Kapitel 6

Mit der neunzehnten Ju 52, die sich drei Tage später vom vereisten Flugfeld von Gumrak abhob und nach Morosowskaja außerhalb des Kessels flog, kam auch der Funker Sigbart Wallritz mit.

Nachdem er seinen Zettel um den Hals trug und in der Masse der Wartenden herumhockte, fragte ihn niemand mehr, woher er kam. Ein Stabsarzt kontrollierte nur vor jedem Flug die >Lebens-billetts< und wählte aus den darauf verzeichneten Verwundungen diejenigen Fälle aus, die er als besonders dringend ansah. Zuerst kamen die liegend Transportfähigen an die Reihe, die Schwerverletzten, die Amputierten, Bauchschüsse, Rückenmarkverletzten, Lungenschüsse… dann wurden, um die Ecken auszufüllen, die Gehfähigen aussortiert. Hier ballte sich eine Masse zusammen, die bald zu einem Problem werden sollte. Noch war sie voller Hoffnung, auch wenn die letzte Zählung 12 000 Verwundete ergab, die in und um Gumrak herum lagen und warteten.

Zwischen Dr. Körner und Feldwebel Wallritz war kein Wort mehr über den Vorfall gewechselt worden… erst, als Sigbart ausgeflogen war, sagte Wallritz in einer Operationspause leise:

«Er ist weg…«

«Und was macht er jenseits des Kessels?«

Wallritz hob die Schultern. Es war eine Frage, die niemand beantworten konnte. Zwischen Morosowskaja und Berlin lagen einige tausend Kilometer Rußland und Polen, und wer nüchtern dachte, mußte sich sagen, daß ein heimlicher Weg vom Don bis zur Spree die Hoffnung eines Irren war.

Sigbart Wallritz dachte daran nicht. Er hockte neben der Trage, auf der ein Blindgeschossener lag, und das Schütteln und Schwanken des Flugzeuges war ihm wie ein tänzerisches Schweben. Auch als sie über die russischen Linien flogen, die den Kessel von Stalingrad umklammerten, und von sowjetischer Flak unter Feuer genommen wurden, kam in ihm keine Angst mehr auf oder der Gedanke, daß er noch immer über dem Tod schwebte. Er war völlig sicher, von jetzt ab das Leben gewonnen zu haben, und betrachtete das Explodieren der Flakgranaten wie einen Abschiedsgruß der

Hölle.

Ein Unteroffizier der Luftwaffe erschien an der eisernen Tür zur Flugzeugführerkabine.

«Herhören«, brüllte er durch den Motorenlärm.»Alle Geh-

fähigen melden sich in Morosowskaja im Auffanglager des Standortlazaretts. Es liegt am Ende des Flugplatzes. Die Sankas sind nur für die Liegenden.«

Sigbart Wallritz lächelte vor sich hin. Erst einmal landen, dachte er. Dann sehen wir weiter.

Donnernd rauschte die klobige Ju 52 unter dem Winterhimmel dahin. Die Wolken hingen tief, schwer von Schnee. Bis Morosowskaja waren es noch zwanzig Minuten.

Am linken Motor, fast unmittelbar unter der Drehschraube des Propellers, befand sich ein kleines Loch. Noch sah es keiner, aber aus diesem Loch tropfte Benzin, und dann waren es ein paar Funken, die herausstoben und die aufgesaugt wurden von den weißgrauen Wolkenballen, die sie durchstießen.

Im Inneren der Ju herrschte fröhliche Stimmung. Mitten unter den Tragen hockte ein Landser mit einem wochenlangen Bart, die Brust dick umwickelt mit Verbänden, die an einigen Stellen durch-

feblutet waren und große dunkelrote, fast braune, harte Flecke ildeten. Er hatte eine Mundharmonika an die Lippen gepreßt und spielte, und jedesmal, wenn er Atem holte, pfiff es in ihm, als habe er keine Lungen, sondern einen defekten Blasebalg in der Brust.

«In der Heimat, in der Heimat, da gibt’s ein Wiedersehn«, spielte er. Und alle, die es hörten, empfanden es als das schönste Lied, das je gesungen wurde.

Sie flogen in die Freiheit, sie flogen in das Leben, sie hatten Stalingrad überlebt.

Aus dem kleinen Loch hinter dem linken Propeller huschte jetzt Rauch… er wehte über den Motorblock wie ein dunkler, unheilvoller Nebel…

Nun sah es auch der Pilot. Er stieß den Kopf nach vorn und umklammerte den Steuerknüppel.

«Verfluchter Mist!«brüllte er und drückte die Maschine gleichzeitig in einer engen Schleife nach unten. Hinter ihm, im Laderaum, purzelten die gehfähigen Verwundeten über die Bahren, das Mundharmonikaspiel erstarb in einem schrillen Mißklang, Schreie flatterten auf, Fluchen, Rufe. Der Bordschütze war von seinem MG geschleudert worden und rappelte sich mit einer Beule an der Stirn mühsam wieder auf.

«Wohl besoffen, Heinrich!«schrie er dem Piloten zu.»Was ist denn los?«

«Der Motor…«

Mit schreckgeweiteten Augen starrte der Bordschütze durch die Kanzelscheibe. Feine Feuerschlangen umzüngelten den Motorblock. Der Transportoffizier, ein junger Leutnant, kam nach vorn, auch er war durch den plötzlichen Sturzflug verletzt und blutete aus einer Rißwunde an der linken Backe.

«Was ist denn hier los?«bellte er. Statt einer Antwort drückte der Pilot die schwere Maschine noch tiefer. Unter ihnen war noch Steppe, verschneit und vereist, eine riesige weiße Tischplatte der Natur. Aber am Horizont hoben sich Wälder ab, ein dunkler Wall, den man nicht mehr überspringen konnte.

«Wir brennen!«schrie der Pilot.

«Was tun wir?«Der junge Leutnant lehnte sich gegen die Kanzel.»Mann — das darf doch nicht wahr sein!«Er starrte hinaus auf die Rauchwölkchen und die Flammen und begriff, daß er in einem Sarg flog. Sein Gesicht fiel ein.»Sind… sind wir schon über deutschbesetztem Gebiet?«fragte er heiser.

Der Pilot hob die Schultern.»Nach meiner Erfahrung nicht. Das ändert sich ja jeden Tag.«

«Und was wollen Sie jetzt tun?«

«Notlanden! Hier irgendwo…«

«Aber die Verwundeten, Mann! Wir krepieren doch alle…«

«Das tun wir so oder so, Herr Leutnant. «Der Pilot starrte auf die vereiste Steppe, die ihm entgegenraste. Er versuchte, die Maschine wieder abzufangen und im Landeflug aufzusetzen. In diesem Augenblick setzte mit einem dumpfen Knall der Motor aus… der Propeller wirbelte zwar noch herum, aber es war nur noch der Luftzug, der ihn bewegte.

«Beten Sie, Herr Leutnant!«schrie der Pilot. Er drückte den Kopf zwischen die Schultern, versuchte noch einmal, die Maschine im Gleitflug aufzusetzen, und sah dabei, daß der ganze Motorblock in hellen Flammen stand. Sie alle sahen es… die beiden Bordschützen, der Leutnant und ein Feldwebel, der vom Laderaum nach vorn gekrochen war, um dem >Schlipssoldaten< am Steuer in den Hintern zu treten. Hinter ihnen rutschten die Bahren übereinander, brüllten die Verwundeten und versuchten zwei Gehfähige, die Tür aufzureißen.

Sekunden nur waren es… unter ihnen das Ende der Steppe, vor ihnen die Wand des stummen Waldes… mit letzter Verzweiflung riß der Pilot das Seitenruder herum, die Maschine legte sich zur Seite, rauschte vom Wald weg und krachte dann mit dem linken Flügel in den Schnee. Ein helles Zischen zerriß die Luft, und eine Dampfwolke hüllte alles ein, als der brennende Motor in den Schnee tauchte… Wie ein Kopfstehender, den plötzlich die Kraft verläßt, knickte das Flugzeug ein, überschlug sich und blieb auf dem Rücken liegen. In seinem Inneren kreischten die Menschen, hieb man gegen die blechernen Wände, rammte die Holme der Bahren, von denen die Schwerverletzten gekippt waren, gegen die Tür.

Auch Sigbart Wallritz war unter denen, die die ’Tür aufbrechen wollten. Als die Maschine stürzte, hatte er sich die Verbände und die Schiene vom Ann gerissen. Niemand beachtete ihn in dem wilden Durcheinander. Die Bahre neben ihm war leer, der Verwundete, der auf ihr gelegen hatte, war in eine Ecke gerollt. Seine Fußspitzen schlugen gegen die Wand, während er grell schrie. Mit ein paar Tritten hatte Wallritz das Segeltuch abgerissen; als die Maschine aufprallte und sich überschlug, klammerte sich Wallritz an zwei Haltegriffen fest und überlebte den Salto wie an Ringen pendelnd. Dann kroch er zur Tür, zielte auf die verklemmte Verriegelung und rammte die Tragenholme gegen das Blech. Ein paarmal prallte er ab, beim fünften Anlauf brach die Tür auf und schlug nach außen um. Heulend fegte die Kälte in den Laderaum, mit ihr aber auch der Geruch von Brand, Öl und glühendem Metall.

«Sie ist auf!«brüllte jemand, und der Schrei pflanzte sich fort.

«Auf — auf — auf — Jungs, nur ’raus — ’raus —!«

Eine graue, schreiende Woge wälzte sich auf die kleine Luke zu. Wallritz sprang. Er flog ein paar Meter durch eisige Luft, schlug dann in den Schnee, überkugelte sich mehrmals und blieb dann auf dem Bauch liegen. Er sah, wie aus dem Türloch sich stoßende, um sich schlagende Leiber quollen… sie stürzten die vier Meter Höhenunterschied zwischen Tür und Boden kopfüber hinab, und die wenigen, die diese Gefahr erkannten, wurden einfach hinausgestoßen. Der junge Leutnant erschien in der Tür, man hörte ihn brüllen, aber keiner verstand ihn. Auch er wurde von einigen Fäusten einfach aus dem Flugzeug gestoßen und fiel in den Schnee, wo er starr liegenblieb. Er schien sich das Genick gebrochen zu haben.

Sigbart Wallritz sprang auf. Noch einmal sah er zurück zu dem brennenden Flugzeug und dem dunklen Knäuel wimmernder, schreiender, um sich schlagender Menschen, dann rannte er fort, dem nahen Waldrand entgegen.

«He!«schrie ihm eine grelle Stimme nach.»Kamerad! Nimm mich mit… nimm mich mit… Ich kann doch noch laufen… ich kann doch laufen…«

Wallritz rannte, nach vorn geduckt, gegen den Wind gestemmt. Er erreichte den Wald, lehnte sich ächzend gegen den ersten Baumstamm und drückte den Mund an die vereiste Rinde. In diesem Augenblick explodierte der Benzintank des Flugzeuges. Der Druck der Detonation warf Wallritz um den Stamm herum in den Schnee, es war ihm, als platze sein Schädel auseinander. Wie ein Tier wühlte er sich in den Schnee, schloß die Augen und blieb bewegungslos liegen. Erst nach einigen Minuten, in denen keine weitere Explosion mehr erfolgte, richtete er sich auf den Knien auf und starrte hinüber zu dem Flugzeug. Es war zerrissen. Die brennenden Trümmer lagen verstreut im Schnee, und durch das Zischen hörte er die grellen Schreie der Schwerverwundeten, die auf ihren Bahren lagen und verbrannten, übergossen von Benzin und Öl, bedeckt von glühenden Blechfetzen.

Ich lebe, dachte Wallritz. Ich lebe wirklich! Das war so unbegreiflich, daß er zunächst aufstand, sich an einen Baum lehnte und schweratmend in den grauen Himmel starrte. Dann lief er fort, hinein in den verfilzten Wald, richtungslos, ohne Orientierung. Nur weg, dachte er, nur weiter… weiter… Wo er sich befand, war ihm gleichgültig. Er wußte nur eins, und das gab ihm Kraft: Er war aus dem Kessel heraus. Er hatte Stalingrad überlebt. Er war frei… frei! Was jetzt noch kommen konnte, war erträglich gegen die Hölle, der er entronnen war.

Ich werde leben, sagte er sich immer wieder, während er lief. Ich lebe… ich lebe… Er verlor den Zeitbegriff, ruhte ein paarmal aus und sah am Himmel, daß der Abend kam. Da blieb, er stehen und knöpfte den Brotbeutel ab. Er enthielt alles zum Überleben. Eine Feldflasche mit heißem Tee, ein Säckchen Hartkeks, zwei Dosen Schmalzfleisch, ein Feuerzeug, fünfzig Schuß Pistolenmunition. Was will man mehr?

Als die Nacht hereinbrach, saß er in einer Mulde und bemühte sich, nasse Äste zum Brennen zu bringen. Als es nicht gelang, nahm er den letzten Brief seiner Mutter aus der Rocktasche, steckte ihn an und bekam so den Anfang eines kleinen Feuers, das er sorgsam hütete und größer und größer werden ließ bis zur wärmenden Flamme. Er hockte sich davor, lehnte den Kopf gegen einen Baum und wußte nicht, daß er vor Erschöpfung einschlief. Einmal war es ihm, als höre er Stimmen, als falle etwas auf seinen Kopf, er versuchte sich aufzurichten, die Augen aufzureißen, aber sein Kopf war wie mit Blei gefüllt, er fiel nach vorn auf die Brust, und die Besinnungslosigkeit des Schlafes kam wieder über ihn.

Er erwachte, weil ihn jemand rüttelte. Mit einem Sprung wollte er aufschnellen, aber ein Fußtritt warf ihn zurück. Er sah, daß er auf einer alten Zeltplane lag, aber es war keine deutsche, gefleckte Plane, sondern erdbraunes Segeltuch. Das nackte Entsetzen riß seinen Kopf herum.

Um ihn herum saßen oder standen fast zwanzig dunkle Gestalten. Wilde, unrasierte Gesichter unter tief heruntergezogenen Fellmützen, wie sie die Jäger in der Taiga tragen. Mäntel aus Pelz. Filzstiefel. Vor der Brust Maschinenpistolen.

Wallritz stützte sich auf den Ellenbogen hoch. Zum erstenmal sah er Partisanen. Angst durchjagte ihn. Er kannte die Gnadenlosigkeit des Partisanenkampfes aus vielen Erzählungen der Kameraden, und er erkannte in den Blicken der ihn Umstehenden sein Schicksal. Flehend hob er die Hände, und plötzlich begann er zu weinen, schluchzend wie ein Kind. Er ließ sich zurückfallen auf die erdbraune Zeltplane und schlug die Hände vor das Gesicht. Ein Fußtritt in die Seite rollte ihn von der Plane in den Schnee; er kniete, neigte den Kopf nach vorn, biß sich in den Handrücken und schrie dann mit überschlagender Stimme:»Schießt doch! Schießt…!«

«Aufstehen!«sagte eine dunkle Stimme in gutem Deutsch.»Steh auf…«

Sigbart Wallritz erhob sich langsam. Er öffnete die Augen wieder und sah sich um. Der Mann, der zu ihm gesprochen hatte, stand neben ihm. Ein vom Bart verfilztes Gesicht, in dem zwei dunkle Augen brannten.

«Sie… Sie sprechen deutsch«, sagte Wallritz. Es war mehr ein Stöhnen als ein gesprochener Satz.

«Du von der Maschine…«Der Partisan zeigte in eine Himmelsrichtung. Wallritz nickte.

«Aus Stalingrad?«

«Ja.«

«Kameraden alle tot. «Der Kopf Wallritz’ fiel nach vorn.»Du allein leben… Nicht verwundet?«

«Nein. Ich… ich…«Der Kopf Wallritz' schnellte in wilder Verzweiflung herum.»Ich bin ein Deserteur!«schrie er.»Ich will nicht mehr! Ich will nicht! Ich hasse den Krieg! Ich will leben! Leben! Ich bin kein Held — ich will nichts als diesen Wahnsinn hier überleben! Versteht ihr mich: Ich hasse den Krieg! Ich hasse ihn!«

Dann fiel er zusammen. Er hatte seine letzte Kraft in diesem Schrei verbraucht. Eine große Gleichgültigkeit überkam ihn. Er wartete darauf, erschossen zu werden, und es war ihm plötzlich alles so gleichgültig. Er streckte sich im Schnee aus, breitete die Arme von sich und bot sich dar wie ein Schlachtopfer.

«Komm mit!«sagte die dunkle Stimme über ihm.»Steh auf und komm mit. Nikolai Feodorowitsch soll entscheiden. Steh endlich auf…«

Und wieder taumelte Wallritz durch den Wald. Er wurde sogar gestützt, als ihn die Kräfte verließen. Und er begriff das Wunder nicht, daß er noch lebte.

Gefreiter Hans Schmidtke, genannt Knösel, war von Gumrak nach Stalingrad-Stadt geschickt worden. Mit drei Sankas fuhr er los, um aus den vorgeschobenen Verbandplätzen, wie man die überfüllten Sanitätskeller nannte, die Schwerverwundeten abzuholen und in das Feldlazarett Gumrak zu transportieren. Ein Feldwebel leitete den Transport. Knösel fuhr den Sanka Nr. 3.

Westlich des >Tennisschlägers<, jener hart umkämpften Eisenbahnschleife mitten in Stalingrad, die noch immer im Besitz der Sowjets war und die Major Jewgenij Alexandrowitsch Kubowsld so heldenhaft verteidigte, erzählte man ihm von dem russischen Stoßtruppunternehmen, das einer ganzen Batterie das Leben gekostet habe. Nur vier Verwundete lagen noch in einem Keller der Fabrik und warteten auf den Abtransport. Man hatte sie nicht zur Sammelstelle bringen können, weil die Straßen ständig unter Artillerie- und Granatwerferfeuer lagen. Drei Sanitäter waren in dieser Feuerglocke schon zerfetzt worden.

Der Feldwebel aus Gumrak kratzte sich den Kopf und hob die Schultern.»Das sind vier Mann, Jungs… und vierhundert warten hier! Da kann man nichts machen. Vielleicht beim nächstenmal… wenn wir dann noch durchkommen! Die Scheiße dampft nämlich gewaltig!«

Außer den vier Verwundeten im Fabrikkeller aber hatte Knösel noch eine andere Nachricht erhalten, die ihm weit wichtiger erschien. Die Artillerie-Batterie, die der sowjetische Stoßtrupp vernichtet hatte, war eine bespannte Batterie gewesen. Bespannt heißt aber, daß da, wo die Protzen standen, auch Pferde sein mußten. Pferde wiederum waren Fleisch, und Fleisch war etwas, was man in Gumrak nur einmal in der Woche kannte und dann nur als Bröckchen in einer wasserhellen Suppe.

Während die drei Sankas im Schutz eines Trümmerbergs auf die Nacht warteten, um dann langsam mit den Verwundeten über die vom Schneesturm glattgefegte Steppe zurück nach Gumrak zu fahren, machte sich Knösel auf, die Protzen der vernichteten Batterie zu suchen. Es war eine klare Nacht, mit einem eiskalten Sternenhimmel und einem Mond, der aussah, als friere er.

Langsam ging Knösel durch die Trümmerwüste der Stadt. Zuerst war ihm die Gegend fremd, aber dann kam er in das Viertel, in dem er jeden Laufgraben kannte, jeden zum Bunker ausgebauten Keller, jedes zerborstene Haus, das jetzt noch mehr zerfetzt war oder nur noch aus einem Berg bizarrer Trümmer bestand.

Ein paarmal wurde er angerufen.»Leckt mich am Arsch!«schrie er dann zurück. Das war besser als jede Parole und wurde auch sofort von den Wachen verstanden. Nur einer antwortete auf die Aufforderung mit dem Satz:»Auch davon wird man nicht satt!«

Knösel tappte weiter. Als er MG-Feuer erhielt, verlegte er sich aufs Kriechen und Robben, schlängelte sich über Steine und Balken und vermied alle offenen Stellen oder freie Straßenüberquerungen. In der Ruine einer Großbäckerei traf er auf einen deutschen Spähtrupp. Die Männer saßen zwischen meterhohen Schutthalden und rauchten aus hohler Hand.

«Jungs, wo ist die Batterie hops gegangen?«fragte Knösel.»Da sollen noch Verwundete liegen.«

Der junge Fähnrich, der den Spähtrupp führte, zeigte mit dem Daumen in die Trümmer.»Dort irgendwo. Aber bleib hier… dort drüben ist eine windige Ecke. Weiß der Teufel, warum.«

Knösel kroch weiter. Er kam in den Fabrikhof mit den zerfetzten Geschützen und den herumliegenden Leichen. Und er hörte irgendwo ein Wiehern, ein hungriges Pferdeschreien, langgezogen und in die Knochen fahrend.

Aha, dachte er. Eines lebt wenigstens noch. Wieder bellten ein paar Granatwerfer los… es waren gezielte Schüsse, eigens für

Knösel abgefeuert. Er warf sich in ein Loch und verschnaufte. Irgendwo muß hier ein guter Beobachter sitzen, dachte er und hob vorsichtig den Kopf. Hausfassaden umgaben ihn, halbierte Wohnblocks, niedergebrochene Betondecken, Tausende von zerfetzten Armierungsstangen, die wie in den Himmel sich krallende Finger aussahen. Langsam, Meter um Meter, robbte sich Knösel weiter. Er erreichte den Eingang zu den Fabrikkellern und stieg hinab. Im sechsten Raum fand er die vier Verwundeten, von denen man auf der Sammelstelle gesprochen hatte. Drei waren inzwischen gestorben, sie lagen auf dem Rücken auf einem Packen fauligem Stroh und starrten an die Decke. Der vierte hatte dieses einsame Sterben abgekürzt. In der Mundhöhle seines zerplatzten Kopfes lag noch die Pistole.

Leise, als könne er die Toten stören, verließ Knösel wieder den Keller und kroch an die Oberfläche. Der Pferdeschrei, der plötzlich aufgellte, riß ihn herum. Er kam aus einer halbzerstörten, langgestreckten Halle, die einmal das Lagerhaus der Fabrik gewesen war.

«Gleich, gleich, mein Liebling«, sagte Knösel und sah sich um. Eine Stelle an einer massiven Betonmauer schien ihm geeignet zu sein, seinen Plan zu verwirklichen. Er machte einen schnellen Versuch… er richtete sich auf und sprang ein paar Meter über den Fabrikhof. Alles blieb still, nur außerhalb des Fabrikareals bellten jetzt die MGs auf. Der Spähtrupp war ausgemacht worden und kam in das Feuer sowjetischer vorgeschobener Sturmgruppen.

Knösel blieb auf dem Fabrikhof stehen wie auf einer Insel, um die das Meer braust. Er fand in Massen das, was er suchte. Eine Hacke, einen Spaten, eine Eisenstange… verstreut lagen die Werkzeuge herum neben den verlassenen, erhaltenen Protzen. Die Werkstatt, die hier gearbeitet hatte, war nach dem Überfall fluchtartig weggestoben. Als wilder Haufen zog sie jetzt irgendwo herum… entweder in der Steppe in Richtung Gumrak oder Wo-roponowo oder durch die Ruinen der Stadt nach Norden, wo man in den riesigen Trümmerwüsten der Werke >Roter Oktober< >Rote Barrikade< oder dem Traktorenwerk >Dsershinski< bessere Oberlebensmöglichkeiten erwartete.

Was Knösel nun begann, zeugte von einem fast prophetischen Weitblick. Er hatte schon einmal einen Rußlandwinter überlebt, damals, in der Steppe vor Moskau. Zwar hatte Knösel keine Erfrierungen abbekommen, aber jene Wochen im Eiswind und

Schneesturm waren unvergeßlich und eine Warnung. Und so tat Knösel jetzt etwas, was in seiner Situation als Blödsinn gelten konnte: Er legte einen Eisschrank an!

Einen schönen großen Eisschrank. Zuerst grub er ein Loch in die Erde, das er mit Schnee auslegte; dann hackte er Eiszapfen von den zerborstenen Dächern und Wänden, grub quadratische Schneewürfel aus, machte aus Holzstücken ein kleines Feuer, schmolz in einem verbeulten Kessel Schnee zu Wasser, übergoß damit die Würfel und fabrizierte so Eisbrocken. Dann erst begab er sich in die Lagerhalle und fand das schreiende Pferd in einer halb vom Schnee zugewehten Ecke. Es lag auf den Knien und scheuerte den Kopf an der vereisten Betonwand. Als es den Menschen sah, schwieg es und schaute ihn aus großen, starren Augen an. Knösel holte die 08 aus der Tasche und schob mit dem Daumen den Sicherungsflügel herum.

«Es ist gleich vorbei, mein Liebling«, sagte er und nickte dem Pferd zu.»Es ist schon eine Bande, diese Menschen…«

Der Schuß hallte in der leeren Halle wider, als sei es ein Granateinschlag. Knösel ging in Deckung und wartete. Aber niemand kam. Nur von draußen hämmerten noch die MGs. Was bedeutete da ein einzelner Schuß irgendwo in den Trümmern?

Über zwei Stunden arbeitete Knösel. Er schwitzte, hatte sich den Mantel und die Jacke ausgezogen und schleppte Stück um Stück des Pferdes in seinen Eisschrank. Er schichtete das Fleisch lagenweise aufeinander, schaufelte zwischen jede Lage eine Schicht Eis, umpackte dann alles mit Eisbrocken, schippte Schnee darüber und klopfte ihn mit dem Spaten glatt. Eine kleine Pyramide wuchs an der Mauer hoch, in deren Innerem keiner über einen Zentner frisches Fleisch vermutete.

«So«, sagte Knösel, als er fertig war, und warf den Spaten weg.»Jetzt drei Tage harter Frost, und wir haben das beste Kühlhaus.«

Ungefähr dreißig Pfund Fleisch — eine ausgetrennte Hüfte — packte er in einen Sack und warf ihn über die Schulter. So kroch er aus der Fabrik zurück in die Feuerlinie und keuchte den Weg zurück zur Sammelstelle der Verwundeten.

Nach etwa zweihundert Metern machte er Rast, warf den Sack von sich und legte sich ächzend und außer Atem auf eine halb zugeschüttete Kellertreppe. Über ihm pendelten einige Leuchtkugeln.

Sie galten jetzt ihm… die sowjetischen Posten hatten die Bewegung in den Trümmern bemerkt.

Sonst war es merkwürdig still in der Geisterstadt. Nur die lautlosen Leuchtkugeln an kleinen Fallschirmen verbreiteten ein phosphoreszierendes Licht. Knösel drückte sich gegen die Stufen. Sie liegen auf der Lauer, dachte er. Irgendwo dort in den Trümmern liegen sie und warten, daß ich herauskomme. Scharfschützen aus Sibirien und Turkmenien, die Augen an die Zielfernrohre gepreßt. Es gab nur eine Möglichkeit, weiterzukommen… die wenigen Augenblicke zwischen dem Verlöschen der Leuchtkugeln und dem Abschuß der neuen. Es waren nur ein paar Sprünge, aber mit ihnen konnte man ins Leben springen.

Knösel lag still und wartete, starrte nach oben und dachte an seinen Eisschrank. In diese Stille hörte er plötzlich Klopfen. Rhythmisch, schwach, Stein auf Stein gehauen… tack-tack-tack… tack-tack… tack-tack-tack-tack… Pause… tack-ta…

Steil setzte sich Knösel auf und lauschte. Das Geräusch war verstummt. Aber als er sich wieder schutzsuchend auf die Kellerstufen legte, hörte er es wieder. Tack-tack-tack…

«Verdammt!«sagte Knösel laut.»Da unten im Keller sind welche! Himmel, Arsch und Zwirn!«

Er nahm einen Stein und klopfte auf die Stufen. Deutlich kam Antwort… auf dreimaliges schnelles Klopfen erfolgte die ebenso schnelle Bestätigung. Knösel rutschte die Treppe hinab, bis er vor den verschütteten Eingang kam. Ein Teil der Kellerdecke war ein-

febrochen und hatte sich vor die Kellertür gelegt. Noch einmal ieb Knösel mit einem dicken Stein gegen das Geröll, und wieder vernahm er die Antwort jenseits der Wand.

Fast hilflos stand Knösel dem Geröll gegenüber. Träger, Beton, Mauerreste, Balken, Schutt, und darunter in einem Keller Menschen, lebendig begraben.

Es gab keine Wahl, er mußte den Schutt mit seinen Händen wegräumen. Hilfe zu holen war unmöglich. Neue Leuchtkugeln pendelten über ihm; ab und zu jagte ein Feuerstoß über das Gelände, eine freundliche Mahnung, nicht den Kopf hochzuheben.

Wieder klopfte es, im Inneren des Kellers polterte es. Aha, dachte Knösel, jetzt räumen sie auch mit. Er zog seinen Mantel aus und warf ihn hinaus zum Kellereinstieg. Kaum flatterte der Mantel durch die Luft, bellten ringsherum die Gewehre auf und rissen Löcher in den Stoff.

«Die schießen wie die Teufel!«sagte Knösel laut. Mehr zu denken, hatte er keine Zeit Daß er in einer Falle saß, wußte er. Wie er sie jemals verlassen sollte, war ein noch fernes Problem. Jetzt ging es erst einmal darum, den Keller aufzubrechen und die Verschütteten zu befreien.

Bis zum Morgengrauen arbeitete er, trug Steine weg, unterhöhlte die herabgestürzte, in der Stahlmatte hängende Decke, legte sich erschöpft für ein paar Minuten auf die Stufen und aß Schnee, dann klopfte er wieder, bekam Antwort und grub weiter. Stunde um Stunde. Bis der Morgen kam.

Der neue Tag begann mit Schneefall. Vor den klaren Sternenhimmel zog sich langsam wie ein grausamtener Vorhang eine Wolkendecke. Schnee aus Kasachstan. Als die ersten Rocken fielen, rannte Knösel mit einem Balken die letzten Trümmer um… sie krachten in das Innere des Kellers und gaben ein Loch frei, durch das sich ein Mensch zwängen konnte.

Knösel lehnte sich stöhnend gegen die Treppenwand und wischte sich den Schweiß vom Gesicht. Ein Mensch kroch durch das Loch ins Freie, als Knösel die Hand zurückzog und an seine Taschen klopfte, um die völlig zerdrückte Zigarettenschachtel zu finden. Statt zu den Zigaretten fuhr sie zur Pistole. Aus dem Keller kroch ein Russe. Staubbedeckt, an der Stirn blutend von herabfallenden Steinen, die ihn getroffen hatten.

Iwan Iwano witsch Kaljonin breitete die Arme aus, als er in der Freiheit stand. Er fing mit beiden Händen ein paar Schneeflocken auf und preßte sie gegen seinen Mund, als küsse er sie. Dann hob er den Kopf zu dem noch immer keuchenden Knösel und lächelte ihm zu.

«Spassibo«, sagte er (Danke).»Balschoi spassibo…«(Vielen Dank). Er streckte Knösel die Hand entgegen.»Du… moi drug…«(Du, mein Freund).

«Das ist ’n Ding«, sagte Knösel, setzte sich auf die Kellerstufe und legte die 08 auf die Knie,»’n Iwan hol’ ich ’raus! Sind vielleicht noch mehr da unten?«

«Njet!«

«Ach, du verstehst mich?«

«Wännigg deutsch. «Kaljonin kam näher und setzte sich neben Knösel. Er holte aus seiner Tasche eine Packung Papyrossi und hielt sie Knösel hin.»Du rauchen…?«

«Danke.«

Kaljonin grinste verlegen.»Ich gefangen!«

«Scheiße!«sagte Knösel ehrlich. Er stieß den Rauch gegen die Schneeflocken und zog seinen Mantel herunter, um ihn über Kopf und Schultern zu ziehen.»Was nun? Die sind mit den Sankas längst weg…«

«Wärr wegg?«

«Die Kameraden, Iwan!«

«Ich Kaljonin. Iwan Iwanowitsch.«

«Na siehste, wie ich richtig liege! Wir müssen uns jetzt hier häuslich niederlassen bis zur Nacht. Du kannst ja zwar weg, aber wenn schon, dann leistest du mir Gesellschaft… Haste Hunger?«

«Hungär? Tak…«Kaljonin nickte. Er griff wieder in die Taschen seines Mantels und holte zwei alte, verbogene Scheiben Brot heraus

«Bittää…«

Knösel sah auf die harten Brotstücke.»Och, nichts zu fressen an der Wolga, was?«sagte er. Sein Gesicht erhellte sich etwas.»Aber Knösel hat was, Iwan! Heute ist Feiertag für Onkels Neffe! Paß mal auf, aber halt de Augen fest, daß se nicht 'rausfallen!«

Er kroch nach oben, zog einen Sack herunter und löste die Verschnürung. Das angefrorene Pferdefleisch quoll blutrot hervor. Kaljonin klopfte Knösel auf die Schulter.

«Gutt! Sähr gutt, Kamerad…«

«Und wie gut, mein Junge! Los, friß dich satt!«

Kaljonin sah Knösel fragend an. Dann nahm er ein Klappmesser aus der Tasche, faßte das Fleisch an einem Zipfel und begann, ganz dünne Scheiben abzuschaben. Mit dem Ärmel wischte er ein Stück Holz sauber vom Staub, legte die Fleischläppchen darauf und zerhackte sie mit schnellen Klingenschlägen. Knösel kratzte sich den Kopf.

«Das ist gut«, sagte er.»Gehacktes aus Schabefleisch. Iwan, das machen se im Exzelsior nich besser!«

Kaljonin wies mit der Messerspitze auf das Häufchen Fleisch.»Nimm, Kamerad…«

Sie aßen auf diese Art fast jeder ein Pfund Fleisch. Dann saßen sie satt auf der Kellertreppe und starrten durch die Trümmer. Es hatte aufgehört zu schneien. Vom >Tennisschläger< her bellten Geschütze auf, eine Rotte Sturzkampfbomber zog über die Stadt zum Wolgaufer. Irgendwo fielen Trümmer um wie zusammenbrechende Urwelttiere.

Kaljonin stieß Knösel an, der stumm rauchte.»Warum, Kame rad?«-

«Was warum?«

«Kriegg…«

«Frag deinen Stalin, Iwan.«

«Oder Hitlär!«

«Du Frau?«

«Nein. Du?«

«Ja. Ganz neu…«Kaljonin sah wieder in die Trümmer. Veraschka, dachte er. Wo mag sie jetzt sein? Sie werden gesagt haben: Der Iwan Iwanowitsch ist tot. Seit vier Tagen verschollen in der Stadt. Oh, der kommt nicht wieder. Weine nur, kleines Frauchen Veranja… Iwan Iwanowitsch war ein Held. Und sie wird bei ihrem Großväterchen sitzen, dem etwas einfältigen Greis Abranow, und sie wird sagen: Warum mußte Iwan Iwanowitsch ein Held sein und nicht der Vater meiner Kinder? Und weinen wird sie, die kleine Veraschka. Ganz rote Augen wird sie haben, wie ein Siamkätzchen.

Kaljonin seufzte tief. Knösel sah ihn von der Seite an.»Ich würd’ ja sagen: Hau ab… wenn ich wüßte, wie ich hier ’rauskomme!«

Kaljonin verstand ihn nicht. Er seufzte noch ein paarmal bei dem Gedanken an Vera, dann schlief er ein. Sein Kopf sank gegen die Schulter Knösels; wenig später schnarchte er sogar. Erst als der Abend dämmerte, wachte er auf und weckte Knösel, der neben ihm lag.

Mit einem Ruck setzte sich Knösel auf und griff zur Pistole. Sie war noch da, und als er Kaljonin ansah, schüttelte dieser den Kopf.

«Du… mein Freund«, sagte der Russe.»Kein Krieg zwischen uns… Lab wohlll…«

«Du willst abhauen?«

«Lab wohlll«, sagte Kaljonin noch einmal. Er hatte sein Taschentuch an ein Stück Holz gebunden und hob diese kleine Fahne nun aus dem Kellereingang hinaus.»Lauf, Kamerad…«

«Sie werden mich wie einen Hasen umknallen.«

«Nix schießen! Lauf.«

Irgendwo bellten ein paar Schüsse auf. Knösel riß Kaljonin zurück.»Mensch, wenn dich unsere Spähtrupps sehen!«

«Du gähen hier an Straße entlang…«Kaljonin zeigte durch die Trümmer.

«Und du?«

«Ich dorthin. «Er zeigte in die Richtung >Tennisschläger<, wo die Trümmer wieder durcheinandergewirbelt wurden.

«Willst du nicht mitkommen, Iwan?«

«Nein. Wir Siegär! Aber du? Mitkommen?«

Knösel schüttelte den Kopf.»Nein, Iwan.«

«Warum nicht? Krieg für Deutschland kaputt…«

«Vielleicht. «Knösel zog seinen Mantel an und warf den Sack mit dem Pferdefleisch über den Rücken.»Das ist so komisch mit uns, Iwan… wir machen weiter, auch wenn's in die Hosen geht! Jetzt frag bloß nicht, warum! Ich weiß es auch nicht… vielleicht haben wir 'ne Schraube weniger im Gehirn?! Mach's noch gut, Kumpel Ruski…«

«Viel Glück!«Kaljonin hob wieder seine kleine weiße Fahne hoch. Dann schob er sich aus der Deckung und ging aufrecht durch die Trümmer auf die russischen Scharf schützen zu. Dabei schwenkte er sein Taschentuch an der Dachlatte und rief laute Worte.

Unter seinem Schutz kroch Knösel zurück zu den deutschen Kellerstellungen. Nur einmal wurde er beschossen, aber die zwei Treffer schlugen in das Pferdefleisch ein und blieben dort stecken. Fast hundert Meter aber mußte er schutzlos rennen und robben, dann erreichte er einen Laufgraben und fiel neben einem MGStand kopfüber in die deutsche Stellung.

Die drei MG-Wachen halfen Knösel auf die Beine und taten dann etwas, was Knösel das Gefühl gab, zu Hause zu sein. Sie schrien ihn an:»Du Vollidiot! Du Dünnscheißer!«, traten ihn mehrmals in den Hintern und schlugen ihm auf den Stahlhelm.»Latscht der Kerl da quickvergnügt durch die Schußlinie!«brüllte ein Feldwebel.»Im letzten Moment sehen wir, daß das ein deutscher Idiot ist! Sie melden sich sofort beim Kompaniechef. Dort hinten, wo das Brett hängt! Los, Mann… Sie faule Pflaume!«

Knösel schwieg. Er rannte durch den Laufgraben davon, vorbei am Kompaniebunker, durch Quergräben und verlassene Kriechmulden, um Häuser herum und über Straßen, bis er aufrecht gehen konnte und die ersten qualmenden Schornsteine der Trosse, Werkstätten, Feldküchen und Stäbe sah. Er näherte sich dem Rand der Stadt, dem Gewirr der zerschossenen Straßenbahnen, Lastwagen und Panzerruinen, zwischen denen die technischen Truppen sich eingerichtet hatten, unter ihnen auch die Bäckerkompanie, die seit zwei Tagen begonnen hatte, Brot unter zwanzigprozentiger Beimischung von Sägemehl zu backen.

Während Knösel zwei Pfund Fleisch gegen drei noch heiße Brote tauschte, schrieb in seinem Lazarettzelt in Gumrak Stabsarzt Dr. Portner seine Tagesmeldung.

>Einlieferungen: 472 Mann.

Todesfälle: 294 Mann.

Ausgeflogen: 47 Mann.

Aus der Lazarettbelegschaft: 1 Mann bei Verwundetentransport aus Stalingrad nach Gumrak vermißt. Name: Hans Schmidtke, Gefreiter, geb. 14. 9. 1917. Stammrollen-Nummer…<

«Ich habe das Gefühl, er lebt, Herr Stabsarzt«, sagte Dr. Körner, als er die Meldung Portners durchlas. Der Stabsarzt schüttelte den Kopf.

«Glauben Sie, Knösel geht aus Vergnügen in den Trümmern spazieren oder sucht seinen dämlichen Elefanten? Ich habe Feldwebel Baltus eingehend verhört: Knösel hat sich heimlich entfernt und ist seitdem verschollen! Wenn es nicht Knösel wäre, würde ich sogar schreiben: Verdacht des Oberlaufens zum Gegner…«

«Ich habe ein merkwürdiges Gefühl, Herr Stabsarzt.«

Dr. Portner sah seinen Assistenzarzt groß an.»Hunger haben Sie, Körner. Und vielleicht im Inneren so etwas wie das Gefühl der Ausweglosigkeit. Im Volksmund nennt man es >Das arme Tier<. Das haben wir alle, Körner!«Er faltete die Meldung zusammen und reichte sie Dr. Körner über den Tisch.»Lassen Sie das nachher mit dem nächsten Schub der Ausflieg-Verwunde-ten zum Divisionsarzt bringen.«

Dr. Körner nickte. Er verließ das OP-Zelt und stapfte durch den Schnee zu seinem Verbandzelt. Dort arbeiteten Horst Wallritz und sechs Sanitäter und wechselten die Verbände der Gehfähigen. In langer Schlange standen sie vor dem Zelt in der eisigen Luft. Ein Feldwebel der Feldgendarmerie >regelte den Verkehr<. Er hieß Emil Rottmann und hatte sich bei Dr. Portner gemeldet mit dem

Hinweis, daß er abgestellt sei, für die äußere Ordnung des Feldlazaretts III zu sorgen.

Niemand fragte ihn, woher der Befehl dazu gekommen sei. Es wurden in diesen Tagen so viele sinnlose Befehle gegeben und auch ausgeführt, daß es auf einen unsinnigen mehr oder weniger nicht ankam. Dr. Portner hatte nur genickt und geantwortet:»Na denn… richten Sie von mir aus Einbahnstraßen zwischen den Zelten ein. Nur wenn Sie uns behindern, gibt's Krach!«

Emil Rottmann hielt sich streng daran. Er hatte gar nicht die Absicht, zu behindern. Er wollte nur in der Nähe von Wallritz und Dr. Körner sein, in der Nähe des >Lebensbilletts<, das er von ihnen erwartete, wenn es an der Zeit war.

In der Nacht zum 18. Dezember 1942 erhielt das Feldlazarett III den Befehl, die Zelte in Gumrak abzubauen und wieder in die Stadt zurückzukehren. Von allen Seiten wurde der Kessel um Stalingrad — 63 km lang und 38 km breit — eingedrückt. Sowjetische Panzer tauchten plötzlich in Dörfern mitten im Kessel auf, walzten alles nieder und verschwanden wie Schemen im Schneenebel. Eine feste Verteidigungslinie war unmöglich geworden. Durch die breiten Lücken zwischen den einzelnen Divisionen und Regimentern sickerten russische Truppen ein und vernichteten im Kleinkampf die ausgemergelten, übermüdeten, erschöpften, hungernden und frierenden Kompanien.

Alle Ausbruchsversuche waren vom Führerhauptquartier verboten worden. Sie wären jetzt auch sinnlos gewesen, denn die nächsten deutschen Divisionen außerhalb des Kessels standen erst am Tschir, bei Werchne-Tschirskaja oder tief im Süden bei Pot-jomkinskaja. Um sie zu erreichen und die Front der Umklammerung zu durchstoßen, fehlte es an Benzin, Munition, Verpflegung, Kraft, Mut, Fahrzeugen, eben an allem. Es gab nur noch eins: Warten auf ein Wunder. Warten auf den Tod. Warten auf etwas, was man nicht aussprechen kann, weil es Gott beleidigen würde.

Generalarzt Professor Dr. Abendroth hatte die Chefs der Feldlazarette nach Pitomnik bestellt. Hier war die Lage ebenfalls verzweifelt, weil hier fast dreißigtausend Verwundete lagen, die auf einen Ausflug hofften, verpflegt werden mußten und von denen jeder wußte, daß sie einmal elend in Schnee und Eis krepieren würden, wenn das erhoffte Wunder nicht eintrat und sie nicht von deutschen Flugzeugen abgeholt würden.

«Lieber Portner«, sagte Professor Dr. Abendroth zu seinem ehemaligen Schüler,»sehen Sie mich nicht so strafend an. Ich habe den Krieg nicht gewollt, und geführt habe ich ihn noch viel weniger! Wenn Sie wüßten, wieviel Notschreie ich täglich zur Heeresgruppe funke, Schreie um Flugzeuge, um Medikamente, Verbandmaterial, Instrumente, Verpflegung… und wie schrecklich das Echo ist… >Wir tun, was wir können… wir tun, was wir können…<, und es kommt nichts! Gar nichts! Ein paar Kisten vielleicht… ein Viertelmeter Binden für jeden Verwundeten, wenn wir es aufteilen!«

Er beugte sich über einen Stadtplan und legte den Finger auf eine Stelle, an der im Straßengewirr ein kleines rotes Kreuz gezeichnet war.

«Hier, Portner. Hier war einmal ein Lazarettkeller. Unter einem Kino.«

«Ich kenne die Gegend, Herr Generalarzt. «Dr. Portner beugte sich auch über die Karte.»Sechshundert Meter weiter südlich hatte ich meine Sammelstelle.«

«Dort sollen Sie wieder hin, Portner.«

«Wann?«

«Sofort. Man gruppiert um. Statt nach Westen geht es wieder nach Osten. Hinein in die Stadt. Man rechnet mit einem großen Druck aus dem Donbogen und von Beketowka im Süden her. In dieser Zange will man uns zerquetschen. Deshalb soll in der Stadt selbst für alle Fälle eine Verteidigungsfront aufgebaut werden, ein Bunkersystem. Jeder Keller ein Heldennest, Portner! Man ist dabei, der 6. Armee die Gräber zuzuweisen.«

Stabsarzt Dr. Portner schwieg. Was gab es auch noch zu sagen? Professor Abendroth kannte wie er die Tausende von Verwundeten, die unzureichend versorgt in Erdlöchern und Kellern, Zelten und Baracken herumlagen und — erst schreiend und sich auflehnend gegen das Schicksal, später apathisch und von einem schrecklichen Gleichmut — dem langsamen Krepieren entgegensahen.

«Noch etwas, Portner«, sagte Generalarzt Professor Abendroth.»Seit gestern berennt der Russe die Front der 8. italienischen Armee am Don. Zwei deutsche Armeegruppen — die Gruppe Hollidt am Tschir und die Gruppe Hoth im Süden — sind seit zwei Tagen im Angriff, um unseren Kessel zu erreichen. Ihre aufgerissene Flanke im Norden, dort, wo die Sowjets bei den Italienern durchbrechen, wird sie zwingen, die Angriffsspitzen wieder zurückzunehmen. Sie wissen, was das heißt.«

«Ja. «Dr. Portner hob den Blick von der Karte.»Es wird in absehbarer Zeit keine 6. Armee mehr geben.«

«Damit scheint man bei der Armeeführung zu rechnen. «Professor Abendroth straffte sich etwas.»Wie allen Offizieren der 6. Armee habe ich auch Ihnen einen Befehl durchzugeben: Kein Offizier der 6. Armee geht lebend in sowjetische Gefangenschaft. Er hat sich vorher zu erschießen! Auch für den einfachen Mann ist eine Gefangennahme unehrenhaft!«

«Jawohl, Herr Generalarzt. «Dr. Portner stand in strammer Haltung vor seinem alten Professor.»Aber ich bin Arzt!«

«Und Offizier!«

«Wer zeichnet für diesen Befehl verantwortlich?«

«Die Armeeführung.«

«Und Sie; Herr Generalarzt? Das ist eine private Frage.«

«Ich werde morgen ausgeflogen zur Heeresgruppe. Ich will an Ort und Stelle alles versuchen, damit die Truppe im Kessel das Nötigste bekommt. «Professor Abendroth verlor einen Augenblick die Haltung. Er legte den Arm um die Schulter seines Schülers, wie ein Vater um seinen Sohn.»Machen Sie's gut, Portner. Das ist alles, was ich Ihnen mitgeben kann. Sie werden sich erschießen?«

«Nein, Herr Generalarzt. Meine gefangenen Kameraden werden mich brauchen. Ich halte nichts von dieser Heldentodgeste. Ich betrachte sie als feiges Davonstehlen aus der Verantwortung.«

Professor Abendroth nahm den Arm von Portners Schulter.

«Gott sei mit Ihnen, mein Junge«, sagte er leise. Er konnte nicht weitersprechen. Es klopfte. Eine Ordonnanz brachte die neuesten Funkmeldungen. Abendroth überflog sie und gab sie an den Stabsarzt weiter.»Da, lesen Sie. Einbruch bei der 8. italienischen Armee auf breiter Front. Und ein Funkspruch des Reichsmarschalls Göring an General Paulus: >Ich habe den Befehl gegeben, alle entbehrlichen Maschinen zur Versorgung Stalingrads einzusetzen. Dazu gehört auch die OKH-Transport-Staffel. In zunehmend stärkerem Maße werden laufend Maschinen von der Afrikafront abgezogen und für die Versorgung des Kessels eingesetzt. Halten Sie durch…<«Professor Abendroth ließ die Meldung sinken.

«Dann kann man also doch Hoffnung haben?«fragte Dr. Port-ner. Ein Schimmer von Freude kam in seine Augen. Professor Abendroth war geneigt, seinem Schüler wie einem gutgläubigen Kind über die Wangen zu streicheln. Er nahm ein anderes Meldeblatt und las kommentarlos weiter:

Funkspruch der 6. Armee an die Luftflotte Tschir: Trotz herrlichstem Wetter und strahlendem Sonnenschein erfolgte am 17. Dezember nicht die Landung eines einzigen Flugzeuges. Die Armee ersucht um Aufklärung, warum nicht geflogen wird. Schmidt.

Dr. Portner starrte seinen Professor an.»Der siebzehnte Dezember ist heute…«

«Ja. Sehen Sie aus dem Fenster, Portner. Sehen Sie eine Maschine landen oder abfliegen? Aber wir brauchen täglich dreihundert Tonnen Material, um überhaupt leben zu können!«Professor Abendroth warf die Meldungen auf den Kartentisch. Es war eine Geste völliger Verzweiflung und aufschreiender Ohnmacht.»Vielleicht sehen wir uns einmal wieder, Portner«, sagte er leise.

«Vielleicht, Herr Professor…«

Noch einmal drückten sie sich die Hand. Dann verließ Stabsarzt Dr. Portner das Zimmer. Im Vorraum warteten 42 andere Militärärzte. Zu ihnen wollte Abendroth gemeinsam sprechen. Ein älterer Oberstabsarzt kam auf Portner zu, kaum daß er die Tür hinter sich zugezogen hatte.

«Dicke Luft, was?«fragte der Oberstabsarzt.

«Ja. Wir werden zurück in die Stadt verlegt.«

«Wenn’s weiter nichts ist!«Der Oberstabsarzt winkte ab.»Immer noch besser in einem ausgebauten Keller, als hier in der Steppe herumzuliegen und die Zelte im Sturm festzuhalten! Ich habe mehr Verluste an Erschöpfung, Kälte und Panik als an tödlichen Verwundungen…«

Generalarzt Professor Abendroth hatte gewartet, bis Portner das Zimmer verlassen hatte. Erst dann nahm er das dritte Blatt vom Tisch und las die Meldung durch. Er hatte es nicht übers Herz gebracht, Portner auch diesen Funkspruch vorzulesen.

Funkspruch 6. Armee an Heeresgruppe Don: Die Armee meldet, daß die Lage im Westen des Kessels besonders kritisch ist. Mangels Holz besteht keine Möglichkeit zum Ausbau von Stellungen und mangels Kraftstoff keine Möglichkeit, nach dorthin Baumaterial aus Stalingrad zu transportieren. Die Truppe liegt bei _fünfunddreißig Grad Kälte auf _freiem, völlig ungedecktem Schneefeld.

Zum erstenmal geschah es in diesen Tagen, daß man hölzerne Eisenbahnschwellen herausriß, sie raspelte und davon eine Suppe kochte und daß in einem Keller der Stadt ein großer eiserner Kessel zischte, in dessen Wasser zwei Pferdehufe ausgekocht wurden. Sie ergaben eine trübe, aber etwas fettige Brühe und wurden zu einem Festessen.

In der Nacht zum 19. Dezember fuhr das Feldlazarett III mit vier Sankas, zwei Motorrädern, einem Kübelwagen und zwei Lastwagen aus Gumrak hinaus in die Steppe, Richtung StalingradStadt. Zurück blieben die Zelte und die Verwundeten, die von einer anderen Lazaretteinheit übernommen wurden. Die kleine Karawane folgte der Bahnlinie bis zum Tatarenwall und zog dann durch die Steppe nach Süden, der Zariza entgegen. Auf einem Krad fuhr der Feldgendarmerie-Feldwebel Emil Rottmann dem Lazarett voraus, erkundete den Weg und sorgte dafür, daß keine Stockungen auftraten durch zurückfahrende Transporter oder Truppenkolonnen. Er machte sich nützlich, und keiner fragte, wer ihm dazu den Befehl gegeben hatte. Er war >zugeteilt< und wurde als solcher auch im Verpflegungsbuch geführt.

Am Tatarenwall fand ein unverhofftes Wiedersehen statt.

Bei der Durchfahrt durch ein neuentstandenes Dorf aus Erdbunkern, Zelten und Hütten, das eine Werkstattkompanie errichtet hatte, sprang plötzlich ein Mann auf die Straße und breitete die Arme weit aus.

«Jungs!«brüllte der Mann.»Ihr kommt mir entgegen? Das finde ich nett…«

Dr. Körner sah seinen Stabsarzt lachend an. Sie saßen in dem Kübelwagen, der plötzlich bremsen mußte, weil der Mann auf die Straße gesprungen war.

«Unser Knösel«, sagte er. Dr. Portner sprang aus dem Wagen.»Den mache ich zur Minna!«schrie er.»Den mache ich…«

Aber dann schwieg er, denn Knösel hielt ihm den Sack entgegen und sagte mit naivem Grinsen:

«Dreißig Pfund Fleisch, Herr Stabsarzt. So was kann man doch nicht liegenlassen…«

Beim Morgengrauen erreichten sie die Vorstädte Stalingrads und die zugewiesenen Plätze, an denen die Sankas und Lastwagen zurückblieben. Mit dem Kübelwagen und den Motorrädern fuhren sie in die Trümmerwüste hinein… zwei Ärzte, zwei Sanitätsfeldwebel, vier Sanitäter, Knösel und Emil Rottmann. Ohne Beschuß erreichten sie den ehemals runden Platz, an dem das große Kino gestanden hatte. Sie wurden schon erwartet. Das Kellergewirr unter dem Kino war bereits belegt. Neunundsechzig Verwundete waren hier zusammengetragen worden, ein junger Unterarzt versorgte sie, so gut es ihm seine Mittel erlaubten. Und er hatte nichts als ein paar Binden und Holzstangen als Notschienen. Und eine Kiste. Flugzeuge hatten sie abgeworfen. Lazarettmaterial, stand auf dem Deckel. Und ein großes Rotes Kreuz. Als er die Küste aufstemmte, fielen ihm Bücher entgegen. 1200 Hefte mit Weihnachtsliedern…

In den Wäldern südlich von Bolschoi Ternowskij hauste die Partisanengruppe des Majors Nikolai Feodorowitsch Babkow. Mitten in der verfilzten Wildnis hatte sich eine kleine Stadt aus Erdbunkern und Holzhütten gebildet. Über 2000 Partisanen lebten hier, zum Teil mit ihren Familien, mit Frauen, Kindern und Greisen. Vier Postenketten sicherten das Erdhöhlendorf vor Überraschungen… von der Luft aus war es überhaupt nicht zu sehen. Gekocht wurde nur des Nachts, wenn man den Rauch nicht sah. Ihre Befehle erhielt die Gruppe direkt vom Kommandeur der sowjetischen Donfront, dem Generalleutnant Rokossowski und dem Befehlshaber der sowjetischen 5. Panzerarmee, Generalleutnant Romanenko. Ihre Aufgabe war es, den Nachschub für das 48. deutsche Panzerkorps zu stören, jenes durch Hunger, Kälte und Spritmangel zusammengeschrumpfte Korps, das als Feuerwehr an der Front diente und hin und her geworfen wurde, wo der Russe durchbrach, bis es selbst, von sich widersprechenden Befehlen herumgejagt, fast aufgerieben wurde.

Major Babkow saß an einem Klapptisch, trank heißen Tee und aß warmen Kuchen, als der Gefangene Sigbart Wallritz hereingeführt wurde. Man hatte ihm die Augen verbunden, damit er den Weg zu der Geisterstadt unter der Erde nicht sah.

Nikolai Feodorowitsch sah wütend auf die kleine Gruppe, die den Deutschen in die Mitte des Raumes stellte und ihm die Augenbinde abnahm.

«Was soll's?«fragte Babkow.»Welch eine Blödheit! Habe ich nicht gesagt — «

«Es ist kein üblicher Gefangener, Genosse Major«, antwortete der Mann, der Wallritz verhört hatte.»Er ist ein Deserteur!«

«Er ist ein Deutscher, das genügt!«Babkow hob die Hand und zeigte mit ausgestrecktem Finger auf Wallritz. In mühsamem Deutsch sagte er:»Du erschossen. Verstanden?«

«Ja. «Wallritz nickte. Die Kehle zog sich ihm zusammen.»Aber warum? Warum? Ich hasse den Krieg wie ihr…«

Major Babkow winkte. Wallritz wurde herumgerissen und aus dem Raum geführt. Man führte ihn in ein Erdlodi, stieß ihn hinab, er fiel auf verfaulten Kohl, eine stinkende, breiige Masse, dann schloß sich über ihm die Tür.

So lag er Stunden um Stunden, dachte an seine Mutter, weinte und betete. Als die Tür über ihm wieder geöffnet wurde, war er bereit, zu sterben.

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