flak-Artillerie-Schule Bonn sprengten ihre Geschütze, nachdem sie alle Granaten verschossen hatten und kein Sprit mehr vorhanden war, sie abzutransportieren. Die Lebensader des Kessels, der Flugplatz Pitomnik, war durchschnitten. Die Versorgung aus der Luft geschah nur noch durch Abwerfen von Verpflegungs- und Materialbomben, am Tage sechs bis acht Tonnen. Und fünfhundert wurden gebraucht!

Die 6. Armee war ein riesiger Leib, der stückweise abstarb, der von allen Seiten zur Mitte hin verfaulte… bis zum Herzen, das weiter schlug… in den Trümmern einer Stadt, die nicht einmal mehr einer Mondlandschaft glich.

Das alles geschah in fünf Tagen.

Und fünf Tage sind eine kurze Zeit…

Es gab keinen anderen Weg in diesen Tagen als nach Osten, hinein in die Stadt. Je enger die Zange gedrückt wurde, um so mehr fluteten die deutschen Einheiten aus der Steppe in die Ruinenwüste. Hier gab es wenigstens Keller, in denen man sich verkriechen konnte, hier gab es Erd- und Steinwälle, geschützte Gräben, Ruinen und ausgebaute Trichter, hier waren zwar auch 40 Grad Kälte, aber der Wind brach sich in den Trümmern und heulte nicht über den weißgedeckten Tisch der bäum- und strauchlosen Steppe. Hier gab es Wärme, denn jede Ecke in den Ruinen, wo der Wind nicht wehte, wurde als warm empfunden. Hier gab es sogar Brunnen, die noch klares Wasser spendeten, hier gab es Balken und Dachlatten, Eisenbahnschwellen und Dielenbretter, die man verheizen konnte und die man raspelte und sägte, um aus dem Holzmehl eine sämige Suppe zu kochen, angereichert mit dem dickenden Fußpuder, von dem sinnigerweise noch genug vorhanden war.

Also hinein in die Stadt… hinein in die Trümmerwüste weg aus der Steppe, in der die weißgestrichenen sowjetischen Panzer alles in den Schnee mahlten, was sich vor ihnen bewegte.

Nur noch in Gumrak landeten die Flugzeuge. Der Kessel war zusammengeschrumpft wie ein Bratapfel. Er war 25 km lang und 16 km breit. In ihm wimmelten 284 000 Mann wie aufgescheuchte Ameisen herum, wurden mit Bomben belegt, von Salvengeschützen in die Erde gepflügt, von Stalinorgeln zerrissen, unter Panzerketten zerquetscht, von Minen in die Luft geschleudert, verhungerten, erfroren, schrien im Fieber, lösten sich in Eiter auf, krochen herum wie blinde Hunde, ein Aufbäumen gegen das Grauen, eine sinnlose Flucht vor der Vernichtung.

Die Lazarettkeller von Stalingrad quollen über.

Dr. Portner stand hilflos der Flut gegenüber, die über die steile Treppe in sein Kellerlabyrinth unter dem Kino hinabspülte. Sie krochen auf allen vieren heran, die zerfetzten, brandig-schwarzen Glieder hinter sich herziehend, sie grinsten im Fieberwahn oder rollten brüllend die Stufen herunter, sie bissen sich um einen Platz im Keller und fielen wie Hyänen über die Toten her, schleiften sie weg, eroberten sich den frei werdenden Kellerfleck. Und dann lagen sie da, wurden apathisch, faulten dahin, beteten mit Pastor Sanders und Pfarrer Webern, und immer war es das gleiche, das sie in merkwürdiger Ruhe sterben ließ: der Gedanke an zu Hause, die Erinnerung an die Frau, die Mutter, die Braut, die Kinder. Sie sahen in den letzten Minuten ihren Garten, ihr Haus, die Wohnung, das Sofa, auf dem sie gesessen hatten, sonntags, wenn es starken, duftenden Kaffee gab und einen Rosinenblatz, dick mit Butter bestrichen. Nach dem Essen fahren wir alle hinaus… an den Wannsee… in den Grüngürtel… in den Königsforst… an die See… nach Starnberg… nach Heringsdorf, Bansin oder Ahlbeck… zum Kahlen Asten… an die Möhnetalsperre… Sonntag! Mutter, pack den Kartoffelsalat ein! Und zwei Flaschen Kaffee. Und für’n Papa ’ne Flasche Pils.

So starben sie… in der Hölle sich erinnernd an das kleine Paradies… die einen umklammerten die Hände ihres Pfarrers, die anderen streckten sich lautlos, einige schrien noch einmal… 132 000 Männer waren es bis Ende Januar 1943. Sie hätten gern darauf verzichtet, Helden genannt zu werden. Sie waren nichts anderes als Opfertiere deutschen militärischen Versagens… nicht allein Opfer Hitlers, auch Opfer des deutschen Offizierskorps, das in blindem Gehorsam erstarrt war, weil es nichts anderes kannte, als blind gehorchen.

«Geben Sie mir ein Skalpell«, sagte Dr. Sukow finster.

«Wozu?«

«Ich will helfen.«

«Gehen Sie in Ihren Keller, schlafen Sie und träumen Sie von dem Sieg Ihrer glorreichen Roten Armee. «Die Stimme Dr. Portners war voller Bitterkeit.

«Ich bin Arzt wie Sie…«Dr. Sukow winkte. Die beiden sowjetischen Krankenträger hoben einen deutschen Verwundeten auf den Brettertisch. Er hatte die linke Schulter zertrümmert, die Knochensplitter hingen an den zerfetzten Muskeln. Er hatte die Zähne zusammengebissen und starrte den Russen aus fiebernden Augen an.

«Wenn Sie mir ein Skalpell abgeben, Kollege…«, sagte Dr. Sukow höflich. Dr. Portner griff zu seinem Tisch und hielt ihm sein Messer entgegen.

«Bitte.«

«Danke. «Dr. Sukow sah den deutschen Soldaten an. Er war ein älterer Mann, sein Stoppelbart war mit weißen Haaren durchsetzt.

«Kinder?«fragte Sukow. Der Landser nickte.

«Vier — «, stöhnte er.

«Du wirst sie wiedersehen. «Er streckte die Hand aus, einer der russischen Krankenträger gab ihm den Hammer, mit dem sie den Tisch gezimmert hatten. Dr. Sukow wickelte einige Lagen alten, durchbluteten Zellstoffes darum, dann ein paar Streifen des zerrissenen Stalinbildes. An der stumpfen Schlagfläche des Hammers glänzte ein großes Auge Stalins.

«Denk an deine Kinder…«, sagte Dr. Sukow zu dem Verwundeten. Dann hieb er ihm mit dem Hammer auf den Kopf, der Verletzte kippte um, die russischen Träger legten ihn zur Operation zurecht.

Dr. Portner hatte sprachlos dieser Narkose zugesehen. Er nahm den Hammer vom Tisch und betrachtete ihn.

«Betäubt vom Auge Stalins«, sagte er und legte den Hammer zurück.»Ich gratuliere, Kollege — Sie haben Sinn für schwarzen Humor — «

Dr. Sukow zog die Knochensplitter aus der Schulter. Er arbeitete schnell und ruhig, wie in einem großen, modern eingerichteten Operationssaal. Olga Pannarewskaja assistierte. Ab und zu be-gegneten sich ihre Blicke. Es war, als fragten sie sich stumm und antworteten ebenso stumm.

In der Nacht verschwand die Pannarewskaja. Emil Rottmann hatte sie zuletzt gesehen. Sie stand in den Trümmern und sah hinüber zur Wolga. Ein riesiger Flammenwall war dort, der Glückstreffer einer deutschen Granate hatte ein Benzinlager in Brand gesetzt. Dann war Rottmann weggegangen. Man war es gewöhnt, daß die sowjetischen Ärzte nicht bewacht wurden.

Dr. Körner saß vor sich hinbrütend auf seinem Strohsade.

«Da kann man nichts machen, mein Junge«, sagte Dr. Portner und löffelte die Pferdefleischsuppe. Knösel hatte die >Vorräte< durchgezählt. Das Essen für das Lazarettpersonal reichte noch für 10 Tage, wenn es täglich nur einen Teller Suppe und zwanzig Gramm Brot — eine Scheibe also — gab. Wovon die 3000 Verwundeten verpflegt werden sollten, die im Keller und rund um ihn herum in den Trümmern lagen, wußte keiner. Wer nichts mitbrachte, würde verhungern… das war das einzige, was man sicher wußte.

«Sie ist zurück zu ihren sowjetischen Brüdern.«

«Das glaube ich nicht«, sagte Dr. Körner dumpf.

«Wenn auch die Liebe eine Himmelsmacht ist… auch der Himmel hat Grenzen.«

«Warum ist Dr. Sukow dann nicht mitgegangen?«

«Ja, warum?«Dr. Portner hob sich ein kleines Stück Pferdefleisch bis zuletzt auf. Er schob es im Kochgeschirrdeckel hin und her und löffelte erst die Wasserbrühe und die zehn weißen Bohnen. Knösel zählte sie immer gewissenhaft ab. Ob Schütze O oder Stabsarzt… zehn Böhnchen am Tag.»Das habe ich mich auch gefragt. Auf alle Erkundigungen nach der schicken Olga gibt er keine Antwort. Aber er weiß, wo sie ist, so wahr wie ich jetzt dieses Klümpchen Fleisch esse, als sei es eine Spargelspitze in Butter geschwenkt…«Er klopfte Dr. Körner auf die Schultern und drückte ihn auf den Strohsack zurück.»Schlafen Sie erst mal! Sie fallen ja aus der Hose! Sukow vertritt Sie. Sehen Sie sich bloß an, wie er arbeitet. Wie eine Maschine, die darauf eingestellt ist, Glieder abzuhacken. Körper ’rauf, knack-knack, Körper ’runter. Der nächste. Der Mann ist ein Phänomen. So etwas würde bei uns nie Ordinarius, weil alle anderen Mediziner vor seinem Können Angst hätten und Minderwertigkeitskomplexe. Nur ein Muffel ist er… er spricht kein Wort.«

«Er verachtet uns.«

«Ach nee! Sagt das die Olga?«

«Ja.«

«Und warum?«

«Er ist Bolschewist durch und durch. Er kommt sich uns überlegen vor. Er ist der Sieger.«

Dr. Portner sah zu Dr. Sukow hinüber. Mit seinen beiden Krankenträgern und einem deutschen Assistenzarzt schob er die

Leiber der Verwundeten über das Fließband seines Operationstisches. Er schien keine Müdigkeit zu kennen, keine physische Erschöpfung… der Anfall von Schwäche, den er nach der Operation an Oberst Sabotkin gehabt hatte, war der einzige gewesen. Seitdem stand er da, hemdsärmelig, blutbespritzt, nach Eiter stinkend… operierte, wusch sich, operierte weiter, stumm, mit zusammengezogenen Brauen, verkniffenen Lippen. Mit einem Skalpell, ein paar Klammern, einem scharfen Löffel, Nähmaterial aus zerrupften Seidenschals und seinem umwickelten Hammer, mit dem Auge Stalins auf der Schlagfläche.

Dr. Portner wollte etwas sagen, aber er schwieg. Neben ihm war Dr. Körner im Sitzen eingeschlafen. Auch die Sorge um die Pannarewskaja war nicht so stark wie seine Erschöpfung.

Dr. Portner stand auf und trat neben Dr. Sukow.

«Ich mache weiter.«

«Warum?«

«Sie müssen doch umfallen vor Müdigkeit.«

«Wir fallen erst um, wenn es nötig ist!«Das klang stolz und unwiderruflich. Dr. Portner ging zu seinem Strohsack zurück und setzte sich wieder.

Er ist ein Asiate, dachte er. Er ist zäh wie Steppengras.

Iwan Iwanowitsch Kaljonin war ein armer Mann. Das muß jeder einsehen, der begreift, was es heißt, sechs Tage lang durch eine Ruinenwüste zu irren und sein Weibchen zu suchen.

Dazu verfolgte ihn das Pech. Immer, wo er auftauchte, hatte man Veraschka gerade gesehen. Schließlich war es so, daß man sich selbst nachlief und im Kreis herumirrte. Wo Vera erschien, erzählte man ihr von Kaljonin.»Wo ist er jetzt? Wo?!«rief sie und rannte davon. Das gleiche passierte Kaljonin. Er hüpfte vor Freude, wenn er erfuhr, daß Vera noch lebte, und rannte davon. Irgendwo mußte man sich ja treffen, so groß war keine Stadt, daß sich zwei Liebende nicht begegnen mußten. Aber es gab in Stalingrad einige tausend Keller, und in diesen Kellern hockten Frauen und Kinder, aßen Hirsebrei in Schneewasser oder fauligen Kohl. Ein Glücksfall war es, daß ein Trupp der zivilen Miliz im staatlichen Magazin einen zugeschütteten Keller aufgeschaufelt hatte, in dem man sechshundert Sack Hühnerfutter fand.

Das war ein Fest, anders konnte man es nicht nennen. Man umarmte sich, man küßte sich auf beide Backen, als sei es Osterfest, man betastete die Säcke und freute sich über den Bauch, der beim Anblick des Eßbaren wieder knurren konnte.

Am frühen Morgen des 17. Januar saß Iwan Iwanowitsch Kai-jonin müde in einem Trichter und rauchte. Er hatte die Spur Veras verloren. Außerdem war niemand mehr in der Stimmung, einem sein Weibchen Suchenden unter die Arme zu greifen. Man hatte noch immer Durst von dem Hühnermehl, und Durchfall dazu. Aus jedem Keller, in dem Kaljonin nachfragte, schlug ihm der Gestank voller Hosen entgegen. Ehrlich — wer so mit sich selbst beschäftigt ist, hat keinen Sinn für einen fragenden Ehemann. Kaljonin sah das ein und kroch in seinen Trichter.

Knösel hatte mal wieder nach seinem Markierungstuch gesehen. Er tat das jede Nacht, nachdem nach der ersten Bombe mit dem Bilde Stalins noch zwei andere Kanister in den Hof geplumpst waren. Einmal mit Seife und das andere Mal mit Mehl. Die Seife wurde im Lazarettkeller gebührend bestaunt. So etwas kannte man seit Wochen nicht.

«Wenn das alles Gulaschstücke wären!«sagte Dr. Portner böse.

«Seife! Was soll das?! Soviel Seife gibt es gar nicht, daß wir uns damit reinwaschen könnten…«

An diesem frühen Morgen hockte Knösel an der Mauer des Hofes, sah über die Trümmer und wunderte sich über einen dünnen Rauchfaden, der zwischen Steinen aus der Erde ringelte.

«Da raucht doch eener«, sagte er und klopfte seine Pfeife aus.»Det muß man sich begucken.«

Er robbte durch die Ruinen, kroch bis zum Rand des Trichters und sah hinein. Vorher schnupperte er noch an dem Rauch und stellte fest, daß es weder Gras noch Matratzenfüllung war, sondern echter, kerniger Machorka. Das trug dazu bei, seine letzten Hemmungen zu zerstören. Ein Mensch, der noch Tabak rauchte, konnte einfach nicht davor entrinnen, in den Bekanntenkreis Knösels aufgenommen zu werden.

Unten im Trichter saß nichtsahnend Kaljonin und dachte an sein Weibchen. Er schrak zusammen, als eine Stimme von oben sagte:

«Junge, davon jiebste mir eene mit — «

Kaljonin riß seine Maschinenpistole empor. Dann erkannte er vor dem Abdrücken das Gesicht Knösels.

«Komm häärr — «sagte er. Knösel ließ sich in den Trichter rutschen. Ohne Hemmung nahm er Kaljonin die Zigarette aus den Fingern, machte zwei tiefe Züge und gab sie ihm dann zurück.

«Det is wie’n Frühlingsabend mit Emma«, sagte er seufzend und schnupperte dem Rauch nach.»Junge, Emma im Hemd ist nischt dagegen…«

Sie saßen nebeneinander auf der gefrorenen Trichtersohle und rauchten abwechselnd die Zigarette. Ein Zug Kaljonin, ein Zug Knösel. Die Kippe schenkte Kaljonin mit einer Handbewegung dem Deutschen. Knösel steckte sie weg, als sei sie aus Gold.

«Det is wahre Freundschaft, Iwan«, sagte er.»Aba nu was anderes. Der Stengel is alle… nun hab’n wir wieder Krieg. Wat machen wir jetzt? In Berlin würd ick sajen: Junge, det war det zweitemal, beim drittenmal lä’ßte ’ne Molle jubeln, und ’nen Kümmel druff! Aba hier?«

«Nix verstähnn…«, sagte Kaljonin und grinste.

«Du woijonnoplenny — «

«Njet!«sagte Kaljonin ebenso selbstbewußt.

«Junge, sei brav. «Knösel schob den Helm von der Stirn.»Wir verstehen uns so gut. Warum sollen wir uns vor die Rübe hauen?«

«Du mit mir?!«

«Bejinnt wieder det alte Spiel? Ick bleibe bei meinem Stabsarzt.«

«Du bei Arzt?«

«Ja. Und von euch habn wir ooch zwei da. ’ne tolle Matka. Pannarewskaja heißt se…«

Kaljonin blieb das Herz stehen.»Bei dir… Olgaschka? Und Dr. Sukow?«

«Jenau! Kennste die?«

«Und Vera?«

«Wer ist Vera?«

«Frau. Mir!«Kaljonin zeigte auf sich.»Ich suchen.«

«Hier?«

«Ja.«

«Hübsch?«

«Ja.«

«So richtig Matka, was?«Knösel zeichnete mit beiden Händen die Umrisse einer üppigen Form. Kaljonin grinste. Er nickte und blinzelte.

«Du gesehen?«

«Nee.«

Kaljonin faßte in seine Tasche und holte zwischen den Fingern Tabak heraus. Es waren armselige Krümel, vermischt mit Woll-fäden und Zeitungspapier. Knösel hielt die Hand auf und empfing das wertvolle Geschenk.

«Ich suchen«, sagte Kaljonin, wie um Entschuldigung bittend.»Do swidanja — «

Er kroch aus dem Trichter, duckte sich, sicherte zu den deutschen Bunkern hin und rannte um eine Ruinenecke in Sicherheit. Über die Mauer hinweg, hinter der Knösels Markierungskreuz ausgebreitet lag, bellte eine Maschinenpistolengarbe dem flüchtenden Kaljonin nach. Knösel stemmte sich fluchend aus dem Trichter.

«Aufhören, du Windpisser!«schrie er. Auf allen vieren kroch er der Mauer zu. Gegenüber in den Ruinen wurde es lebendig. Die sibirischen Scharfschützen bezogen ihre Schießscharten. Der deutsche Feuerstoß hatte sie aus dem Schlaf gescheucht. Mit einem Satz sprang Knösel über die Mauer und fiel neben Emil Rottmann in die Steine. Hinter ihm, die Mauerkuppe aufstaubend, zwitscherten die Geschosse der Sowjets.

«Det hätte in’n Arsch gehen können, du Pfeife!«Knösel lag schweratmend auf dem Rücken wie ein vom Baum geschüttelter Maikäfer.

«War das nicht ein Russe?«fragte Rottmann und preßte sich an die Mauer. Die Sowjets waren verrückt geworden, sie tasteten mit Gewehrgranaten das ganze Gelände ab.

«Wo?«

«Bei dir im Trichter.«

Knösel schielte zu Rottmann.»Haste ’n Koller, Kumpel?«fragte er gedehnt.»Ick kannte eenen, bei dem war’s besonders schlimm. Der sah in jeder Haustür nackte Meechen. Mit der Hose übern Rücken lief der nun, bis sie’n kassierten. «Knösel tippte an seine Stirn.»Und du siehst ’nen Russen bei mir. Emil, werd mir nich schräg…«

Beleidigt kroch Rottmann zurück in den sicheren Lazarettbereich. Knösel folgte ihm nach einigen Minuten. Er stopfte sich erst seine Pfeife mit dem Tabak und der Kippe Kaljonins. Dann lehnte er sich an die Mauer, und während um ihn herum die Gewehrgranaten explodierten, rauchte er genußvoll seine Pfeife leer.

Eine Pfeife mit richtigem Tabak. Es schnurgelte und brutzelte im Pfeifenkopf, es war eine wahre Pracht. Selbst die Sotte war köstlich; Knösel schluckte den scharfen Saft, der aus dem Mundstück tropfte, wie Baldrian.

Das war eine jener Minuten, in denen ein glücklicher Mensch seine Umwelt völlig vergißt.

Eine Stunde später brachte ein Stoßtrupp die verwundete Vera Kaijonina in den Keller Dr. Portners. Man hatte sie aufgegriffen, als sie mit zwei Gummisäcken voller Trinkwasser durch die Straßen kroch. Sie hatte sich gewehrt wie eine Katze. Erst ein Kolbenhieb über den Kopf machte sie stumm. Das war ihre Verwundung, eine Platzwunde über der Stirn.

Dr. Sukow verband sie, nachdem er sie wie eine Schwester umarmt und geküßt hatte.

«Sollen wir ein Kaffeekränzchen machen?«sagte Dr. Portner bitter.»Noch ist Krieg, Genosse!«

«Nicht mehr lang«, sagte Dr. Sukow ernst.

Dr. Portner hob beide Hände gegen den Himmel.»Ihre Weissagung in Gottes Ohr, Kollege. Schön wär’s.«

Für Knösel war es klar, wer die neue Gefangene war. Er brauchte nicht zu fragen. Bei der ersten passenden Gelegenheit, und Knösel schaffte sie, indem er dem fiebernden Oberst Sabotkin etwas zu trinken brachte, redete er Vera Kaijonina an.

«Kannst du Deutsch?«

«Ja. Von Schulä.«

«Ich soll dich grüßen von Iwan —«

«Nein!«Veras Herz setzte aus. Sie preßte die Hände gegen ihre Brust. Knösel seufzte. Er beneidete die Hände.»Du ihn kännän…?«

«Ja. Er hat gesagt, ich soll mich um dich kümmern. «Knösel suchte in seinen Taschen etwas. Endlich fand er es… die Stofffäden, die Kaljonin ihm mit dem Tabak in die Hand gedrückt hatte.»Das ist von seiner Uniform — «

Vera nahm die dünnen Fäden und sah sie an. Ihre schönen, runden Augen glänzten. Sie drückte die dreckigen Fäden an die Lippen und küßte sie.

«Wanja«, sagte sie zärtlich.»O Wanja…«

Mit einem Gesicht, als wolle er losheulen, verließ Knösel den Keller. Später saß er oben neben dem Leichentrichter IV und starrte in die Ruinenstadt.

.. Der Morgen dämmerte auf. Von der Wolga pfiff der Wind. Über die Trümmer stob der Schnee.

Ob Mariechen mich auch so liebt, dachte er. Drei Monate habe ich nichts mehr von ihr gehört. O Mariechen —

Es waren 37 Grad unter Null. In der Steppe rollten die sowjetischen Panzer die deutschen Linien auf. Der Kessel wurde eingedrückt. Gondschara mit seiner berühmten Schlucht ging verloren, im Süden stand der Russe vor Woroponowo. An dem eingegrabenen Panzer vorbei, in dem Kaljonin mit seiner Gruppe gehockt hatte, donnerten die T 34 und durchstießen die deutschen Verteidigungen, die aus Schneelöchern bestanden. Tausende aller Waffengattungen strömten in die Stadt. Auch das Armee-Oberkommando mit Generaloberst Paulus und dem gesamten Stab zog in das Ruinenfeld Stalingrad. Es geschah sogar vorschriftsmäßig… einige Quartiermacher durchkrochen die Trümmer und warfen den Stab der 71. Infanteriedivision aus seinem Gefechtsstand. Er wurde für das Armee-Oberkommando als besonders geeignet auserwählt. Die 71. Infanteriedivision verkroch sich in das Kellerlabyrinth des GPU-Hauses.

Dr. Portner bekam einen Vorgeschmack von der Nähe der Armeeführung. Ein Major erschien bei ihm im Keller, stieg über die faulenden, verkrümmten, wimmernden Körper und stellte sich neben den Arzt. Portner sah kurz auf. Er suchte mit einer Sonde nach einem Geschoß im großen Rückenmuskel.

«Sie wünschen?«

Der Major mit den rosaroten Streifen des Generalstäblers an den Hosen drückte das Kinn an.

«Wer ist der Orang-Utan oben vor dem Keller?«

Dr. Portner lächelte schwach.»Sie meinen Knösel?«

«Der Mann wird sich morgen bei der Division melden.«

«Warum?«

«Er rief mir den Götz entgegen, als ich ihn anhielt, weil er nicht grüßte. Unerhört!«

«Herr Major — «Dr. Portner tippte mit der Sonde auf das zuk-kende, aufgerissene Fleisch.»Es ist Ihnen wirklich nicht zuzumuten, dieser Aufforderung Folge zu leisten.«

Der Major stutzte, verzichtete auf eine Entgegnung und ging.

Dr. Körner, der von draußen kam, brachte die Neuigkeit mit.»Paulus verlegt in die Stadt«, rief er.»Das Vorkommando rückt schon ein…«

«War schon da, mein Bester. Nach dem ersten Eindruck, den sie hinterlassen, kennen sie noch nicht das Gefühl des Arsches mit Grundeis.«

Dr. Portner hatte das Geschoß gefunden. Es war ein Dumdumgeschoß, mit abgekniffener Spitze, das entsetzliche Wunden reißt.»Mir scheint, daß einige der rothosigen Herren aus rosigen Träumen erwachen werden… nur müssen wir für ihren Schlaf bezahlen…«

Knösel starrte hinaus in den Morgen. Es schneite, und es stürmte. Aus allen Himmelsrichtungen hallten Detonationen in die Stadt.

Ob ich das überleben werde, dachte er. Ob ich Berlin wiedersehe? Mariechen —?

Er beugte den Kopf nach vorn und legte ihn in beide Hände. Auch ein Knösel hat Nerven…

Um den 20. Januar herum wußte jeder, daß man die Tage zählen konnte bis zum Ende. Die verzweifelte Bitte Generaloberst Paulus’, ausbrechen zu dürfen, wurde vom Führerhauptquartier erneut abgelehnt, nachdem die Berechnung der von der 6. Armee angegebenen Benzinmenge ergeben hatte, daß die Panzer und Fahrzeuge nur einen Aktionsradius von 30 km haben würden, bei Ausnutzung des letzten Tropfens Sprit. Das war eine Entfernung, in der der 6. Armee niemand entgegenkommen konnte. Die Armee Hoth war noch zu weit entfernt, ihr entgegen warfen die Sowjets alles, was von der Kesselfront abzuziehen war. Auch das Drängen General von Seydlitz’ war vergeblich; die Funksprüche, die die 6. Armee hinausjagte, wurden ignoriert, weil es einfach keinen Untergang, keine Kapitulation geben durfte. Hitlers Worte:»Wo der deutsche Soldat steht, bleibt er stehen, und keine Macht der Erde wird ihn vertreiben…«, wurden konsequent durchgeführt. Man befahl den Tod von 330 000 deutschen Soldaten.

Nur noch auf dem Flugplatz Gumrak landeten die wenigen Jus. Sie brachten täglich sechs oder acht Tonnen Material und nahmen Verwundete mit… einige hundert von den Tausenden. Allein auf dem Bahnhof, in den Waggons, in Baracken, neben den Lazarettzelten, in Schneelöchern, neben Eisenbahnschienen, unter Holzschwellen, Kistenbrettern, Unterständen aus Munitionskisten, in den Trümmern von Lastwagen und Panjekarren lag ein Berg von dreißigtausend Toten. Steif gefroren, Menschenbretter, konserviert für die sowjetischen Aufräumungstrupps, die einmal kommen würden um die Eiszapfen mit den menschlichen Gesichtern auf ihre Autos zu laden und in einer Schlucht abzukippen, mit Chlorkalk zu überschütten und dann Erde über die Berge zu walzen. Dreißigtausend, die nach Gumrak gestolpert, gekrochen, getragen worden waren, um auf ein Flugzeug zu hoffen, auf einen Winkel in einer Ju, der Leben bedeutete.

Ober der Stadt wurden jetzt Verpflegungsbomben abgeworfen. Es war die einzige Möglichkeit, die kämpfende Truppe noch zu versorgen. Zwar waren es nur wenige Bomben, die aus dem Schneehimmel torkelten, denn die sowjetischen Jäger und Flak legten einen Riegel um die Stadt, aber manchmal gelang es doch einer Maschine, die Trümmer anzufliegen und ihre Lasten abzuwerfen.

Die große Zeit Knösels begann. Sein Markierungstuch bewirkte Wunder. Es zog die Flugzeuge wie magnetisch an. Das hatte einen ganz einfachen Grund: Markierungstücher solcher Größe hatten nur Divisionsstäbe. Von den Gefechtsständen wurde dann die Verteilung vorgenommen. Trägerkolonnen brachten die Lasten von dort zu den Regimentern und Bataillonen.

Am 21. Januar 1943 lag eine Kiste im Schnee neben dem Markierungskreuz. Knösel hatte es sich abgewöhnt, einen Luftsprung vor Freude zu machen oder Emil Rottmann vor Begeisterung in den Hintern zu treten. Er schleppte die Kiste ab und begann, sie im Vorratskeller aufzustemmen. Dr. Körner und Dr. Portner standen dabei. Es war ein beliebtes Ratespiel geworden: Munition oder Verpflegung, Säcke mit Mehl oder Hartkeks, Büchsen oder Beutel?

«Ich tippe auf Munition«, sagte Dr. Portner.»Die Kiste ist zu gut gesichert.«

Knösel stemmte den Deckel ab. In der Kiste stak eine andere Kiste aus Leichtmetall. Der Deckel war verschraubt.

«Tropenpackung!«sagte Dr. Körner.»Es muß sich um verderbliche Ware handeln.«

«Det is Butter!«Knösel pochte mit dem Knöchel gegen den Metalldeckel. Die Spannung stieg. Knösel klopfte noch einmal an die Kiste. Es klang ziemlich hohl.

«Nun machen Sie schon!«sagte Dr. Portner ungeduldig.

Der Aluminiumdeckel klappte hoch. Ein Karton wurde sichtbar. Ein großes blaues Kreuz war ihm aufgedruckt. Dr. Körner klatschte in die Hände wie ein beschenktes Kind.

«Sanitätsmaterial! Wenn das Ampullen mit Morphium sind… ich gehe vor Freude die Wand hoch!«

Dr. Portner wölbte die Unterlippe vor.»Im allgemeinen ist das Sanitätskreuz rot, nicht blau.«

«Die hatten jerade blaue Farbe, Herr Stabsarzt«, sagte Knösel.

«Quatsch. Da liegt ja der Transportschein.«

Dr. Portner nahm einen Packzettel aus der Kiste und faltete ihn auf. Er überflog ihn, stutzte, las noch einmal und sah Dr. Körner ratlos an.

«Hören Sie sich das an«, sagte er mit belegter Stimme.»Inhalt zweimal geprüfte Präservativs, gepackt in Dreierschachteln zu 90er Paketen. Gesamt 9000 Stück. Bitte — «Er reichte Dr. Körner den Packzettel hin.»Nun wissen Sie es!«

«Wat ist des?«fragte Knösel und starrte auf die Kiste.

«Suppenwürze, Sie Idiot!«Dr. Portner winkte.»Kommen Sie, Körner… denen werde ich etwas sagen!«

Er setzte sich selbst an das Feldtelefon und rief die Division an. Am anderen Ende war ein Hauptmann.

«Geben Sie bitte an das Armee-Oberkommando durch mit der Bitte, es per Funkspruch ans Führerhauptquartier zu melden: 21. Januar 1943, Feldlazarett III, Stalingrad-Stadt, Kinokeller: Haben Abwurf der Nachschubbombe empfangen. Bestätigen dankend den Empfang von 9000 Präservativs zur Verwendung für zur Zeit 3267 Verwundete und Sterbende. Bitten um Nachricht, wann die nötigen Frauen dazu abgeworfen werden. Dr. Portner, Stabsarzt — Haben Sie?«

Am anderen Ende, bei der Division, war es einen Augenblick still. Dann sagte eine völlig konsternierte Stimme:

«Wer spricht da?«

«Dr. Portner.«

«Verzeihung, aber sind Sie verrückt?«

«Ich nicht. Aber anscheinend die Transportstaffel unserer Luftwaffe.«

«Ich gebe Ihnen den Herrn General.«

General Gebhardt sprach sofort, er hatte anscheinend mit einem zweiten Hörer am Gespräch teilgenommen.

«Portner — «, sagte er jovial.»Ich kenne Ihren Sarkasmus, aber — «

«Bitte Herrn General versichern zu dürfen, daß wir seit einer Stunde wirklich im Besitz einer solchen Kiste sind. Sogar tropenverpackt!«Die Stimme Dr. Portners flimmerte vor Erregung.»Ich habe immer geglaubt, daß es für uns wichtig ist, Brot, Büchsen,

Hülsenfrüchte, Verbandmaterial, Anästhesiemittel und Munition zu empfangen, denn schließlich befinden wir uns laut Wehrmachtsbericht im heldenmütigen Abwehrkampf.. aber was soll ich mit 9000 Kondoms? Selbst Suppe kann ich daraus nicht kochen.«

General Gebhardt schwieg. Dann sagte er leise:»Portner… vergessen Sie es.«

«Es ist eine Sauerei! Seit fünf Tagen haben wir kaum etwas zu essen… die Leute sterben mir unter den Händen wie Eintagsfliegen — «

«Ich weiß… überall ist es so. «General Gebhardt räusperte sich, seine Stimme wurde wieder klar.»Ich werde Ihre Meldung an die Armee durchgeben! Man scheint sich dort immer noch zu wundern, warum wir vor die Hunde gehen — «

Dr. Portner legte auf. Er blickte zur Seite auf Dr. Körner. Er sah bleich und eingefallen aus, ein Totenschädel mit Haut darüber.

«Tja, so ist das, mein Junge«, sagte Dr. Portner leise.»Es ist ein schreckliches Gefühl, ohne jede Hoffnung zu sein —«

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