Am 1. Dezember schleppte sich ein junger Soldat durch die tobende Nacht. Er drückte sich gegen den Schneesturm, keuchend, mit weit aufgerissenem Mund, irren Augen und stampfenden, aber immer wieder einknickenden Beinen. Ab und zu fiel er in den Schnee und blieb so liegen, wie er hingefallen war… auf dem Rücken, mit dem Gesicht nach unten, auf der Seite. So lag er dann ein paar Minuten, schneite zu, wurde ein kleiner Hügel in der flachen Steppe, bis er sich wieder auf die Knie stemmte, sich an zwei dicken Knüppeln hochzog und weitertaumelte.
Er lief nur des Nachts… am Tage verkroch er sich in ausgebrannten Scheunen, wühlte sich unter schwarzes Gebälk oder versteckte sich in Panzerruinen oder Überbleibseln von Lastwagen, die am Wegrand standen, verstreut über die Steppe, und die niemand kontrollierte. Dann schlief er einen betäubungsähnlichen Schlaf und sammelte Kraft für die wenigen Kilometer, die er in der Nacht, seitlich der befahrenen Straßen und Wege, wanderte. Seit drei Tagen war er unterwegs, und sein Ziel war Gumrak, der Flugplatz, das große Armeelazarett.
Sanitätsfeldwebel Wallritz hatte sich in einer Ecke des OP-Zeltes eingerichtet. Er schlief auf einer Trage, auf die er Stroh geschüttet hatte. Viel Zeit zum Schlafen gab es ohnehin nicht, denn Portner und Körner operierten in zwei Schichten. Neun Sanitäter waren ihnen neu zugeteilt worden, und Wallritz hatte die Aufgabe, nicht nur den reibungslosen Ablauf in den Lazarettzelten zu überwachen, sondern auch die neun Sanis so einzusetzen, daß zwei immer bei den Operationen zugegen waren, vier mit den Tragen unterwegs waren und drei sich um die Neuzugänge kümmerten und sie für die beiden Ärzte vorbereiteten. Um die Verwundeten, die aus dem Kessel geflogen wurden, kümmerte sich Dr. Portner selbst. Es war zweimal vorgekommen, daß er mit der Pistole in der Hand dafür gesorgt hatte, daß seine Verwundeten eine Transportmaschine bekamen.
In dieser Nacht war es ruhig. Der heulende Schneesturm ließ keine Transporte mehr durch. Irgendwo auf dem Wege von Stalingrad nach Gumrak waren die Sanitätsfahrzeuge festgefahren, suchten Schutz in Schluchten und im Tatarenwall oder wurden einfach eingeschneit.
Feldwebel Wallritz hatte sich gerade auf seine strohgefüllte
Trage gelegt und war dabei, einzuschlafen, als ein Windzug vom Eingang her die Notbeleuchtung aufflackern ließ. Wallritz richtete sich auf und sah gegen den Eingang eine dunkle Gestalt im Zelt stehen.
«Was ist, Knösel?«fragte er und gähnte.»Mensch, geh ins Stroh… oder haste wieder ’nen Elefanten gesehen?«
«Horst«, sagte eine leise Stimme.»Horst… bist du es…?«
Feldwebel Wallritz war einen Augenblick wie gelähmt. Dann schnellte er von seiner Trage hoch und drehte den Handscheinwerfer an. Voll traf der Lichtstrahl ein schmales, verzerrtes, eingefallenes, schneeverklebtes Gesicht. Ein Arm fuhr hoch und legte sich über die geblendeten Augen.
«Sigbart«, sagte Wallritz mit zugeschnürter Kehle.»Wo kommst du denn her…«
«Ich habe dich gesucht. «Der junge Soldat sank gegen den Küchentisch, auf dem Dr. Portner sonst operierte… dann knickten die Knie ein, und er fiel Wallritz in die Arme. Der Feldwebel schleppte den Jungen zu seiner Trage und legte ihn auf das Stroh und die Decken. Dann holte er eine Thermosflasche mit heißem Tee, eine Schüssel mit Schneewasser, riß die Uniform des Jungen vor der Brust auf und wusch ihm mit dem kalten Wasser das vereiste Gesicht, die Brust, die Schultern… er rieb, bis die fahlweiße Haut rot wurde und die Hand des Jungen sich hob und den Arm von Wallritz festhielt.
«Laß, Horst… es ist schon gut. Ich habe dich gefunden. mein Gott, hatte ich eine Angst, dich nicht zu finden.«
Er schlug die Augen auf und sah Wallritz fast glücklich an. Dann verdunkelten sich die Augen, und plötzlich weinte er, lautlos, mit zuckendem Gesicht. Er umklammerte die Hand des Feldwebels und kroch an ihn heran, als sei er ein Tier und suche Schutz.
«Woher weißt du, daß ich hier bin?«fragte Wallritz tonlos, nachdem er den ersten Schock überwunden hatte.»Junge, wo kommst du überhaupt her?«
«Aus der Stadt…«Der junge Soldat hielt die Hände des Feldwebels fest, als könne er ohne deren Schutz ertrinken.»Ich war in der Funkbude… weißt du… ich bin doch Funker geworden… und da haben wir die einzelnen Funksprüche abgehört… und einer war darunter, der meldete, daß sich der HVP III mit Stabsarzt Dr. Portner absetzte… und ich wußte doch, daß du bei einem
Dr. Portner warst… im letzten Brief an Mutter hast du es geschrieben… und in der Nacht habe ich das Regiment angepeilt und gefragt, ob das stimmt… ob ein Feldwebel Wallritz auch nach Gumrak ist… Kumpel, das ist mein Bruder, habe ich dem anderen Funker gesagt, ich heiße auch Wallritz… ich habe meinen Bruder seit Mai nicht mehr gesehen… Ja, und dann war es so… ich wußte, daß du in Gumrak bist…«
Feldwebel Wallritz löste sich aus dem Griff seines Bruders und trank einen Schluck Tee. Seine Kehle war trocken und rauh, das Schlucken war, als müsse er den Speichel über ein Reibeisen pressen.
«Ja… und? Warum bist du jetzt hier? Bist du verwundet, Sigbart?«
«Nein. «Der Junge sah seinen älteren Bruder flehend an. Wie ein Kind, das etwas angestellt hat und nun um Verzeihung und um Verständnis bittet.»Ich bin desertiert…«
«Was bist du?«Wallritz spürte, wie es bis unter seiner Kopfhaut eiskalt wurde. Desertiert, dachte er. Das bedeutet Erschießen. Wegen Feigheit vor dem Feind. Auch im Kessel von Stalingrad arbeiten noch die Feldgerichte. Jeden Tag wird jemand hingerichtet… wegen Feigheit, wegen Plünderung, wegen Kameradendiebstahl, wegen Befehlsverweigerung… sie werden standrechtlich erschossen… zur Abschreckung für die Truppe… vor allem die Deserteure, die man eingefangen hat…
«Das ist doch nicht wahr, Sigbart«, sagte Wallritz leise.
«Doch, Horst. Ich bin einfach weg. Drei Tage bin ich schon unterwegs. Bis ich hierherkam. Hier hat mich keiner gefragt… und ich habe fünf Stunden gebraucht, bis ich dich fand…«
«Ja, bist du denn verrückt?«stotterte Wallritz entsetzt.»Du weißt doch, was passiert, wenn sie dich erwischen…«
«Sie werden mich nicht bekommen, Horst. Du wirst mir helfen. Du allein kannst mir helfen…«Es war wie ein Schrei. Wallritz legte die Hand auf den aufgerissenen Mund seines Bruders. Er drehte den Handscheinwerfer aus. Im Schein der blakenden Notleuchte sah er in die flimmernden Augen Sigbarts.
«Wie stellst du dir das vor? Helfen! Ich kann dich doch nicht bis Kriegsende verstecken! Mein Gott… was machen wir bloß… wie konntest du nur solch ein Idiot sein und desertieren?«
Sigbart Wallritz stützte sich auf die Ellenbogen. Er weinte wieder und lehnte den Kopf an die Brust seines älteren Bruders.
«Greif mal in die Tasche, Horst«, schluchzte er.»Innen, in die Rocktasche, oben links… Mutter hat geschrieben…«Er drückte das Gesicht in die Uniform Wallritz’ und brüllte in den Stoff.»Sie haben Vater abgeholt… in ein KZ… Er hat Luxemburg gehört und gesagt, daß wir den Krieg verlieren…«
Feldwebel Wallritz zog mit zitternden Fingern den zerknitterten, schmutzigen Brief seiner Mutter aus der Tasche Sigbarts. Man sah dem Brief an, daß er oft gelesen worden war und daß sich verzweifelte Finger in das Papier gekrallt hatten…
«… gestern haben sie Vater abgeholt. Zwei Männer von der SS. Er ist wortlos mitgegangen, was sollte er auch noch sagen? Er hat gestanden, was er getan und gesagt hatte. Dann war ich ein paar Stunden später bei der Gestapo und habe gefragt, was nun aus Vater würde. >Er kommt in ein Lager*, haben sie mir gesagt. >Dort wird er geschult und bekommt einen Begriff vom Nationalsozialismus. So ein alter SPD-Mann wie Ihr Mann kann sich eben noch nicht an die neue Zeit gewöhnen. Wir hätten ihn viel früher umschulen sollen. Aber dafür geht es_ jetzt um so schneller…< Das haben sie mir gesagt, und ich habe Vater nicht wiedergesehen. Aber ich glaube, daß alles nicht so schlimm ist. Wir haben ja unsere Jungen, hat Vater mir zum Abschied gesagt, als ihn die beiden SS-Männer abführten…«
Sanitätsfeldwebel Wallritz ließ den Brief sinken. Sigbart sah ihn aus flatternden Augen an.
«Du kannst dir denken, was sie inzwischen mit Vater gemacht haben«, sagte er kaum hörbar.
Wallritz schwieg. Sein Kinn sank auf die Brust.
«Und warum bist du weg?«fragte er nach langem Schweigen.
«Ich muß nach Hause… ich muß zu Mutter…«
«Du bist verrückt, Sigbart. Von Stalingrad bis Berlin. Außerdem sind wir eingekesselt…«
«Du wirst mir helfen, Horst. «Sigbart Wallritz richtete sich hoch auf. Seine Stimme war nicht mehr weinerlich. Sie klang hart und anklagend.»Es ist deine Pflicht, mir zu helfen. Nicht als Bruder allein… es ist auch deine moralische Pflicht. Ich war nie ein Soldat oder ein Heilschreier… aber du warst es… Du warst erst Jungvolkführer, dann HJ-Führer, jeden Sonntag bist du losmarschiert, und Vater hat immer den Kopf geschüttelt und zu
Mutter gesagt: Wann wird er aufwachen… hoffentlich wird es dann nicht zu spät sein… Du hast mich gezwungen, in die H] einzutreten, weil du gesagt hast, es ist eine Blamage für dich, einen solch weichlichen Bruder zu haben… und ich bin mitmarschiert… Du hast mich überredet, mich freiwillig zum Militär zu melden, weißt du noch… bei deinem vorletzten Urlaub… du warst gerade Feldwebel geworden… und hast das EK getragen und hast dich bewundern lassen… Vater hat sich dagegen gewehrt, er hat dich sogar geschlagen, weiß du das noch… aber du hast immer gesagt: Wo ist denn mein Hosenmätzchen von Bruder? Wo ist denn der kleine Scheißer? Soll Mama dir die Brust geben? Da habe ich mich freiwillig gemeldet, und dann bin ich hierhergekommen, nach Stalingrad, in die Stadt, in der Helden geoacken werden, wie mein Kompaniechef sagte. Das alles hast du auf dem Gewissen… das Leid von Mutter, den Tod von Vater, die Zerstörung meines Lebens…«Sigbart riß den Bruder an der Schulter zu sich herum und starrte ihm in das bleiche, zuckende Gesicht.»Und du willst keine moralische Verpflichtung haben, mich hier herauszuholen…?«
«Aber wie denn, Junge? Wie denn?«stöhnte Wallritz.
«Mit einem der Flugzeuge…«
«Es werden nur Verwundete und Kranke herausgeflogen…«
Sigbart Wallritz ließ sich zurück in das Stroh fallen. Er hielt noch immer die Hände seines Bruders umklammert.
«Dann mach mich krank«, sagte er entschlossen.»Du hast die Möglichkeit dazu…«
Sanitätsfeldwebel Wallritz sah seinen Bruder entsetzt an. Der Brief lag zwischen ihnen auf dem Boden, wie ein dummer, kleiner Grenzstein, der zwei Welten trennt.
«Du bist verrückt«, sagte Wallritz heiser.»Du bist total verrückt…«
«Verrückt, weil ich leben will? Für Mutter leben? Nicht für das Vaterland, die Nation, die neue Generation… das sind doch alles dumme, blöde Schlagworte, die ihr uns eingeimpft habt und nach deren Melodie wir losmarschiert sind… bis nach Stalingrad. >Uns’re Fahne flattert uns voran…< Wo ist sie? Wo sind die Ideale, die ihr uns vorgegaukelt habt? Hier sterben Hunderttausende, in der Heimat liegen sie unter den Bomben oder kommen in die KZs, wenn sie sagen, was sie denken — wie Vater —, und du sitzt hier in einem Zelt, hast eine Binde mit einem Roten Kreuz um den Arm und fühlst dich als Retter der Hilflosen… Wer macht sie denn hilflos? Wer läßt ihnen denn die Glieder wegschießen? Wer füllt die Granattrichter mit Leichen und schreibt dann Briefe: Gefallen für Führer und Vaterland? Wer hat uns denn Hölderlin vorgelesen: >Schön ist’s, zu sterben fürs Vaterland..?< Wer denn? Ihr, die geborenen Uniformträger. Die Heilschreier. Die neuen Menschen. Und du hast mich in diesen Strudel hineingerissen… aber ich will wieder heraus… heraus… heraus…«
Seine Stimme war fast ein Schreien geworden. Wallritz drückte die flache Hand auf den Mund seines Bruders und schob ihn auf das Strohlager zurück.
«Halt den Mund, Sigbart… oder willst du an irgendeinem Telegrafenmast von Gumrak hängen? Du bist desertiert…«
«Ich habe mir nur die Freiheit zurückgeholt, die ihr mir genommen habt… weiter nichts.«
«Du hast einen Eid geleistet…«
«Ich fühle mich nicht daran gebunden, wenn ich diese Verbrechen um mich herum sehe.«
«Welche Verbrechen? Daß wir vielleicht eine Schlacht verlieren? Daß wir Stalingrad aufgeben müssen? Ist das ein Grund, kopflos wegzurennen und alles zu verdammen? Sind noch nie Schlachten verloren worden? Wenn Friedrich der Große bei Kunersdorf — «
«Hör auf! Hör auf!«Sigbart Wallritz warf die Arme hoch.»Thema: Der Alte Fritz. Heimabend der Gefolgschaft 3 am Freitagabend. Es ist zum Kotzen mit euch. «Er drehte sich auf die Seite und starrte seinen Bruder an.»Wenn du hier verrecken willst, für Führer und Vaterland, so ist das deine Sache, Horst. Ich aber will es nicht. Ich will weiterleben, weil Mutter sonst keinen mehr hat… Vater werden sie verschwinden lassen, du gehst in den schönen Heldentod, der dir ja Erfüllung deiner völkischen Aufgabe sein muß… aber Mutter? Was wird aus Mutter? An sie denkt keiner… keiner denkt bei den Kriegen an die Mütter sie sind für Staatsmänner und Militärs das Unwichtigste auf der Welt. Sie durften nur die Söhne gebären… sie durften sie aufpäppeln, ihnen das Gehen beibringen, das Essen, das Sprechen, das Beten… und wenn sie dann lange Hosen tragen, nimmt man sie ihnen weg, steckt sie in eine rauhe Uniform und sagt: So, jetzt seid ihr Deutsche. Ihr habt eine Tradition… im Marschieren und im Krepieren. Haltet sie hoch, diese Tradition… marschiert um die halbe Welt und krepiert in Ost und West, Nord und Süd. Wofür, das dürft ihr nicht fragen… ihr seid doch gute Deutsche, die gelernt haben, zu gehorchen und dem Leithammel nachzutrotten, auch wenn es in den Abgrund geht. Und vor jeder Silber- oder Goldlitze steht ihr stramm, vor jedem roten Streifen an den Hosen scheißt ihr euch vor Ehrfurcht in die grauen Hosen, und wenn ein Mann in die Menge brüllt: >Wir Deutschen fürchten Gott und sonst nichts in der Welt< oder Deutschland erwache<, dann werdet ihr pervers und seid zum Selbstmord bereit. «Sigbart Wallritz schlug sich mit beiden Fäusten gegen die Stirn.»Daß du das nicht siehst, Horst… daß du so verbohrt bist…«
Feldwebel Wallritz schwieg. Er sah auf den Brief, der auf dem Boden lag, zwischen sich und seinem Bruder. Er sah die Schrift seiner Mutter, fühlte ihre vorsichtigen Worte und hinter ihnen die Qual, die niemand mehr auszusprechen wagte. Von dem Brief ging sein Blick zu Sigbart. Er lag auf dem Rücken, die Fäuste gegen die Brust gepreßt, und sein schmaler Mund zitterte vor wilder Erregung. Er sah verhungert und zerschunden aus, dreckverschmiert und abgerissen. Wenn Mutter ihn so sehen könnte, würde sie nicht zögern, ihn wie einen kleinen, gefallenen Jungen in die Arme zu nehmen und zu waschen und zu trösten. Er war ja immer noch >der Kleine<, der schmächtige, etwas verträumte, in sich blickende Sigbart, der nie Gefallen gefunden hatte an Zeltlagern und Aufmärschen, Fanfarenkorps und Parteitagen, Heimabenden und Morgenfeiern. Während Horst Wallritz marschierte und von den zitternden morschen Knochen sang, saß Sigbart am Fenster und las Gustav Freytags >Soll und Haben<.
Und jetzt lag er auf einer mit Stroh aufgefüllten Trage, in einem Zelt des Flugplatzes von Gumrak, von russischen Divisionen eingeschlossen, zum Sterben verurteilt… entweder durch ein Geschoß der Sowjets oder durch eine Kugel des deutschen Exekutionskommandos. Erschossen wegen Feigheit vor dem Feind, wie es amtlich hieß.
Feldwebel Wallritz schluckte krampfhaft. Die Ausweglosigkeit ergriff ihn wie mit Zangen und zerriß ihn fast. Er beugte sich über seinen Bruder und sah ihm in die unruhigen, flatternden Augen.
«Wie hast du dir das alles gedacht, Sigbart?«fragte er leise. Er versuchte, seiner Stimme Festigkeit zu geben, aber sie schwankte doch hörbar.
«Ich will ’raus, Horst. Nur ’raus aus dem Kessel. Ich weiß ja, du selbst kannst nicht… einmal, weil du für dein Heilschreien geradestehen mußt, wenn du Charakter hast… und zum anderen, weil du Sanitäter bist. Du mußt bei deinen Verwundeten bleiben. Aber ich? Welche Verpflichtung habe ich außer der, weiterzuleben für Mutter?«Er ergriff wieder die Hände Horsts und klammerte sich an ihnen fest.»Du mußt mir einen Platz in einem Flugzeug besorgen, Horst.«
«Die Ausflugzettel hat Dr. Portner. Er allein stellt sie aus.«
«Dann geh und organisiere einen.«
«Das ist Diebstahl.«
«Du stiehlst damit mein Leben zurück, Horst. Vielleicht auch das Leben von Mutter…«
Feldwebel Wallritz senkte den Kopf tief auf die Brust. Er wußte auch, daß sie gebündelt unterschrieben waren, Blankoschecks für das Leben. Man mußte nur die Verwundungsart ausfüllen und das Datum, den Namen und das Geburtsdatum.
Die Zettel lagen in einem kleinen eisernen Kasten, im Verbandszelt in der hinteren Ecke, die Portner sarkastisch >Lazarett-büro< nannte. Und es war der Sanitätsfeldwebel Wallritz, der jeden Tag die Zettel ausfüllte und sie den Verwundeten um den Hals hängte, um diese glücklichen, strahlenden Gesichter, in denen man las: Wir werden leben. Leben. Wenn auch nur mit einem Bein, einem Arm, einer zerfetzten Brust, einem durchlöcherten Magen, einer zerrissenen Lunge, einer abgerissenen Schädeldecke… Wir werden leben.
Wallritz stand auf und befreite sich aus dem Griff seines Bruders. Sigbart stützte sich auf die Ellenbogen.
«Wo willst du hin?«fragte er, plötzlich ängstlich.
«Bleib liegen und verhalt dich still. Und wenn jemand kommen sollte, mach die Augen zu und stöhne etwas… dann glaubt jeder, du seist eine Neueinlieferung. «Er wischte sich über das Gesicht und spürte dabei, daß er trotz der Kälte, die auf der Zeltleinwand lag und gegen den blubbernden Eisenofen kämpfte, schweißnaß war.»Ich komme gleich wieder.«
Er zog seinen Mantel an, schlug den Kragen hoch, band die Feldmütze mit einem Schal fest um den Kopf und verließ das Zelt.
Durch die Nacht tobte wieder der Schneesturm von den Steppen Kasachstans. Der Wind heulte um die Holzhäuser und Zelte, Eisenbahnwaggons und Baracken und trieb die ungeheuren Schneemassen an den Wänden hoch zu Wällen. Der Flugbetrieb ruhte völlig, die Rollbahnen waren glattgefegte Eisflächen, über die der Schnee in weißen Schwaden wirbelte.
Wallritz blieb einen Augenblick stehen, um sich an die Kälte zu gewöhnen. Der Schweiß auf seinem Gesicht gefror sofort zu kleinen, stechenden Kristallen, die er mit ein paar Handbewegungen abzustreifen versuchte. Dann senkte er den Kopf, stemmte sich gegen den Schneesturm und rannte und stolperte zu dem großen Verbandszelt, das im Schutze von zwei alten Kesselwagen aufgebaut war und dadurch nicht unmittelbar im Wind stand.
Durch die Leinwand schimmerte noch ein schwaches Licht. Feldwebel Wallritz blieb stehen und überlegte. Es war unmöglich, einen Zettel wegzunehmen, wenn Dr. Portner noch arbeitete. Umkehren aber wollte er auch nicht, es wäre auch sinnlos gewesen. Sigbart Wallritz mußte in der Masse der zum Ausflug bereitgestellten Verwundeten verschwunden sein, ehe am Morgen die normale Lazarettarbeit begann. So lief Wallritz weiter, fiel über einen verschneiten Balken, rappelte sich wieder auf und klopfte im Schutz der Kesselwagen seine Uniform vom Schnee frei, ehe er das große Verbandszelt betrat. Dr. Portner war nicht anwesend, aber Assistenzarzt Dr. Körner verband auf einem Küchentisch, der als zweiter OP-Tisch diente, einen Kopfverletzten. Vier Tragen standen neben dem Tisch. Auf ihnen lagen Verwundete, die auf ihre Versorgung warteten. Zwei fremde Sanitäter saßen neben dem Ofen und tranken aus einem Blechbecher heißen Tee. Knösel half beim Verbinden, ebenso ein Sanitätsobergefreiter, der Nachtdienst hatte. Mit einem Sanka waren diese vier Schwerverletzten eingeliefert worden; sie hatten Glück gehabt und waren im Schneesturm nicht steckengeblieben wie die anderen Wagen, die irgendwo herumlagen zwischen Stalingrad und Gumrak, am Tatarenwall oder in der Gontschara-Schlucht. Stabsarzt Dr. Portner saß bei einer Besprechung in der zentralen Verwaltungsstelle Gumrak und kämpfte für seine Verwundeten um Plätze in den Flugzeugen.
«Gut, daß Sie kommen, Wallritz«, sagte Dr. Körner, als er nach dem kalten Windzug blickte, der mit Wallritz in das Zelt strömte.»Dort liegt ein Bauchschuß… Sie müssen narkotisieren…«Er nahm aus der Hand Knösels die Leukoplastrolle und verklebte den Kopfverband.»Ich hätte Knösel sowieso zu Ihnen geschickt…«
Wallritz antwortete nicht. Er zog seinen Mantel aus, wusch die
Hände in heißem Schneewasser und tauchte sie dann in eine flache Wanne mit einer Lysoformlösung. Das war zwar eine mehr symbolische Desinfektion, aber es war nichts anderes vorhanden.
Eine Stunde arbeiteten sie still, fast wortlos. Sie versorgten die Schwerverwundeten, soweit es ihnen möglich war, wechselten die Notverbände, gaben Tetanusinjektionen, spritzten schmerzstillende Mittel und reinigten die Wunden. An eine gründliche Operation war nicht zu denken, dazu fehlten die Mittel und die Instrumente. Man konnte nur wegschneiden, amputieren, reinigen, Projektile herausnehmen… was darüber hinausging, mußte die Natur selbst heilen.
Feldwebel Wallritz stand neben dem eisernen Kasten mit den >Lebensbilletts<. Er sah zu Dr. Körner hinüber, der die letzte schmerzstillende Injektion gab. Eine große Ruhe war über ihn gekommen. Er sah auf die Zettelstapel unter seinen Fingern. Es war einfach, einen wegzunehmen und die vorgestrichelten Rubriken mit dem Namen auszufüllen.
Sigbart Wallritz… Funker…
«Alle ausfliegen?«fragte Wallritz. Dr. Körner sah über die Tragen.
«Ja. Mehr als zurückschicken kann man nicht. Schreiben Sie die Zettel aus.«
Er wandte sich ab, ging zum Waschbecken und schrubbte seine blutverschmierten Hände. Irgendwo mußte in den Gummihandschuhen ein Loch sein, Knösel sollte sie morgen früh untersuchen und kleben… es würde bald eine Zeit geben, wo Gummihandschuhe so knapp waren wie Brot und sauberes Wasser.
Feldwebel Wallritz sah auf die Soldbücher, die auf dem >Büro-tisch< lagen, die Soldbücher der noch in Narkose schnarchenden Verwundeten. Er nahm nach einem kurzen Blick zu Dr. Körner fünf >Lebensbilletts< aus dem Kasten statt vier und legte sie übereinander. Dann füllte er sie aus… Kopfschuß, Zertrümmerung linkes Schläfenbein… Bauchschuß, Durchschuß des Magenausganges (ein roter Strich in der Ecke, dringender Operationsfall)… Zertrümmerung des Schulterblattes durch Explosivgeschoß…
Und dann füllte er den fünften Zettel aus. Sigbart Wallritz… geb. 25. 5. 1923… Schußzertrümmerungsfraktur linker Oberarm und Schultergelenk, Radialis- und Mediaiislähmung. In die rechte obere Ecke setzte er in Rot ein großes G. Das bedeutete >gehfähig«. Für diese Verwundeten, die nicht liegend transportiert zu werden brauchten, gab es immer wieder eine Ecke, in die sie sich quetschen konnten, um mit den Flugzeugen in Sicherheit zu fliegen.
Die beiden fremden Sanis begannen, die Tragen einzeln wegzutragen in die Wartezelte am Bahngleis. Knösel dirigierte sie. Seit er seine Truppe in den Trümmern von Stalingrad nicht wiedergefunden hatte, war er auf Wunsch Dr. Portners fest dem Lazarett zugeteilt worden. Er galt als >vereinnahmter Verspreng-ter<.
Wallritz wartete, bis Dr. Körner gegangen war. Dann steckte er den fünften Zettel in die Manteltasche, band den Schal wieder um die Feldmütze und die Ohren, nickte dem wachhabenden Sani, der mißmutig am Ofen saß und hartes Brot knabberte, zu und lief durch den Schneesturm zurück zu seinem Zelt.
Sigbart lag mit dem Kopf zur Zeltwand und begann leise zu wimmern, als er Schritte hörte. Feldwebel Wallritz riß den Schal vom Kopf und klopfte ihn aus.
«Ich bin’s«, sagte er.
«Gott sei Dank. «Sigbart warf sich herum und setzte sich.»Ich hatte schon Angst, daß irgend etwas passiert sei. Wo warst du so lange?«
«Ich mußte operieren helfen.«
«Hast du den Zettel?«
«Ja.«
Es war, als ginge ein deutliches Aufatmen durch die fade Dunkelheit. Sigbart hielt ein neues Hindenburglicht an den fast abgebrannten Docht des brennenden und entzündete es. Die winzige Flamme geisterte über sein schmales, abgezehrtes Gesicht.
«War es schwer?«fragte er nach einer Weile.
«Nein. Ich habe statt vier Zettel eben fünf ausgestellt. Du hast eine Zertrümmerung des linken Oberarmes…«
Sigbart Wallritz versuchte ein schwaches Lächeln. Dabei war es, als leuchte plötzlich sein Gesicht von innen heraus.
«Mutter wird es dir danken«, sagte er leise.
«Noch bist du nicht draußen. «Wallritz zog den Mantel aus und warf ein paar Holzscheite in den blubbernden Eisenofen. Es waren zerhackte Eisenbahnschwellen, die langsam und stinkend brannten, weil sie zum Schutz gegen die Fäulnis geteert waren.»Wenn du aus dem Kessel ’rausoist, beginnt die Schwierigkeit erst. Und dann kann ich dir nicht mehr helfen. Du mußt sofort versuchen, zu verschwinden… schon auf dem Landungsflugplatz… denn wenn man dich wegschafft und aus dem Verband wik-kelt, geht alles in die Luft… vor allem Dr. Portner, der den Schein unterschrieben hat.«
«Ich werde durchkommen«, sagte Sigbart verbissen.
«Und dann willst du dich bis Kriegsende verborgen halten?«
«Ja.«
«Und wenn wir den Krieg gewinnen?«
«Glaubst du denn noch daran?«
«Ja…«
«Bist du denn blind?«
«Ich vertraue auf unsere Kameraden. Sie werden uns hier heraushauen. Auch der Führer läßt nicht eine ganze Armee einfach verrecken.«
«Ich bin Funker, Horst. Ich habe Hunderte von Funkmeldungen abgehört… von zig Regimentern und Divisionen… Wir sind hier am Ende…«
Wallritz holte die große Verbandskiste heran. Er bog eine Gitterschiene zurecht und verband sie mit einer Stützschiene. So entstand das im Landserjargon >Stuka< genannte Gestell, auf dem der zertrümmerte Arm ruhen konnte. Wallritz mußte diesen >Stuka< selbst herstellen, die fertigen Stützen waren längst verbraucht. Es war abzusehen, wann man aus Holzscheiten diese Schienen schnitzen mußte, weil nicht genug Material eingeflogen wurde.
«War jemand hier?«fragte Wallritz, als er Sigbart die Schiene anpaßte.
«Ja.«
Wallritz ließ die Schiene sinken.»Wer denn?«Er wurde unsicher.»Hast du rechtzeitig…«
Sigbart nickte und lächelte wieder.»Ich muß gestöhnt haben, als kratze ich jeden Moment ab. Er kam herein, sah mich an und sagte: >Ist denn keiner hier? Verfluchte Scheiße.< Dann ging er wieder hinaus.«
«War er verwundet?«
«Nein. Ein Feldwebel von den Kettenhunden, von der Feldgendarmerie.«
Wallritz half seinem Bruder, die Jacke auszuziehen. Wie bei einem Verwundeten schnitt er den Ärmel des Hemdes und Unterhemdes ab und schmierte etwas Dreck von der Uniform an den Stoff. Dann legte er den Arm auf die Schiene, bog die Stütze gegen die Brustseite und polsterte die Auflage mit Zellstoff aus.
«Setz dich etwas zur Seite«, sagte Wallritz,»dann kann ich besser verbinden.«
Das Erscheinen des Feldgendarmerie-Feldwebels vergaß er wieder.
Sorgfältig legte Wallritz den >Stuka< an. Bevor er den Arm auf der Schiene verband, legte er erst den Brustverband an, der die Stütze halten sollte. Sie saßen beide mit dem Rücken zum Eingang des Zeltes, neben sich die beiden flackernden Hindenburg-lichter. So merkten sie nicht, daß jemand ins Zelt schlüpfte und erstaunt neben dem Eingang im Halbdunkel stehenblieb. Was der späte Besucher sah, war eine merkwürdige Szene. Da verband ein Sanitäter einen völlig gesunden Arm auf einer Schiene, und auf der Decke, die über das Strohlager gebreitet lag, sah er das berühmte >Lebensbillett<.
Der Besucher schwieg, bis Feldwebel Wallritz daranging, die Schiene und den gesunden Arm abzudecken und zu umwickeln. Erst dann löste er sich aus dem Schatten und trat in den Lichtkreis der Kerzen.
«Sie sollten ein paar Blutflecke auf den Verband tun«, sagte er.
Die Brüder Wallritz fuhren herum. Horst ließ das Verbandspäckchen, das er in der Hand hielt, fallen, Sigbart beugte sich geistesgegenwärtig nach vorn und röchelte laut. Die dunkle Gestalt kam noch einen Schritt näher. Jetzt erkannte Feldwebel Wallritz das Gesicht. Es war Dr. Körner, und er starrte unverwandt auf den auf der Schiene liegenden, unverletzten Arm Sigbarts.
«Herr Assistenzarzt…«, stotterte Wallritz.
«Sagen Sie dem Mann, er soll endlich mit der idiotischen Röchelei aufhören.«
Augenblicklich schwieg Sigbart, sein Kopf zuckte hoch, und er starrte den jungen Arzt aus Augen an, in denen alles lag, von der Angst bis zur Mordlust, vom Betteln bis zur Verzweiflung.»Wissen Sie, was Sie da tun?«fragte Dr. Körner.
Wallritz bückte sich und hob das Verbandspäckchen vom Boden auf. Sinnlos rieb er es an der Uniformjacke ab, weil es ein wenig schmutzig geworden war, aber es wurde durch die Reiberei nur noch grauer.
«Mein Bruder Sigbart, Herr Assistenzarzt«, sagte er dabei, als stelle er in einer Gesellschaft jemanden vor.»Wenn ich Ihnen erklären darf…«
Dr. Körner setzte sich auf einen Schemel und sah wieder den halb verbundenen, gesunden Arm auf dem >Stuka< an. Es bedurfte keiner Erklärungen; was er sah, war völlig klar. Nur über das, was nun folgen mußte, würde man Worte machen müssen, viele Worte.
«Was darauf steht, wissen Sie, Wallritz«, sagte er.»Mein Gott, wie konnten Sie nur solch eine Idiotie begehen? Gerade Sie.«
Feldwebel Wallritz schluckte mehrmals.»Bis jetzt hat es kein anderer gesehen als Sie, Herr Assistenzarzt…«
«Soll das eine Bitte sein, mich mitschuldig zu machen?«
«Wenn Sie nichts gesehen haben…«
«Wallritz. Um uns herum liegen Tausende von Verwundeten, die auf einen Platz in einem Flugzeug warten und während dieses Wartens erfrieren und krepieren, und Sie schreiben einen Flugschein aus für einen Gesunden…«
Wallritz warf das Verbandspäckchen im hohen Bogen weg. Gleichzeitig griff er mit beiden Händen nach seinem Bruder, riß dessen rechte Hand nach hinten und schlug mit der Faust unbarmherzig unter das Kinn. Sigbart Wallritz kippte zur Seite und schlug mit der Stirn gegen die Trageholme der Bahre. Aus seiner rechten Hand rollte eine Pistole vor die Füße Dr. Körners.
«Auch das noch. «Dr. Körner bückte sich. Der Sicherungsflügel war herumgelegt, die Waffe geladen und schußbereit. Feldwebel Wallritz saß leichenblaß neben seinem besinnungslosen Bruder. So geht eine Familie dahin, dachte er, und wunderte sich, daß er überhaupt noch so denken konnte. Der Vater im KZ, die Mutter vielleicht unter den Bomben und die Söhne vor den Gewehrläufen eines Erschießungskommandos. 1942, im Dezember.
«Es ist nicht mehr zu ändern, Herr Assistenzarzt«, sagte Wallritz mit fester Stimme.»Rufen Sie die Feldgendarmerie.«
Dr. Körner steckte die Pistole ein. Daß er das Zelt betreten hatte, war ein Zufall gewesen. Der Schneesturm hatte an Heftigkeit nachgelassen, der Wind war müde geworden, und nun schneite es nur noch, wie eine Erinnerung an einen weihnachtlichen Abend, wenn die Flocken lautlos gegen die Scheiben schwebten und dort am warmen Glas zerschmolzen. Im OP-Zelt hatte er Licht gesehen und war hinübergegangen, um Feldwebel Wallritz zu sprechen.
Ohne Grund, nur um etwas zu sprechen, um die angespannten Nerven zu beruhigen.
«Sie wollten etwas erklären, Wallritz«, sagte Dr. Körner ernst.»Ich habe Sie bisher nie für einen Verrückten gehalten.«
«Sie… Sie wollen mich tatsächlich anhören…«
«Natürlich. Das ändert allerdings nichts an dem, was ich gesehen habe. Mich interessieren nur die Beweggründe, aus denen ein bisher zuverlässiger Mensch zu einem Idioten wird.«
Wallritz bückte sich und hob den noch immer auf dem Boden liegenden Brief seiner Mutter auf. Er hielt ihn Dr. Körner hin, und jetzt zitterte sein ausgestreckter Arm so heftig, als habe er einen eisigen Schüttelfrost.
«Bitte, Herr Assistenzarzt… Wenn Sie das lesen möchten… mein Bruder hat es mitgebracht… Vielleicht…«Er senkte den Kopf und verschluckte die Fortsetzung des Satzes. Es war sinnlos, ihn auszusprechen. Es konnte kein Verständnis geben.
Dr. Körner las den Brief langsam und Wort für Wort, als müsse er ihn auswendig lernen. Er hatte dabei das Empfinden, als lese er eine andere Version des Telegramms, das er in Warschau erhalten und das sein Weltbild verändert hatte. Er hielt den Brief auch noch in den Händen und sah auf das Papier, als er ihn längst zu Ende gelesen hatte. Marianne, dachte er. In einem Keller erstickt. Und man hat mich mit einer Toten verheiratet, und der Oberst sprach von der großen Stunde, in der die Herzen die Waffen besiegen und die Nation dem Siege entgegeneilt, und daß auch diese Ehe ein Symbol ist für den Lebenswillen der Jugend, die einmal Träger der stolzesten Generation sein wird, die je auf dieser Welt lebte… Und zur gleichen Stunde grub man sie aus und trug die Bündel zum Massengrab auf den Friedhof Melaten, wo sie nebeneinander liegen, Reihe an Reihe, Körper neben Körper, >Richt euch< noch im Grab… und um sie herum standen Hunderte oder Tausende und starrten auf die Särge, und keiner von ihnen riß die Fahnen von den Stangen und schrie Mord, Mord, Mord an einem ganzen Volk.
Stumm gab Dr. Körner den Brief an Wallritz zurück. Er beugte sich über den noch immer besinnungslosen Sigbart. Aus einer Rißwunde an der Stirn lief Blut über sein Gesicht. Es war die Stelle, wo er auf die Holme aufgeprallt war.
«Jetzt haben Sie sogar echtes Blut, Wallritz«, sagte Dr. Körner heiser.
«Er ist nach diesem Brief desertiert, Herr Assistenzarzt. «Wallritz faltete den Brief und steckte ihn ein.»Zu Fuß ist er von Stalingrad nach hier. Er hat keinerlei Chancen mehr… so oder so wird er erschossen werden… als Deserteur, wenn man ihn entdeckt, als… als…«Wallritz suchte nach einem Begriff und fand ihn nicht,»… wenn Sie uns melden.«
«Und Sie mit, Wallritz.«
«Ich weiß, Herr Assistenzarzt. «Feldwebel Wallritz stand auf und legte sein Koppel ab. Es war eine Geste der völligen Aufgabe.»Aber glauben Sie mir, ich konnte nicht anders. Er ist ja mein Bruder…«Dr. Körner erhob sich von dem Schemel. Er nahm die Pistole aus der Tasche, Sigbarts Pistole, und legte sie auf den Instrumententisch. Wallritz starrte sie an und wußte nicht, was Körner damit meinte. Es gab nur eine Erklärung, aber bei diesem Gedanken versagte ihm der Atem. Er hatte keine Angst, zu sterben, aber es erschien ihm unmöglich, dies mit eigener Hand zu tun und vorher seinen Bruder zu töten.
Dr. Körner sah gegen die feuchte Zeltleinwand. Sein Gesicht war hart und im Profil, das Wallritz zugekehrt war, spitz und knöchern.
«Herr Assistenzarzt«, stotterte Wallritz hilflos.
«Ich habe heute nacht das OP-Zelt nicht betreten«, sagte Dr. Körner heiser.»Wir haben uns zuletzt gesehen bei der Versorgung der vier Neueinlieferungen. Gute Nacht, Feldwebel.«
«Gute — Nacht, Herr Assistenzarzt…«Die Worte wurden hervorgewürgt. Dann fiel der Zelteingang wieder zu, und hinten auf der strohbedeckten Trage rührte sich ächzend Sigbart Wallritz.
Vor dem Zelt blieb Dr. Körner stehen und atmete tief auf. Was er soeben getan hatte, hätte er nie für möglich gehalten. Und er hatte es getan, ohne den geringsten inneren Widerstand — nur der Gedanke an Marianne war in ihm gewesen, das Wissen um ein verlorenes Leben, um eine gestohlene Jugend, um ein sinnlos vernichtetes Glück. Und dieser Gedanke war ganz sein Wesen geworden, schon in Warschau, und alles, was er fernerhin tun würde, waren Handlungen dieses neuen Wesens. Militärisch gesehen, hatte er jetzt ein Verbrechen gedeckt… aber er fühlte sich nicht als Mitschuldiger, sondern war glücklich darüber, so gehandelt zu haben.
Von weitem sah er Stabsarzt Dr. Portner durch den Schnee stampfen. Er hatte einen ganz neuen Lammfellmantel an und war vor drei Stunden mit einem dünnen Stoffmantel weggegangen.
Dr. Körner ging ihm entgegen; sie trafen sich an den alten Kesselwagen.
«Sehen Sie sich das an, Kollege!«, rief Dr. Portner und klopfte gegen den dicken Pelzmantel.»Zweitausend Stück sind davon angekommen… aber keiner hatte ’ne Ahnung davon. Die gingen unter der Hand weg wie bettfreudige Jungfrauen. Großzügig hat mir der Stabsintendant einen überlassen, weil er mich als Arzt auch mal brauchen könnte, wie er sich ausdrückte. Da sind Sie platt, was? Ringsherum der Iwan, und noch immer wird geschoben. Ich wäre ein Nilpferd gewesen, wenn ich da nein gesagt hätte. «Er blickte über seine Zelte und sah den Lichtschein im OP-Zelt.»Nanu, ist da noch was los?«
«Nichts, Herr Stabsarzt. «Dr. Körner schüttelte den Kopf.»Wallritz kocht nur noch die Instrumente aus… Wir hatten unterdessen vier Schwerverwundete hier, die durch den Schneesturm gekommen sind. «Er sah über den Flugplatz und hinüber gegen die schwarzgraue Nachtwand, hinter der Stalingrad lag.»Jetzt, wo der Sturm vorbei ist, werden die anderen Sankas kommen…«
«Na, dann wollen wir uns mal aufwärmen, was?«Dr. Portner klopfte gegen die linke ausgebeulte Tasche seines Lammfellmantels.»Auch ’ne Pulle Cognac hab’ ich abgekriegt. Ich spendiere heute nacht für jeden von uns zwei Gläschen…«
Er stapfte an Körner vorbei zu seinem Zelt. Der Assistenzarzt blieb stehen und sah noch einmal zurück zum OP-Zelt. Der schwache Lichtschein hing fahl in der Nacht.
Dr. Körner biß die Lippen zusammen und ging Dr. Portner nach. Als er eintrat, schraubte der Stabsarzt gerade einen Korkenzieher in den Korken.
Von der Rückseite des OP-Zeltes löste sich in diesem Augenblick eine andere, dunkle Gestalt und glitt zu den Güterwagen hin davon. Sie hatte die ganze Zeit über hinter dem Zelt gestanden und durch einen Ritz des verhängten Fensters die Handlungen und die Unterhaltungen im Inneren beobachtet. Nun war alles vorbei… Sigbart Wallritz hatte einen gutsitzenden >Stuka<, die Verbände waren blutbeschmiert, und in wenigen Minuten würde Feldwebel Wallritz den >Verwundeten< zu den Wartebaracken bringen und dort abliefern zum Transport in die Heimat.
Die dunkle Gestalt verhielt hinter einem der Waggons, stellte sich mit dem Rücken gegen den Wind und steckte sich in der hohlen Hand eine Zigarette an. Als das Streichholz aufflammte, gut-zerte eine Kette um den Hals der Gestalt, und ein blankes Schild vor der Brust blitzte wie unter einem verirrten Sonnenstrahl.
Der Feldwebel der Feldgendarmerie Emil Rottmann war sehr zufrieden. Er hatte sich soeben für den Notfall einen Freifahrschein ins Leben erworben, und er war sicher, daß er ihn einmal präsentieren würde.
In Stalingrad-Stadt hatten sie sich wieder ineinander verbissen, nachdem der Ausbruch durch den Befehl Hitlers, die Stadt müsse gehalten werden und er werde die eingeschlossene Armee nicht vergessen, sondern heraushauen, in dem Augenblick abgebrochen worden war, in dem die deutschen Divisionen zu Stoßkeilen formiert bereitstanden und die Aussicht auf einen erfolgreichen Durchbruch größer als je zuvor war. So sehr General v. Seydlitz darauf drängte, entgegen dem Führerbefehl loszumarschieren, so sehr zögerten General Paulus und sein Stabschef Generalleutnant Schmidt.»Die Politik des Soldaten ist der Gehorsam. «Das war die einzige Verteidigung gegen den Mangel an Eigeninitiative und Mut, die Fesseln eines Wahnsinnsbefehls zu sprengen und 300 000 deutsche Soldaten vor dem sicheren Untergang zu retten. Warum in diesen Stunden nicht alle Generäle sich einmütig gegen diese Doktrin stellten und ihren Oberbefehlshaber zwangen, eine Tat der Vernunft und nicht eine Befolgung des Widersinns zu tun, wird eines der ewigen menschlichen Rätsel von Stalingrad bleiben… rätselhaft wie 1914 jener Rückzug an der Marne, den die Franzosen immer ein >Wunder< nennen werden.
Die Zweifler auf sowjetischer Seite hatten recht behalten… mit der Kälte aus Kasachstan kam das Treibeis auf die Wolga, und wenn es vordem noch einigermaßen Nachschub gegeben hatte unter dem Feuerhammer der deutschen Artillerie, so kam jetzt alles zum Erliegen. Durch einen Granatvorhang konnte man durchschlüpfen, aber Treibeis ist nicht zu überwinden. Zwar wußte man, daß es nicht lange dauern würde, und Mütterchen..Wolga zog sich unter einer dicken Eisdecke zurück… aber das Überbrücken dieser Zwischenzeit war ein Problem, das dem sowjetischen Oberkommando arge Sorgen bereitete.
Pawel Nikolajewitsch Abranow bekam es deutlich zu spüren. Bei ihm erschien Shuri Andrej ewitsch Fulkow, ein unsympathischer, glatzköpfiger und spitznasiger Mann, wies sich als Abgesandter des städtischen Verteidigungskomitees aus und sah mit wollüstigen Augen auf die Kohl- und Kartoffelmieten, die Abranow rund um seinen Erdbunker am Wolgaufer angelegt hatte.
«Ihr seid mir ein Genosse«, begann Fulkow die Offensive gegen Abranow.»In der Stadt lecken sie vereiste Steine ab, und ihr thront hier auf einem Vorratshaus. Ist das kommunistisch gedacht, Pawel Nikolajewitsch?«
Abranow, der Greis, blieb taub. Er wies einen großen Zettel vor, und Fulkow las verblüfft, daß die Gründung eines >Komitees zur Rettung des Elefanten< sogar von Marschall Tschuikow gutgeheißen worden war.
«Sehen Sie, Genosse Kommissar«, rief Abranow empört,»daß die Vorräte für den Elefanten gesammelt worden sind? Glaubt ihr, wir hätten das alles aus der Wolga gefischt? Nein, aus der Stadt ist alles gekommen… die tapferen Rotarmisten haben es gebracht, abgehungert haben sie sich’s, die Brüderchen, für den Elefanten… das ist die reine Wahrheit.«
Shuri Andrejewitsch Fulkow kratzte sich die häßliche Glatze. Er hatte den Elefanten nie gesehen, und wenn man ihm davon erzählte, so interessierte ihn nicht der Rüsselträger, sondern vielmehr, was seine Milizsoldaten in den Kochtöpfen hatten. Und das war wenig, verflucht noch mal. Auch der beste Patriot fällt einmal um, wenn er einen leeren Magen hat. Pulver und Blei kann man nicht fressen, und immer nur heißes Wasser mit ein paar Rübenstücken darin ist keine Kraftnahrung für Männer, die Mütterchen Rußland schützen sollen. Unter diesen Aspekten handelte Fulkow weise, als er jetzt sagte:
«Der Elefant ist tot. Das städtische Verteidigungskomitee beschlagnahmt die Vorräte.«
«Oho, wo ist der Beweis?«schrie Abranow. Er schwenkte das Gründungsprotokoll des Elefantenkomitees vor Fulkows Nase, als müsse er ihm frische Luft zuwedeln.»Drei Bataillone haben die Patenschaft übernommen, Oberst Pjoterimik hat sogar…«
«Soll man es für möglich halten?«schrie Fulkow zurück.»Ein Elefant ist wichtiger als die tapferen Verteidiger der Stadt? Blöd seid ihr, dumm, idiotisch. «Und dann tat er etwas, was Abranow an den Rand eines Schlaganfalles brachte. Er riß das Gründungsprotokoll aus der Hand des Greises und zerfetzte es. Samt der Unterschrift von Marschall Tschuikow. So mutig war Shuri Andrejewitsch Fulkow, oder so hungrig… man konnte es individuell auslegen.»Das ist es wert«, brüllte er dabei.»Das. Nur das. Ein paar Fetzchen. Zu klein, um sich den Hintern damit abzuwischen.«
Abranow kapitulierte. Gegen Maßlosigkeit und Unhöflichkeit kann man nicht angehen. Es ist zwecklos, ein Idealist zu sein, wenn der Krieg die guten Sitten verroht.
«Gut, gut«, sagte er geschlagen.»Holt alles ab. Ihr werdet sehen, welchen Eindruck es macht bei den tapferen Männern, die es sich abgehungert haben…«
Der Ehrlichkeit wegen sei gesagt, daß es gar keinen Eindruck machte. Aber in der Front Stadtmitte hatten sie wieder einmal einen vollen Kessel und schlugen sich den Magen voll mit zwar saurem, aber sättigendem Kapusta. Die Deutschen merkten es direkt. Drei Straßenzüge wurden zurückerobert und zwei deutsche Paks erbeutet.
Aber man hatte in Stalingrad auch andere Sorgen als der etwas kindische Greis Abranow. Die deutsche 6. Armee war eingekesselt, und von allen Seiten drückten die sowjetischen Divisionen die Kesselwände ein, trieben Beulen und Risse und zwangen die deutschen Regimenter, zurückzugehen und sich immer mehr zusammenzudrängen. Das hatte zur Folge, daß die deutschen Truppen statt nach Westen nach Osten strebten, hinein in die Stadt Stalingrad, die allein eine konstante Front bildete, in der sich die Hin-und Herbewegungen nur in der Größenordnung einzelner Häuser messen ließen. Im Süden hatte man Beketowka freigekämpft, im Norden Rynak, aber was man an deutschen Truppen zurückgetrieben hatte, zog sich kämpfend in die Stadt hinein und drückte auf die müden, ausgebluteten, hungernden und unter Munitionsmangel leidenden Verteidiger.
Von ihrem jungen Ehemann Iwan Iwano witsch Kaljonin hatte Vera nichts mehr gehört, seitdem Major Kubowski wieder an die >Tennisschläger<-Front zurückgekehrt war. Da auch das Feldlazarett des Kapitänarztes Sukow mitten in die Stadt verlegt wurde, fiel der Nachrichtendienst über die Verwundeten aus, die sonst berichteten, daß der Mladschij Sergeant Kaljonin noch wohlauf sei und sich tapfer benehme wie ein richtiger Held.
Er hatte es auch nötig, ein zäher Held zu sein, denn seit einer Woche war er vermißt. Major Kubowski scheute sich, ihn als tot zu melden, aus dem dumpfen Gefühl heraus, dem Schicksal nicht vorzugreifen. Und er tat gut daran, denn Kaljonin saß allein in einem Keller. Er war verschüttet.
Das war ganz plötzlich geschehen, wie es die Eigenschaft großer Dinge ist, unangemeldet einzutreffen. Es war an einem der Tage, in denen die Deutschen sich, dem Befehl Hitlers beugten, nicht aus dem Kessel ausbrachen, sondern sich zusammenzogen und versuchten, die alten, aufgegebenen Stellungen in der Trümmerwüste der Stadt wieder zu besetzen oder zurückzuerobern. Der Tag hatte mit einem wilden Granatwerferfeuer begonnen, sogar zwei deutsche Panzer hatten eingegriffen und waren über die halbwegs befahrbaren breiten Straßen gekrochen. Von irgendwoher schossen drei leichte Geschütze, und Major Kubowski schrie:»Freiwillige vor, Genossen. Wir müssen herausfinden, wo diese Hundesöhne sich versteckt halten. Die pflügen unsere Stellungen um wie einen Rübenacker. Wer versucht’s?«
Iwan Iwanowitsch Kaljonin hatte sich gemeldet, und mit ihm noch fünf andere Rotarmisten. Im Wirbel eines Schneewindes waren sie losgerannt, Zickzack auf die deutschen Stellungen zu, von Ruine zu Ruine springend, jeden größeren Stein als Deckung nutzend, über die Straße kriechend wie schnelle Eidechsen, in Granattrichtern wartend und sichernd, nicht unten auf der Straße, sondern oben, im zweiten Stockwerk, katzenhaft, sich an Balken anklammernd, an herumhängenden Leitungen sich wegschwingend, Trapezkünstlern gleich, um sich federnd im halbierten Zimmer des nächsten Hauses hinzuwerfen und weiterzukriechen, erdbraune Schatten in einer weißen Mondlandschaft, aus der es ab und zu feurig aufbrüllte und Hauswände in sich zusammenfielen.
So waren sie weitergekommen, tapfere, todesverachtende Kerle aus Moskau und Irkutsk, Weißrussen und Kalmücken, Tataren und Usbeken, Männer vom Ladogasee und krummbeinige Reiter aus Ulan Bator. Mitten hinein in die deutschen Stellungen krochen und sprangen sie, und dann saßen sie im Keller eines großen Hauses, über sich mehrere Meter Schutt, und wußten, daß dreißig Meter weiter im Hof einer kleinen Konservenfabrik die drei deutschen Geschütze standen.
Kaljonin hielt eine kurze Besprechung, wie man das immer tut, ehe man etwas Außergewöhnliches vollbringt. Zwei Dinge konnte man tun… zurückkehren zu den eigenen Leuten und melden, woher die Deutschen den Tod in die sowjetischen Reihen schleuderten, oder versuchen, diese Geschütze zum Schweigen zu bringen.
«Das ist am besten, Genossen«, sagte Kaljonin.»Wir sind nun einmal hier, und ob die Artilleristen genau diesen Fabrikhof treffen, das ist noch eine Frage. Laßt uns überlegen, wie man das am besten machen kann.«
Sie überlegten nicht lange. Sie banden Handgranaten zu Bündeln zusammen und verstärkten sie mit kleinen Päckchen Sprengladungen. Ja, sie setzten sich sogar hin, jeder in eine Ecke, und reinigten noch einmal ihre Maschinenpistolen, damit sie keine Ladehemmungen hatten. Dann, nach einer Stunde, sah Kaljonin sich um und nickte.
«Gehen wir, Genossen«, sagte er ganz ruhig. Als erster kroch er voraus in die Ruinen, und obwohl jeder von ihnen wußte, daß mindestens einer fallen würde und jeder dieser eine sein konnte, zögerte keiner, sondern sie alle schlurften durch die zerplatzten und zermahlenen Steine, schoben sich unter Balken hindurch und zwängten sich durch Mauerritzen.
Im Hof der Konservenfabrik feuerten wieder die drei deutschen Geschütze. Es waren neue Kanonen, mit Spreizlafetten, wie Kai-jenin feststellte, als er durch ein Loch der Hofmauer spähte und direkt in die qualmenden Mündungen starrte. An einem Küchentisch saß zwischen den Geschützen ganz gemütlich ein Offizier, ein junges, schlankes Kerlchen, und hatte eine Karte vor sich ausgebreitet und einen Schußwinkelberechner. Anhand der Karte rechnete er die Ziele aus, gab die Werte durch, die Zielkanoniere kurbelten die Schußwinkel ein, und dann donnerte es wieder und spie den Tod in die sowjetischen Keller und besetzten Häuser.
«Wir dürfen nicht danebenwerfen, Genossen«, sagte Kaljonin. Er sprach laut, denn im Hof konnte ihn niemand hören.»Jeder nimmt sich ein Geschütz, und weil wir sechs sind, kommen zwei auf jede Kanone.«
Sie nickten, legten ihre geballten Ladungen zurecht und warteten. Der junge deutsche Offizier rief wieder ein paar Zahlen, die Rohre schwenkten etwas zur Seite und in die Höhe, Granaten und Kartuschen wurden eingeschoben…»Im gleichen Augenblick, wenn sie feuern«, sagte Kaljonin ganz ruhig.»Dann gucken sie zur Seite… und werft die Dinger neben die Rohre…«
Die Richtkanoniere hoben die Hand. Der junge Offizier streckte den Zeigefinger in die Luft, als sei er ein warnender Lehrer. Kaljonin hielt den Atem an. Er starrte den jungen Mann an. Es ist schade um dich, Freundchen, dachte er in diesem kurzen Augenblick. Du und ich, wir haben noch so viel vor im Leben. Aber es ist Krieg, und du sitzt da und tötest meine Brüder. Es ist schade, Freundchen… viel lieber säße ich mit dir an einem Tisch und tränke einen Wodka.
Der Offizier ließ den Zeigefinger sinken. Im gleichen Augenblick spien die Rohre Feuer und bäumten sich auf. Gleichzeitig aber, als sei auch er an der Schußleine befestigt, war Kaljonin emporgesprungen und hatte unter gleichzeitigem Abziehen der Reißleine die geballte Ladung weggeworfen. Sie fiel vor dem mittleren Geschütz in den Schnee, nicht weit davon ein zweiter, dunkler Ballen, wie ein runder Stein, stumm, dunkel, in sich den Tod, der wenige Sekunden wartete.
Qualmend fielen die Kartuschen aus den aufgerissenen Verschlüssen, eine neue Granate lag in der Hand des Ladeschützen, der junge Offizier suchte schon ein neues Ziel auf der Karte.
«Jetzt«, sagte Kaljonin.»Jetzt…«
Sie duckten sich, und dann brach vor ihnen die Hölle auf, fast gleichzeitig explodierten die sechs geballten Ladungen und rissen die Geschütze um, zerfetzten die Leiber und jagten den mit einer Zeltplane abgedeckten Kartuschenstapel in den bleiernen Himmel. Wildes Geschrei gellte über den Fabrikhof, tierisches Schmerzgebrüll, der langgezogene Ruf >Sanitääääter< und ein mehrstimmiges Stöhnen, als sich die Explosionswolke senkte.
Kaljonin blickte über die Mauer. Es gab keine drei Kanonen mehr. Ein Gewirr zerfetzten Stahls bedeckte den Hof; dazwischen lagen die Gestalten der Kanoniere oder krochen die Verwundeten schreiend zu einem Kellereingang im Hauptgebäude der Fabrik. Von dem jungen Offizier und seinem Tisch sah man nichts mehr… wo er gesessen hatte, war ein kleiner schwarzer Trichter, als habe ein Riesendaumen in die Erde gedrückt. Weiter nichts. Kaljonin starrte auf den dunklen Fleck, bis ihn ein krummbeiniger Reiter aus Ulan Bator anstieß.
«Was ist, Genosse Sergeant?«
«Nichts, Brüderchen, nichts. Es war nur ein Gedanke. Gehen wir…«
Sie krochen zurück, aber es war ein schwererer Weg als zuvor. Die Deutschen waren wild geworden. Überall schoß man, Gestalten huschten wie Fledermäuse durch die Ruinen, ab und zu hörte man einen lauten Schrei, dann das Hämmern der MGs und das helle Bellen der Maschinenpistolen. Und die Artillerie schoß, aber nicht die deutsche, sondern die sowjetische, und sie schoß genau dahin, wo Kaljonin und seine Männer durch die Trümmer hetzten, mit heraushängender Zunge und keuchendem Atem, stolpernd, springend, fallend, kriechend, sechs um ihr Leben rennende Menschen, die plötzlich ängstlich waren, nachdem sie ihre Tat vollbracht hatten.
«Die eigenen schießen auf uns«, schrie der Krumme aus Ulan Bator. Er blieb hinter einem Mauerrest stehen. Vor ihm schwankte der Junge aus Irkutsk, warf die Arme hoch und fiel auf das Gesicht. In seinem Rücken qualmte ein großer Splitter, und es roch nach verbranntem Fleisch.»Die eigene Artillerie, Sergeant…«Um sie herum war jetzt eine Feuerwand. Es stimmte nicht, was Major Kubowski gesagt hatte, daß man hinten nicht wüßte, wo die drei deutschen Geschütze standen. Jetzt hämmerte die schwere sowjetische Artillerie von jenseits der Wolga in die Stadt und genau auf das Stadtviertel das Kaljonin so mutig durchsprungen hatte.
Die fünf preßten sich an die Ruinen und starrten in die Hölle. Fast systematisch wurden die Trümmer durchgepflügt… es war wie eine Maschine, die die Erde perforierte.
«Sie schießen gut, die Brüderchen«, keuchte Kaljonin. Er blutete an der Stirn, ein herabfallender Stein hatte ihn getroffen. Der krumme Reiter aus Ulan Bator hieb mit der Faust gegen die Mauer.
«Es ist kein schöner Tod, von den eigenen zerrissen zu werden!«schrie er. Kaljonin winkte den anderen zu.
«Lauft, Genossen!«brüllte er.»Jeder für sich. Im Keller des Kleiderlagers treffen wir uns…!«
Er wartete, bis die anderen durch Rauch und Steinstaub, aufwirbelnde Erde und niederstürzende Ruinen davongehetzt waren. Dann sprang auch er hinter der deckenden Mauer hervor und lief geduckt in die Feuerwand hinein. Als er es mehrfach dumpf orgelnd heranbrausen hörte, sprang er mit einem wilden Satz in ein Loch, das sich vor ihm öffnete, rollte eine steile Treppe hinunter in einen nassen, handhoch mit Wasser gefüllten Keller und platschte über den glitschigen Boden gegen eine Wand. Gleichzeitig schlug es über ihm ein, drei Riesenfäuste stampften die Erde über ihm zu, über die Kellertreppe quoll eine Wolke gelblichen Rauches hinab, und hinter ihr kamen Geröll und erstickender Staub.
Kaljonin warf sich mit dem Gesicht nach unten in das stinkende Wasser auf dem Kellerboden. Er hielt den Atem an, so lange es ging… dann hob er den Kopf etwas, machte einen neuen Zug, schluckte Rauch und Staub und drückte das Gesicht wieder in das Wasser. Das machte er mehrmals, bis sich die Luft etwas gereinigt hatte und die Wolke unter der Decke entlangglitt wie ein gelber Schleier. Da setzte er sich auf, lehnte den Rücken an die nasse Wand, tauchte ein Taschentuch in das Wasser und preßte es gegen den Mund. Durch diesen Filter konnte er atmen, ohne husten zu müssen.
Er sah sich um. Die Kellertreppe war verschlossen mit dicken Steinen und Mauerresten. Bis oben hin mußte sie vollgestopft sein, denn nichts rollte mehr nach. Durch ein paar Ritzen zog der Rauch langsam ab, aber an der Trägheit erkannte Kaljonin, daß über ihm ein ganzes Haus liegen mußte, das kaum Luft in den Keller ließ.
Er war verschüttet, und Kaljonin wußte, was das bedeutete. Er stemmte sich an der glitschigen Wand hoch und spürte, daß seine Rippen und sein Rücken von dem Sturz schmerzten und sein Nacken anzuschwellen begann und die Bewegung des Kopfes einengte.
Langsam ging Kaljonin die Wand entlang bis zur Ecke, dann die andere Wand… die Ecke… die dritte Wand… die Ecke… die vierte Wand… Es war ein großer viereckiger Keller, massiv und zum Teil mit Flußsteinen aus der Wolga gebaut. Ein guter, ein vorzüglicher Keller, der Jahrhunderte überleben konnte.
Wieder ging Kaljonin von Wand zu Wand, seine Stiefel patschten durch das Wasser. Er schritt sein Grab ab…