Die Pannarewskaja blieb verschwunden. Dr. Körner verstand es nicht und wurde wortkarg und apathisch. Dr. Sukow schwieg. Nur ab und zu sah man ihn unruhig auf der Kellertreppe stehen und hinüber zu den sowjetischen Stellungen starren. Seit dem Weggang der Pannarewskaja wurde er bewacht. Es ließ ihn gleichgültig, ob immer ein deutscher Soldat hinter ihm stand. Er hatte nicht die Absicht, zu flüchten. Im Keller lag Oberst Sabotkin, ein >Held der Nation<. Bei ihm mußte er bleiben. Daß es nur noch kurze Zeit sein würde, war ihm klar; er sah, wie sich eine Armee auflöste, wie sie Stück um Stück verfaulte. Es war selbst für einen Mann wie Sukow ein grauenhafter Anblick.
Der Kessel war weiter eingedrückt worden. Noch gab es den Flugplatz Gumrak, aber die sowjetischen Panzer standen nahe davor. Es war eine Frist von Stunden, bis auch dieser letzte Flugplatz verlorenging. Mit ihm ging das letzte Auge des Himmels verloren. Von da ab würde selbst Gott blind sein.
170 000 deutsche Soldaten, der Rest von 330 000, krallten sich in die Eissteppe, in die Trümmer der Dörfer und Vororte, in die Hänge des Tatarenwalles, in die Bahnschwellen bei Stalingrazkij. Sie taumelten in ihren Löchern, sie starrten mit hohlen, fiebernden Augen auf die Kolosse der sowjetischen Panzer, hinter denen die dunklen Menschenwellen der Rotarmisten heranrollten. Und sie Schossen immer noch, sie starben um einen Meter Land, um ein Schneeloch, einen Wall aus Eisklumpen… Warum, das wußten sie nicht. Sie konnten nicht mehr denken. Alles in ihnen war leer… der Magen, der Darm, der Kopf, die Seele… Sie lagen oder standen da in Schnee und Eis und schossen, solange sie Munition hatten… dann krochen sie zurück, wurden niedergewalzt, wie Hasen abgeknallt, verbrannten im zischenden Ölstrahl der Flammenwerfer oder wurden von Stalinorgeln zerfetzt. Und sie schrien nicht einmal dabei… sie starben lautlos, es war ihnen völlig gleichgültig, sie sahen den Tod, sie krochen oder liefen noch ein wenig, aber ihr Inneres war leer, und wenn sie in den Schnee kippten, kam endlich die große, die ewige Ruhe über sie. Durst macht irrsinnig… sie hatten nie Durst gelitten, denn es gab Schnee genug, den man im Munde auftauen konnte… Hunger macht apathisch, und das waren sie, beim Schießen, beim Weglaufen, beim Sterben. So wurde der Hunger zum Freund der Opfer.
Bei einem Inspektionsgang zu seinem Markierungstuch stieß Knösel auf einen anderen deutschen Landser. Er saß an der Mauer des Fabrikhofes und schien zu warten. Die Mütze hatte er wie alle deutschen Soldaten über die Ohren gezogen, die Arme wärmend gegen den Körper gepreßt. Es hatte geschneit, und der Mann hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, den Schnee von sich abzuklopfen.
Knösel blieb vorsichtig am Eingang des Hofes stehen. In Stalingrad gab es nichts, was unmöglich war, und ein Mann, der sich einschneien läßt und doch lebt, ist eine merkwürdige Sache. Knösel entsicherte seine Maschinenpistole und hob sie hoch.
«He, Kumpel!«schrie er aus seiner Deckung heraus.»Ick würd’ mir ’nen wärmeren Platz zum Pennen aussuchen!«
Der deutsche Soldat schreckte auf und hob den Kopf. Er wischte den Schnee von seinem Gesicht und grinste zu Knösel hinüber. Dann stand er auf und kam auf ihn zu. Erst, als er zwei Meter vor Knösel war, erkannte ihn dieser.
«Meine Fresse!«sagte er laut.»Du? In deutscher Uniform?! Biste überjeschnappt?!«
Iwan Iwanowitsch Kaljonin streckte beide Hände aus.
«Isch habbe gewartet. Briederchen… verrat mich nicht.«
Knösel zog Kaljonin hinter seine Deckung. Er war so verblüfft, daß er nach Worten suchte und keine fand. Er sah sich die Uniform an. Sie war im Rücken zerfetzt und blutig. Die Uniform eines Toten.
«Mensch, wat soll det?«stotterte er.
Kaljonin umarmte ihn und küßte ihn wie einen Bruder auf beide Wangen.
«Ich weiß, Veraschka ist bei euch, nicht wahr?«sagte er danach.
«Ja — «
«Briederchen, ich bitte dich… laß mich zu ihr. Verrat mich nicht… Bittää…«
«Du bist total verrückt, Iwan…«Knösel saß ein dicker Kloß im Hals.»Das fällt doch auf…«
«Bittää—«
Kaljonin griff in die Tasche. Als er die Hand wieder ausstreckte, war sie mit Machorkastückchen gefüllt. Knösel schluckte krampfhaft.
«Wir haben nichts zu fressen, Junge«, sagte er heiser.»Bei uns kannste nur verhungern…«
«Laß mich zu Veraschka, Briederchen…«
Kaljonin umklammerte den Arm Knösels. In seinen Augen schrien Angst und unendliche Bitte.»Verrat mich nicht…«
Knösel setzte sich langsam auf einen Mauerrest. Ein Gedanke war ihm gekommen, eine Versicherung zum Leben.
«Hör zu, Iwan«, sagte er und zog Kaljonin zu sich auf den Mauerrest.»Wir zwei sind ’ne Marke für sich! Daß du ’n Iwan bist und ich ’n Germanskij, det is nun wurscht. Menschen sind wir, und bei mir zu Hause wartet Mariechen auf mir. Ick schlag dir ein Geschäft vor… einverstanden?«
Kaljonin nickte und lächelte selig.
«Kriegg kaputt — «, sagte er.»Aber nicht wir…«
«Genau det meine ich. «Knösel legte den Arm um Kaljonins Schulter.»Und nun paß mal uff — «
Bevor er weitersprach, kassierte er erst die Machorkakrümel aus der Hand Kaljonins. Für Iwan Iwanowitsch war damit der Vertrag perfekt geworden, für Knösel war es lediglich eine Anzahlung. Seine große Stunde war gekommen: Er würde Stalingrad überleben.
«Ich nehm dir mit in’n Keller«, sagte er.
«Gutt, Briederchen.«
«Ick saje, du seist ’n alter Kumpel von mir, den ick jerade wiedergetroffen habe. Aus Schlesien, vastehste! Du bist aus Schlesien. Aus Ratibor, wenn dir eener fragt.«
«Ratibor — «, wiederholte Kaljonin und nickte.
«Det is ’ne Stadt. Dat ha’ ick ’nen Onkel wohnen. Onkel Christian… den kennste ooch, wenn dir eener fragt…«
«Onkel Christian…«, wiederholte Kaljonin brav.»Ratibor… Onkel Christian…«
Knösel winkte ab.»Am besten hältste de Schnauze, Kumpel! Det ist am ungefährlichsten. Nur eener kann dir frajen, det ist eener von der Feldpolizei. Der Rottmann. Zu dem sagste schlicht: Leck mir am Arsch! Kannste det?«
«Läck mir…«Kaljonin verzog das Gesicht.»Nix gutt, Brieder chen…«
Knösel wischte sich den Schnee aus dem Gesicht. Er war an den Bartstoppeln zu Kristallen gefroren.»Stell dir doof«, sagte er als letzte Rettung.»Det fällt am wenigsten uff. Det sind se jewohnt… von mir, mußte wissen. Die halten mich nämlich alle für doof!«Knösel grinste und klopfte Kaljonin auf die Schulter.»Mit der Masche bin ick heil herumjekommen, und ick komme auch aus Stalingrad ’raus, wat? Und nun zu uns, Iwan. Ick helfe dir… du hilfst mir.«
«Ja, Briederchen.«
«Wenn die Scheiße hier zu Ende is, denn gehste hin zu deine Jenossen und sagst: Det da is der Knösel, dem tut man nischt. Der kriegt erst mal ’nen Schlag zu fressen…«
Kaljonin nickte und reichte Knösel seine Hand.»Du nix Angst vor Russki…«, sagte er fast feierlich.»Isch dich beschützen, värstandenn?«
«Und wie!«Knösel schlug die Arme gegen seinen Körper, die Kälte drang durch bis zu den Knochen.»Und nu komm, Frie-derich… Ach ja, so heeste jetzt. Sag mal: Friederich.«
Kaljonin versuchte es — es klang kläglich. Er hob bedauernd beide Arme.
«Ich nix sagen…«
«Himmel noch mal! Dann nenn ick dir Peter!«
«Piotr!«sagte Kaljonin stolz.
«Peter, du Dussel!«
«Peter, du Dussel…«, echote es laut.
Knösel sah Kaljonin mit geneigtem Kopf an.»’n bisker doof ist schön«, sagte er.»Aba bei dir habense det Jehirn ausjebla-sen…«Er gab ihm einen Rippenstoß und ließ sich in den Schnee gleiten.»Komm, Peter… wejen deiner Brieder müssen wir jetzt krabbeln.«
So kamen sie im Lazarettkeller an. Aber niemand fragte sie, keiner beachtete den deutschen, zerlumpten Soldaten, dessen Uniform am Rücken zerfetzt und blutdurchtränkt war. Nur ein Sanitäter registrierte mit einem Blick den Neuzugang und fragte im Vorbeigehen:
«Gehfähig?«
Kaljonin nickte hilflos.
«Keller 5. Such dir ’nen Platz…«
Knösel suchte Emil Rottmann, die einzige Gefahr. Er fand ihn an der Wand hockend und schlafend. Kaljonin stand noch immer am Ende der Treppe und starrte in das Gewimmel der eiternden und sterbenden Leiber, in das Gewimmer und Gestöhne, das Schreien und Greinen, auf die aufgequollenen Körper, die über den Steinboden zuckten, auf die beiden Pfarrer, die von Mann zu Mann gingen, niederknieten, beteten, die Hand hielten, die Augen zudrückten, das Kreuz schlugen und weitergingen. Boten Gottes, die in der aufgebrochenen Hölle von Liebe sprachen.
Kaljonin sah ihnen zu, und sein Herz wurde schwer. Er dachte an seine Ausbildung… die Schule mit dem Leninbild und dem eingehämmerten Satz: >Religion ist Opium fürs Volk<, bis sie es alle glaubten und mit nach Hause brachten, wo die Mutter noch immer den Herrgottswinkel mit der Ikone und dem Ewigen Licht schmückte. Die Komsomolzenschule, die Besichtigungen der herrlichen Kirchen und Kathedralen, in denen jetzt Museen waren oder gar — dreimal hatte es Kaljonin gesehen — eine Wodkadestillerie Als der Vater starb — er war ein guter Kommunist geworden und marschierte mit seiner Arbeiterbrigade am 1. Mai und am Oktoberrevolutionstag über den Roten Platz und schrie mit den anderen >Sieg! Sieg!< und >Freundschaft! Freundschaft!< — bekam er ein Parteibegräbnis 1. Klasse. Rote Fahnen, Abschiedsworte, im offenen Sarg, wie es üblich war, trug man ihn durch die Stadt zum Friedhof, bedeckt mit dem Fahnentuch der Partei, Mamaschka nahm noch einmal Abschied und küßte ihn auf die Stirn, Lubja und Katenka, die Klageweiber, heulten wie hungrige Wölfe, dann wurde der Deckel draufgeschraubt und der Sarg in die Grube gesenkt. In der Nacht aber war das zweite Begräbnis des Iwan Gre-gorowitsch Kaljonin. Da stand die Witwe Irena allein mit ihrem Söhnchen Iwan Iwanowitsch am Erdhügel, und ein Pope segnete den Toten ein, wie es seit Jahrhunderten Sitte war bei anständigen Menschen. Das hatte Iwan Iwanowitsch nie vergessen… und jetzt sah er es wieder, als er die deutschen Pfarrer von Mann zu Mann gehen sah, betend und tröstend, denn ein Mensch in dieser Lage hat nichts mehr als seinen Gott…
Knösel kam zurück.»Die Luft ist rein«, sagte er.»Emil pennt. Ick bring dir zu Vera…«
«Veraschka…«Durch Kaljonin lief ein Zittern. Knösel faßte ihn am Arm.
«Nu beherrsch dir, Iwan…«, sagte er dumpf.»Laß de Hose oben…«
Kaljonin sah Knösel fragend an. Er verstand ihn nicht. Der Keller zitterte und bebte plötzlich, von oben, vom Eingang, prallte Geschrei gegen die Mauern. Ein Mensch rollte die Treppeherab er hatte nur noch einen halben Kopf, das Gehirn klatschte über die Steinstufen.
«Eure Artillerie…«, sagte Knösel heiser. Er zerrte den Toten vom Eingang weg in eine Ecke, über einen anderen Mann, der rot und gut genährt wie ein Kantinenwirt aussah. Fast schien er zu platzen… Fieber und Wundbrand hatten ihn wie einen Ballon aufgetrieben. Aber er lebte noch, er hatte die Augen offen.
«Wo Vera?«flüsterte Kaljonin.
«Komm…«
Sie stiegen über die Körper, traten auf Hände und Arme, Schenkel und Bäuche, wurden gestoßen, geboxt, getreten, verflucht und kamen an den kleinen Keller, in dem neben Oberst Sabotkin, dem Helden der Nation, Olga Pannarewskaja, Dr. Sukow und nun auch Vera hausten. Knösel zeigte auf den lochartigen, dunklen, nur von einem Hindenburglicht erhellten Raum.
«Da — Aba paß uff, da liegt noch’n strammer Oberst drin! Such dir ’ne dunkle Ecke aus…«
Kaljonin riß sich von der Umklammerung Knösels los. Er stürzte in den kleinen Keller, der Windstoß, den sein Körper erzeugte, blies die jämmerliche Kerzenflamme aus.
«Veraschka!«schrie er.»Täubchen! Herzchen!«
Dann war es still. Knösel schob den Kopf etwas vor. Er hörte ein paar Seufzer und das Geräusch eines Kusses. Dann war es wieder still. Still und dunkel.
Knösel schob die Unterlippe vor und ging.»Die jönnen eenem ooch jar nischt«, sagte er brummend. Er stopfte seine Pfeife, stieg die Treppe hinauf und setzte sich in ein vereistes Granatloch. Die sowjetische Artillerie hämmerte noch immer in die Ruinen… irgendwo klirrten Ketten und röhrten Motoren. Panzer. Sie hoppelten über die Straßen und nahmen deutsche MG-Stellungen unter direkten Beschuß.
Knösel zog eine alte Decke über seinen Helm, legte die Hände um den Pfeifenkopf und schmatzte. Es war eine köstliche Viertelstunde. Guter Machorka und warme Hände. Und Knösel war bereit, darauf zu schwören, daß Machorka in der Pfeife besser wärmte als Matratzenfüllung.
Am 23. Januar 1943 trat die Rote Armee zum Begräbnis der deutschen 6. Armee an. Der Befehl lautete ganz kurz: Aufspaltung des Kessels. Mit ungeheurer Überlegenheit an Material und Menschen, mit der erdrückenden Wucht von Panzerdivisionen, mit dem Mut frischer, gut ernährter Reserven, die man aus der Weite Sibiriens herangeschafft und über die vereiste Wolga geworfen hatte, mit dem bis zum Haß gesteigerten Willen, die Deutschen zu vernichten, koste es, was es wolle, rollten die sowjetischen Korps gegen den deutschen Abwehrring.
Sie fanden in den Schneelöchern Gespenster, aler keine Menschen mehr. Gespenster, die schossen und starben, Gespenster, die schneeblind herumliefen, die wie Katzen auf die Panzer sprangen, alte Säcke vor die Sehschlitze hielten und geballte Ladungen unter die Geschütztürme schoben. Gespenster, die ihnen entgegenzogen, mit einer weißen Fahne, auf die ein Rotes Kreuz gemalt war, winkend, und als sie näher kamen, waren es aufrecht gehende Leichen, die auf Brettern andere lebende Leichen hinter sich herzogen. Es war so grauenhaft, was da aus den Bunkern und Kellern kroch, was in den Granattrichtern überrannt wurde oder bettelnd die Arme aus den Schneelöchern hochreckte, daß selbst die Rotarmisten Zugriffen statt zu schießen.
Am 22. Januar eroberten die Sowjets den letzten deutschen Flugplatz Gumrak. Sie kamen in ein Leichenfeld, das unvorstellbar war. Sie eroberten eine Armee von Verwundeten, Krüppeln, Sterbenden, Fiebernden, Wahnsinnigen. Dazu ein paar Stabsärzte und Sanitäter und einen Pfarrer.
Für den Nachschub im Kessel blieb nur noch der Notflughafen Stalingradski übrig, für einen Nachschub, den es nicht mehr gab. Aber die Nachricht allein genügte, daß Stalingradski das letzte Loch nach Westen sei, und schon wälzten sich Tausende Verwundeter durch die Steppe, durch Eis und Schnee, durch Panzer- und Artilleriebeschuß, durch Bombenhagel und Stalinorgelgeheul zu dem armseligen Nest in der Nähe des Tatarenwalls. Dort fielen sie, wie in Gumrak, in den Schnee und erstarrten. Es gab für sie kein Entrinnen mehr.
Die späte Erkenntnis des Generals Schmidt, die der Pionierführer Oberst Seile, der am 22. Januar als einer der letzten aus dem Kessel ausgeflogen wurde, um als Kurier im Führerhauptquartier die Wahrheit zu sagen und noch einmal um Unterstützung und um die Erlaubnis des Ausbruchs zu bitten, erschüttert mitnahm, nützte ihnen auch nichts mehr:
Sagen Sie es überall, wo Sie es für angebracht halten, daß die 6. Armee von höchster Stelle verraten und im Stich gelassen worden ist.
Generaloberst Paulus gab am 24. Januar in höchster Verzweiflung an die Funkleitstelle des Oberkommandos des Heeres den Hilferuf durch:»Truppe ohne Munition und Verpflegung, erreichbar noch Teile von sechs Divisionen, Auflösungserscheinungen an der Süd-, Nord- und Westfront. Keine einheitliche Befehlsführung mehr möglich… 18 000 Verwundete ohne Mindesthilfe an Verbandszeug und Medikamenten… Front infolge starker Einbrüche vielseitig aufgerissen. Stützpunkte und Deckungsmöglichkeiten nur noch im Stadtgebiet, weitere Verteidigung sinnlos. Zusammenbruch unvermeidbar. Armee erbittet, um noch vorhandene Menschenleben zu retten, sofortige Kapitulationsgenehmigung. Paulus.«
Die Antwort auf diesen Aufschrei von noch 150 000 Lebenden lautete:
Führerhauptquartier quittiert Funkspruch 24. Januar 1943 um 11.16 Uhr. Funkspruch des Führers:
Verbiete Kapitulation! Die Armee hält ihre Position bis zum letzten Mann und zur letzten Patrone und leistet durch ihr heldenhaftes Aushalten einen unvergeßlichen Beitrag zum Aufbau der Abwehrfront und der Rettung des Abendlandes.
Die Helden, die Unvergessenen, die Retter des Abendlandes lagen zu dieser Stunde im massierten Feuer aller sowjetischen Geschütze und Stalinorgeln, Panzer und Minenwerfer. Sie waren verhungert, sie waren apathisch, sie starben nicht mehr, sie verreckten einfach. Von alledem wußte das deutsche Volk nichts. Es glaubte wie eh und je dem Wehrmachtsbericht, der jeden Tag herauskam. An diesem Tage lautete er:
… Bei Stalingrad hat sich die Lage durch den weiteren Einbruch starker feindlicher Massen von Westen her verschärft. Trotzdem halten die Verteidiger immer noch ungebrochen als leuchtendes Beispiel besten deutschen Soldatentums den immer mehr verengten Ring um die Stadt. Sie fesseln durch ihren heldenhaften Einsatz starke feindliche Kräfte und unterbinden nun schon seit Monaten den _ feindlichen Nachschub an einem seiner wichtigsten Punkte…
Der Totengesang hatte begonnen.
Dr. Portner mußte zusammen mit Dr. Sukow alle Kraft aufbieten, Dr. Körner davon abzuhalten, den Wehrmachtsempfänger mit beiden Fäusten zu zertrümmern. Bei den Worten:»… ungebrochen als leuchtendes Beispiel besten deutschen Soldatentums…«, hatte er zum erstenmal die Nerven verloren. Aus dem ruhigen, immer etwas melancholischen Jungen war ein Rasender geworden.
«Lassen Sie mich los!«brüllte er und schlug um sich.»Ich kann das nicht mehr hören! Ich kann nicht mehr! Warum hauen sie denen nicht in die Schnauze?! Warum tun sie nichts?! Warum tun wir alle nichts?! Warum sind wir wie Opferlämmer?!«
Dann brach er zusammen. Dr. Sukow hatte zum letzten Mittel gegriffen. Mit seinem umwickelten Hammer, mit dem >Auge Sta-lins<, schlug er Dr. Körner auf den Kopf. Dann trugen sie ihn auf seinen Strohsack, deckten ihn zu und sahen sich an. Dr. Portner nickte langsam.
«Es ist nicht unser Krieg — «, sagte er leise.»Genauso, wie es nicht Ihr Krieg ist. Ich habe einmal ein Buch von Ihrem Dichter Gogol >Die toten Seelen< gelesen… hier haben Sie eine Armee von toten Seelen.«
Andreij Wassilijewitsch Sukow, der Majorarzt der Roten Armee, legte dem deutschen Stabsarzt beide Hände auf die Schulter. Wie Freunde standen sie sich gegenüber, beide zerlumpt, beide hungernd, beide müde bis zum Umfallen, beide Opfer ihrer Zeit
«Ich habe Sie verachtet, Towaritsch«, sagte Sukow langsam.»Gestatten Sie mir, daß ich Sie jetzt bewundere…«
«Hören Sie mir auf von der Achtung des Heroischen!«rief Dr. Portner.»Das hier ist ein Verbrechen!«
«Ich weiß. «Dr. Sukow nickte.»Aber Sie können aufrecht sterben…«
«Mir wäre es lieber, aufrecht weiterzuleben.«
Dr. Sukow ließ die Hände an den Körper zurückfallen. Es war eine Geste der völligen Hilflosigkeit.
«Dazu leben wir in einer falschen Generation, Towaritsch…«, sagte er leise.
In der Nacht verstärkte sich das Feuer der sowjetischen geballten Artillerie. Der Himmel war ein einziges Fauchen, die Erde ein aufbrechendes Flammenmeer. Das nie eroberte Bollwerk der Roten Armee mitten in der Stadt, der berühmte >Tennisschläger< wurde zu einer erbarmungslosen Faust in den Magen des schrumpfenden Riesen 6. Armee. Panzer und Stalinorgeln hämmerten pausenlos auf das von der 305. Infanteriedivision besetzte Metallurgische Werk und auf die berüchtigte Höhe 102, in der sich 60 deutsche Batterien eingegraben hatten, der letzte, schlagkräftige Pfeiler der Stalingradfront. Acht Stunden lang donnerten Tausende von Granaten, Minen und Raketengeschossen auf diese Höhe 102, pflügten sie um, zerfetzten die deutschen Geschütze, gruben sie unter, vergaßen keinen Zentimeter Boden und verwandelten jedes Fleckchen Erde in einen Mondkrater.
Und doch lebten in dieser tausendfachen Hölle noch Menschen. Sie krochen herum, warfen die Erde von sich wie Maulwürfe, wanden sich durch die Trichter wie Riesenwürmer und sprengten die letzten Geschütze, die noch brauchbar waren. Dann zogen auch sie in die Stadt, eine Handvoll Männer, die sich wie im Paradies vorkamen, als sie sich in einen Keller werfen konnten, auch wenn schon einige Tote darin lagen, steif wie Bretter und eisglitzernd.
In dieser Nacht, in der der Kessel unaufhörlich aufgespalten und das Armee-Oberkommando mitten in die Stadt verlegt wurde, in das Kellergewirr des Kaufhauses Univermag am Roten Platz, hetzte ein einzelner Mann durch die Trümmer, warf sich in die Ruinen, kroch von Trichter zu Trichter, lag zitternd hinter Mauern und robbte über Straßen und Plätze. Er hatte keinen Helm und keine Mütze mehr auf, sein weißes Haar flatterte beim Laufen, um den Hals trug er einen braunkarierten Seidenschal und an den Füßen gute, dicke Filzstiefel. Seine Schulterstücke auf der dreckigen Uniform waren silbergeflochten und mit zwei Sternen versehen. Die deutschen Landser, denen er begegnete, sahen ihn wie ein Gespenst an. Aber ehe sie aus ihrer Verwunderung erwachten, war die Gestalt weitergehetzt, sprang wie ein Hase zick-zack vor den MG-Garben der Sowjets her und verschwand in den Trichtern.
Atemlos, ausgepumpt erreichte er das Kino. Er rutschte die Treppe hinab und fiel dort einem Sanitäter in die Arme, der gerade einen Toten von der Wand zerrte, um Platz für die im Gang liegenden zu machen.
«Wo ist Dr. Portner?«keuchte die Gestalt. Die weißen Haare hingen übers Gesicht… es war schwarz, als habe es im Kohlenstaub gelegen.
«Geradeaus, zweite Tür links, Herr Oberst… Aber ich glaube…«
«Danke…«
Der Oberst hetzte weiter. An der Ecke zum Operationskeller prallte er auf Pfarrer Webern. Dieser hatte eine Stunde geschlafen… nun wollte er seinen Rundgang wiederaufnehmen, das Kreuz in der Hand, um es auf sterbende Lippen zu drücken.
«Oberst von der Haagen — «, sagte Pfarrer Webern erstaunt.»Wo kommen Sie denn her? Sind Sie verwundet?«
«Nein… das heißt, ja. Wo ist Dr. Portner?«
«Dort hinter der Tür. Aber…«
Von der Haagen ließ Pfarrer Webern stehen und riß die Tür zum OP-Keller auf. Dr. Portner und Dr. Sukow sahen nicht auf, nur Dr. Körner, auf dem Strohsack liegend, richtete sich hoch. Oberst von der Haagen schwankte zu ihm und ließ sich neben Körner auf den Strohsack fallen. Er bedeckte das Gesicht mit beiden Händen, sein Körper zitterte wie im Schüttelfrost. Es roch nach Brand aus seiner Uniform, nach heißem Öl. Dr. Körner schob sich an der Wand hoch und trat zu Portner.
«Wir haben Besuch bekommen…«, sagte er. Portner drehte den Kopf kurz nach hinten.
«Wer ist denn das? Weiße Haare…«
«Oberst von der Haagen.«
«Was?«Portner übergab seinen Verwundeten einem Sanitäter. Man verband jetzt nur noch die frisch Verletzten mit Fetzen ihrer eigenen Hemden. Dann kamen sie in die anderen Keller, Mann neben Mann, wie Riesenkäse, die man zum Schimmeln ablagert.
Von der Haagen starrte Portner an, als ihn dieser an der Schulter berührte. Dann blickte er zu Körner. Sein Stolz war verbrannt, er war nur mehr ein Häufchen Mensch mit der Seele eines kleinen Hundes, der sich verkriecht in der Hoffnung, in der dunklen Ecke nicht gefunden zu werden.
«Flammenwerfer…«, sagte er fast weinend.»Alles verbrannt… alles… mein ganzes Regiment… in den Kellern, den Unterständen, den MG-Ständen… alles…«
«Und Sie leben?«
Oberst von der Haagen schloß die Augen und lehnte den Kopf an die Wand.
«Ich… ich bin davongelaufen…«, sagte er kaum hörbar.
«Was sind Sie?«Dr. Portner biß sich auf die Unterlippe.»Sie sind dem glorreichen Endsieg davongelaufen…?«
«Doktor, Sie haben recht, mich in den Hintern zu treten. Aber ich konnte nicht anders… Als ich sie kommen sah, Panzer, die statt zu. schießen, Feuer aus sich herausspritzen, als ich das brennende Öl in die Keller fließen sah, als ich sie schreien hörte… brennend liefen sie durch die Trümmer und wälzten sich im Schnee… da… da bin ich gelaufen… Können Sie das nicht verstehen? Mein Gott, ich habe doch auch nur Nerven… Ich, ich mußte einfach laufen…«
«Und Ihre Soldaten haben Sie allein gelassen…«
«Die brannten doch!«schrie von der Haagen.
«Aber Sie nicht!«
«Sollte ich mich auch verbrennen lassen?!«
Dr. Portner senkte den Kopf.»Wer hat einmal einen jungen Menschen wegen Defätismus zum Tode verurteilen lassen? Wer hat einmal gesagt: Wer auch nur den kleinsten Zweifel an unserem Führer hegt, der ist es nicht mehr wert, zu atmen? Wer hat gesagt: Der Glaube an den Endsieg ist das Fundament unserer Kraft! Wer an diesem Fundament gräbt, muß fallen! Wer war das?!«
«Doktor…«Oberst von der Haagen starrte zu Dr. Körner.»Ich bitte Sie in aller Form um Verzeihung, Herr Assistenzarzt…«
«Verzeihung!«schrie Dr. Portner.»Gäbe es keinen General Gebhardt, läge Dr. Körner jetzt füsiliert irgendwo in Gumrak auf einem Totenhaufen! Und Sie bitten in aller Form um Verzeihung! Was wollen Sie überhaupt hier?«
Oberst von der Haagen richtete sich auf. Er schwankte im Stehen, aber er bemühte sich um eine straffe Haltung. Sein weißes Haar strich er aus dem Gesicht.
«Ich stelle mich unter den Schutz des Roten Kreuzes.«
«Was tun Sie?«fragte Dr. Portner völlig verblüfft.
«Ich bitte Sie, mich als Versprengten aufzunehmen.«
«Hier ist nur Platz für Sterbende. Versprengte lassen sich draußen beim Gefechtsstand ein neues Gewehr geben und legen sich in einen Trichter. Machen Sie es genauso. Kommen Sie wieder, wenn Sie zerfetzt sind!«
«Herr Dr. Portner — «, von der Haagen zitterte wieder.»Ich bin verletzt… meine Nerven… ich bin am Ende meiner Kraft… ich bin völlig zermürbt …«
«Hier ist kein Nervensanatorium für Stabsoffiziere!«brüllte Dr. Portner. Er war hochrot im Gesicht.»Hier wird für den Führer gestorben! Wenn Sie das wollen, bitte… die Fahrkarte dazu bekommen Sie draußen an jeder Ruine!«
Es war plötzlich still im Keller. Die Sanitäter blickten zu der kleinen Gruppe, Dr. Sukow legte seine Hände auf den blutigen Tisch. Oberst von der Haagen schwankte. Dann brach er zusammen und fiel ohnmächtig auf den Strohsack Dr. Körners. Beim Niederfallen schabte er sich die Stirn auf an der rauhen Kellerwand… ein Blutstrom ergoß sich über das Gesicht. Dr. Portner fuhr sich verzweifelt durch die Haare.
«Nun ist er doch verwundet«, sagte er.»Körner, säubern Sie seine Visage, und dann ab mit ihm zum Prominentenkeller — «
So kam es, daß neben dem Ehepaar Kaljonin zwei Obersten Schulter an Schulter an der feuchten Wand lagen. Ein russischer und ein deutscher Oberst. Ein >Held der Nation< und ein großmäuliger Feigling.
Wie hatte von der Haagen damals in Pitomnik gesagt?
«… dann stoßen wir zügig vor durch die Steppe bis zur Mongolei und marschieren in einem großen Bogen nach Wladiwostok…«
Wie eine Welt zusammenschrumpfen kann…
In dieser Nacht jagten zwei struppige Panjegäule über die Steppe. Sie trappelten längs des Tatarenwalls, immer an der herausgerissenen Bahnlinie entlang, deren Holzschwellen man längst verfeuert oder zu Suppenmehl geraspelt hatte. Hinter sich zogen sie eine Feldküche, eine Gulaschkanone. Auf dem Bock saß der Zahlmeister Erich Wrovel. Er hatte Pferde lenken gelernt Er war Großbauer in der Soester Börde, hatte einen Viehhandel dabei und war Pächter der Wirtschaft >Zum Krug<. Das alles hatte ihn dazu prädestiniert, bis zu diesem Tag ein recht beschauliches Leben zu führen mit der Registrierung der Versorgungsgüter, die in Gumrak landeten. Nach einem Verteilerschlüssel buchte er die Nachschubgüter für die einzelnen Divisionen und Regimenter, legte sie schön bereit zum Abholen und wartete. Da aber niemand kam, um den Nachschub abzuholen, er andererseits aber keine Weisung hatte, die Versorgungsgüter den vorbeifahrenden LKWs draufzuwerfen, damit die Verpflegung auf diesem Wege die Truppen erreichte, saß er bald in einem, prallen Lager voll Büchsen und Säcken, Kleidung und sogar Feldpostpäckchen, ärgerte sich über die Laschheit der Landser und stritt sich mit Offizieren herum, die nicht begreifen wollten, daß die Ausgabe von einem Tönnchen Fett ein Verwaltungsakt sei und nicht willkürlich gehandhabt werden könne. Nach der Eroberung von Gumrak verbrannte das pralle Lager des Zahlmeisters Erich Wrovel aus der Soester Börde. Er rettete zwei Panjepferde und eine Feldküche, packte sie voll Mehlsäcke, Butter, Fleischbüchsen und Nudeln und versteckte sich am Stadtrand Stalingrads in den Trümmern eines Straßenbahndepots.
Am 23. Januar, als die Aufspaltung des Kessels begann, erfuhr Wrovel von durchziehenden Versprengten, daß auf dem Notflugplatz Stalingradski ein paar Jus gelandet seien und sogar Verwundete mitgenommen hätten. Das war eine Freudenbotschaft, die der Zahlmeister sofort in die Tat umsetzte. Er kochte mit den Nudeln, den Rindfleischbüchsen, den Suppenwürfeln und dem Mehl eine dicke Suppe, die ganze Gulaschkanone voll, bis oben an den Rand, drückte den Deckel zu, spannte seine beiden Panje-gäule in die Deichsel und jagte los, nach Westen, wieder den Tatarenwall entlang, ab nach Stalingradski. Wenn ich auch drei oder vier oder fünf Tage warten muß, dachte sich der Zahlmeister Wrovel aus der Soester Börde, verhungern werde ich nicht. Ich habe meine Feldküche randvoll mit heißer Suppe.
So trabte er dahin, in zwei Decken vermummt und einen dicken Wollschal um den Kopf gebunden. Bis er die Panzer sah… vier dunkle Ungeheuer, die plötzlich aus dem Schneenebel auftauchten und direkt auf ihn zurollten. T 34 — Wrovel kannte sie von Gumrak her. Sie ratterten quer durch die Steppe, aus den Luken sahen die pelzbesetzten Ledermützen der Panzerfahrer.
Zahlmeister Wrovel warf seine Pferdchen herum und jagte zurück nach Stalingrad. Das war ein Fehler, denn dadurch wurde man aufmerksam auf ihn. Wäre er weiter geradeaus gefahren, keiner hätte ihn aufgehalten. Was bedeutete ein einzelner Mensch mit zwei Gäulen? Und da er sowieso nach Westen fuhr, in die sowjetischen Linien hinein, war es Verschwendung, auf ihn zu schießen.
So aber schwenkten die langen Rohre der Panzer herum, die Köpfe verschwanden in den Luken, die Motoren brüllten auf…
und dann knallte es aus dem vorderen Ungeheuer, pfiff es über den Zahlmeister Wrovel hinweg und schlug seitlich von ihm ins Eis. Die Panjepferde streckten die Hälse und rasten davon. Die Feldküche schleuderte über Eisbuckel und Schneewehen, Wrovel klammerte sich an seinem Sitz fest, hinter sich hörte er die Abschüsse, das Röhren in der Luft und die spritzenden Einschläge der Granaten.
Es war ein Zielschießen, weiter nichts. Der fünfte Schuß riß den Pferden die Leiber auf… sie rannten noch ein paar Meter, dann stürzten sie hin, und Zahlmeister Wrovel wurde nach vorn über die blutenden Leiber geschleudert, die Feldküche folgte ihm und rollte über das Knäuel aus Tier und Mensch.
Der sechste Schuß war ein Volltreffer… er ließ den Kessel bersten. Zweihundert Liter heiße Suppe aus Nudeln, Rindfleisch, Brühwürfeln und Mehl ergossen sich wie eine Flutwelle über den Zahlmeister Wrovel.
«Hilfe!«brüllte er, als über ihm der Kessel zerplatzte. Er wollte wegkriechen, aber über ihm lag der Schenkel eines Pferdes und hielt ihn fest wie in einem Schraubstock. Er krallte sich in das Fell, er riß und drückte…»Hilfe!«brüllte er wieder.»Hilfe!«… Aus dem Kessel schoß die glühende Suppe… eine Woge aus Nudeln und Fleisch.
Ein paar Sekunden später war der Zahlmeister Erich Wrovel aus der Soester Börde ertrunken und erstickt. Seine Nudelsuppe lag über ihm und den noch immer zuckenden Pferdeleibern… sie dampfte in der Luft von 40 Grad Kälte. Es roch nach Maggi und Rindfleisch.
Aus dem vorderen Panzer tauchte ein Kopf auf. Ein lachendes Gesicht, eng umschlossen von der Lederkappe.
«Karascho!«rief er.»Dawai! Dawai — «
Die Panzer rollten weiter, nach Stalingrad hinein.
Die schöne Nudelsuppe vereiste.
In dieser Nacht erhielt Dr. Portner den Anruf des Flugplatzkommandanten von Stalingradski, daß für morgen sechs Jus angesagt seien, die Verbandsmaterial und Medikamente, sowie Munition und Büchsenverpflegung einfliegen würden. Es bestände die Möglichkeit, mit diesen Jus 240 Verwundete auszufliegen. Er riefe im Auftrag von General Gebhardt an. Die 240 Verwundeten sollten eine Entschädigung für eine >Kiste mit 9000mal Unsinn< sein.
«Verstehen Sie das, Herr Stabsarzt?«fragte der Luftwaffenhauptmann.
«Aufs Wort.«
«Sie schicken die 240 Mann?«
«Sie werden in einer halben Stunde in Marsch gesetzt.«
«Ich halte die Maschinen dafür frei, wie befohlen.«
«Meinen ergebensten Dank. Empfehlung und Handkuß an die Frau Gemahlin. «Dr. Portner legte auf. Sein Gesicht war zerfurcht und gelbweiß. Dr. Körner sah ihn erschrocken an.
«Was ist, Herr Stabsarzt?«
«Man hat mich zum Totenrichter gemacht«, sagte er leise.»Ich soll 240 Mann auswählen, die man ausfliegen will. 240 von 3500! Wen soll ich nehmen? Alle haben das Leben verdient…«
Er wandte sich ab und legte die Hand über die Augen. Dr. Körner verließ den Funkraum. Er wußte, Dr. Portner mußte jetzt allein sein. Es war niemand da, der ihm helfen konnte, der ihm die Verantwortung abnahm.
Eine halbe Stunde später begann die Zusammenstellung des Transportes. Den Sanitätern war strengste Schweigepflicht befohlen worden. Wenn die 3500 Verwundeten erfahren hätten, wozu einige aus ihren Reihen herausgeholt wurden, hätte es eine Panik gegeben, einen Kampf um das Leben mit einer Grausamkeit, die alle Grenzen des Menschlichen sprengte. Einer hätte den anderen umgebracht, um sich einen Platz zu erobern, man hätte sich gegenseitig zerfleischt für die winzige Chance, aus Stalingrad hinauszukommen. So aber sah keiner hin, wenn Dr. Körner und die Unterärzte, Dr. Portner und die Sanis und sogar Dr. Sukow von Keller zu Keller gingen, von Leib zu Leib.
Es war sinnlos, die auszufliegen, die auch in einem normalen Lazarett bei bester Versorgung keine Chance des Überlebens mehr hatten. Die aufgetriebenen Körper, die Wundbrände, die lebend Verfaulenden blieben an den Wänden und auf den Gängen liegen, ebenso die Kopfschüsse, die Wahnsinnigen, die in einem eigenen, immer verschlossenen Keller hausten, wie wilde Tiere, brüllend und wimmernd, im Wahn singend oder herumhockend in der Apathie völliger Verblödung. Frisch Amputierte, große Fleischwunden, ein paar mittelschwere Bauchschüsse, Erfrierungen, Flecktyphuskranke, Schußbrüche und glatte Durchschüsse wurden ausgesondert. Sie wußten nicht, warum… sie wurden, wenn sie nicht gehfähig waren, die Treppe hinaufgetragen und oben in den Trümmern abgestellt. Einige wehrten sich, brüllten, schlugen um sich…»Umbringen wollt ihr uns, ihr Schweine!«schrie jemand.»In der Kälte krepieren sollen wir! Warum schlagt ihr uns nicht gleich tot? Ihr Lumpen! Ihr Verbrecher!«Pfarrer Webern und Pastor Sanders beruhigten sie. Aber selbst ihnen wurde nicht mehr geglaubt.»Warum trägt man uns ’raus?!«wurden sie immer wieder gefragt. Sie durften die Antwort nicht sagen, sie redeten um die Wahrheit herum. Die Verwundeten merkten es, mit dem Instinkt von gehetzten Tieren spürten sie, daß man ihnen etwas verbarg.
«Ach, seien Sie still, Herr Pastor — «, sagte einer für alle zu Pastor Sanders,»auch Sie belügen uns! Immer sind wir belogen worden! Aber bei Ihnen wird das etwas anderes sein… da heißt es eine fromme, barmherzige Lüge! Wir pfeifen darauf…«
«Beten Sie zu Gott, daß er bei Ihnen ist in den nächsten Stunden«, sagte Pastor Sanders still.
«Beten! — Wir wollen wissen, was mit uns passiert!«
Sanders schwieg. Immer neue Verwundete wurden an die Oberfläche getragen. In Decken, in Zeltplanen, in durchbluteten Säcken. Rund um den Kellereingang lagen sie in den Trümmern des Kinos und zitterten vor Kälte.
Unterdessen telefonierte Dr. Pcrtner mit General Gebhardt und einem Major, dem die Transportkompanien unterstanden.
«Acht LKWs?«fragte der Major ungläubig.»Lieber Stabsarzt, ich kann Ihnen ein Vorderrad schicken, und auch das müssen Sie sich noch selbst aufblasen.«
«Es liegt ein Befehl von Herrn General Gebhardt vor, daß 240 lebensfähige Verwundete morgen von Stalingradski ausgeflogen werden!«rief Dr. Portner erregt.
«Dagegen habe ich gar nichts. Nur wie Ihre Schäfchen nach Stalingradski kommen, kann ich Ihnen nicht sagen.«
«Mit Ihrer Staffel!«
«Sie Witzbold!«rief der Major.
«Ich rufe sofort den General noch einmal an!«
«Das können Sie, Herr Stabsarzt. Und sagen Sie ihm einen schönen Gruß von Major Bebenhausen. Die LKWs stehen hier herum, in Reih und Glied, richt — euch, Scheinwerfer geeerade— aus! aber im Bauch haben die Zylinder nichts! Wer nichts trinkt, kann nicht pissen… wer keinen Sprit hat, kann nicht laufen. Ist das klar, Herr Stabsarzt?«
Dr. Portner hieb mit der Faust auf den Tisch, auf dem das Feldtelefon und das winzige Funkgerät standen.
«Sie haben Sprit, Herr Major!«
«Nee, nicht mal fürs Feuerzeug.«
«Ich weiß von General Gebhardt, daß Sie heute nacht 2000 Liter Treibstoff bekommen haben — «
«Was sagen Sie da?«Die Stimme von Major Bebenhausen überschlug sich fast.»Ich soll Sprit bekommen? Stabsarzt, davon weiß ich ja noch gar nichts. Da müssen die Kerle noch unterwegs sein… Mein lieber Doktor, wenn der Sprit hier ankommt — sicher ist das durchaus nicht —, dann verspreche ich Ihnen fünf LKWs!«
«Acht…«
«Seien Sie kein Levantiner und feilschen Sie nicht, Doktor!«
«Ich habe 240 Verwundete und sechs Mann Begleitung zu transportieren!«
«Dann legen Sie sie übereinander, Doktor. Stalingrad hat gezeigt, daß es möglich ist, auch Menschen zu stapeln. Wie gesagt… kommt der Sprit, schicke ich Ihnen fünf LKWs. Ende — «
Dr. Portner legte auf. Chefchirurg Sukow stand in der Tür.
«Alles oben«, sagte er in seinem harten Deutsch.»Genau 240. Einen mußten wir zurückschicken…«Dr. Sukow hob bedauernd beide Hände…»Ich mußte ihn schlagen. Leider deutscher Offizier.«
Dr. Portner ahnte nichts Gutes. Er ging hinüber zu dem >Pro-minentenkeller<. Oberst von der Haagen lag an der Wand, sein Gesicht war verzerrt. Knösel stand vor ihm, die MP in der Hand.
«Was soll denn das?«schrie Portner.»Knösel, sind Sie völlig verrückt geworden?«
«Der Herr Oberst leidet unter Ortsstörungen. Er will immer nach oben zum Sammelplatz. Zweimal haben wir ihn zurückgeholt…«
Oberst von der Haagen stemmte sich an der feuchten Wand hoch. Über sein Gesicht lief ein heftiges Zucken.
«Doktor…«, stammelte er.»Ich habe gehört… die Kameraden da draußen werden ausgeflogen…«
«Wer hat Ihnen das gesagt?«
«Ich habe Ihr Telefongespräch mit dem Herrn General belauscht. Bitte, lügen Sie mich nicht an. Ich weiß es! Es sollen 240 Verwundete ausgeflogen werden. «Von der Haagen hatte sich etwas gefaßt. Seine Stimme hob sich.»Ich habe ein Recht, berücksichtigt zu werden! Ich bin verwundet, lebensfähig und Offizier — «
«Darf ich entgegnen, Herr Oberst: Sie sind durch eigene Schuld
— wenn ich es so zartfühlend ausdrücken will — verletzt worden, Ihre Lebensfähigkeit verpflichtet Sie dazu, bei Ihren Kameraden in Stalingrad zu bleiben, und als Offizier haben Sie sowieso die Pflicht, bis zur berühmten letzten Patrone auszuhalten.«
«Herr Stabsarzt — «, schrie Oberst von der Haagen.»Herr Stabsarzt, ich — «
«Ich habe wie Sie einmal den Walter Flex gelesen!«brüllte Dr. Portner zurück.»Sie erinnern sich, Herr Oberst, der Dichter, der in Ihrer Gedankenwelt als Heros dasteht und dessen Aphorismen Sie mit geschwellter Brust in jedem Lehrgang der Kriegsschule hersagten wie das Vaterunser. Erinnern Sie sich an den berühmten Spruch, von dem Sie einmal sagten, daß er in das Herz eines jeden Soldaten geschrieben werden müsse: >Offizier sein, heißt seinen Leuten vorleben — das Vorsterben ist nur ein Teil davon.< Bitte, Herr Oberst… nun sterben Sie vor — «
Er drehte sich um und verließ den kleinen Keller. Von der Haa-
fen wollte Dr. Portner nachlaufen, er war bereit, zu betteln, zu fle-en, auf die Knie zu gehen. Knösel stellte sich ihm in den Weg.»Gehen Sie weg, Sie Ratte!«schrie der Oberst.»Ich stelle Sie vor ein Kriegsgericht — «
«Wenn ick hier den Finger krumm mache, macht et bum! Dann jiebt et keen großes Maul mehr. Und ob de Oberst bist oder Jene-ral… wir liegen alle in der Scheiße und stinken alle gleich… Vastanden?«
Oberst von der Haagen sah sich verzweifelt nach einem Ausweg um. Es gab keinen, außer über Knösel hinweg. Da ließ er sich zurück auf seinen Strohsack fallen, neben den >Held der Nation<, Oberst Sabotkin.
Sabotkin drehte sich auf die andere Seite, als von der Haagen neben ihm saß. Er wandte ihm den Rücken zu. Deutlicher war es ihm nicht möglich, seine Verachtung auszudrücken.
Drei Stunden später kamen wirklich fünf LKWs bis auf 100 Meter an das Kino heran. Ein junger Fähnrich meldete sich bei Dr. Portner als Leiter des Einsatzes.
«Wir müssen die Verwundeten leider hintragen«, sagte er.»Weiter können wir nicht nach vorn…«
Beim Morgengrauen war es endlich soweit. Die Verwundeten lagen in zwei Wagen neben- und übereinander… in den anderen drei Wagen hockten die Gehfähigen oder standen wie gestapelte Rundhölzer. Oberst von der Haagen hatte noch einmal versucht, mitzukommen. Es war ein letzter, verzweifelter Versuch. Er überrannte Knösel, beide Fäuste nach vorn gestoßen wie ein Rammbock… zwei Sanitäter an der Treppe fingen ihn auf. Es war ein unwürdiges, miserables Schauspiel, als sie den weißhaarigen Oberst zurückschleiften in den Keller und an die Wand warfen. Dort begann er zu toben, bekam einen Schreikrampf und gebärdete sich wie ein Irrer. Dr. Sukow mußte ihn mit dem >Auge Stalins «betäuben.
In den LKWs hatte es sich mittlerweile herumgesprochen, warum man sie aus dem Lazarettkeller herausgeholt hatte. Pfarrer Webern war es, der ihnen die Wahrheit sagte. Er sprach über die fünf Wagen den Segen.
Die Stimmung wurde vorzüglich. In die Heimat, hieß es. Wir werden in die Heimat geflogen. Wir dürfen weiterleben. Wir kommen aus der Hölle zurück. Was machte es da aus, daß man vor Hunger zitterte? Was kümmerte einen noch das tödliche Feuerwerk, das vom >Tennisschläger< herüberhallte? Wen interessierte es noch, daß im Norden der Stadt der Kessel aufgerissen wurde und sich das XI. Korps unter General Strecker ins Traktorenwerk zurückzog, wo um jeden Eisenträger, um jeden zerfetzten Maschinenblock gekämpft und gestorben wurde?
In die Heimat! Jungs, wir fliegen in die Heimat.
Dr. Portner verabschiedete den Unterarzt, der mit nach Stalingradski fuhr.
«Grüßen Sie Deutschland, lieber Blankenhorn«, sagte er mit fester Stimme.»Und halten Sie nicht den Mund über das, was Sie hier gesehen haben. Reden Sie. Reden Sie! Und wenn man es Ihnen verbieten will, dann schreien Sie! Die verratenen Männer hier haben es verdient, daß man die Wahrheit über sie erfährt. «Er griff in die Tasche seines Mantels und zog ein zerknittertes, schmutziges Kuvert heraus.»Wenn Sie in Deutschland sind, stecken Sie es bitte in einen Briefkasten. Ein Brief an meine Frau… an die Kinder…«Portner senkte den Blick. Ich habe geschrieben, daß es mir gutgeht…«
«Ich… ich werde alles ausrichten, Herr Stabsarzt«, sagte Unterarzt Blankenhorn mit schwerer Zunge.
«Leben Sie wohl. «Portner klopfte ihm auf die Schulter.
«Auf Wiedersehen, Herr Stabsarzt…«
Dr. Portner schwieg. Er stand auf einem Trümmerberg und winkte, bis der letzte Wagen im Morgendunst untergegangen war. Die beiden Geistlichen standen neben ihm, der verwundete Pastor Sanders klapperte mit den Zähnen, das Fieber überfiel ihn wieder, die Rückenwunde stach und brannte.
«Sie können noch mit…«Pfarrer Webern legte den Arm um Sanders’ Schulter. Der evangelische Pastor schüttelte stumm den Kopf. So standen sie nebeneinander, im Schneedunst, den Arm um die Schulter des anderen. Zwei Freunde in Gott. Hatte es jemals einen Luther gegeben? Wo waren die päpstlichen Dogmen?
In Stalingrad galt nur das eine… Vater unser, der du bist im Himmel…
Mit ihm starben Gerechte und Ungerechte, Getaufte und Abtrünnige, Katholiken, Evangelische, Reformierte, Baptisten, Heiden.
Vater unser…
Die fünf Lkws kamen nie in Stalingradski an.
In der Steppe ging ihnen das Benzin aus. Bei 40 Grad Frost wurden die Motoren nie richtig warm… sie verbrauchten das Dreifache der Menge, die man berechnet und den Fahrern mitgegeben hatte.
Hilflos lagen sie im Schnee. Und auch das Beten half nichts mehr.
Drei sowjetische Panzer vpranstalteten ein Punktschießen auf die fünf einsamen Lastwagen. Sie fingen Feuer, brannten aus, und selbst, als nur noch die Fahrgestelle glühten, lagen die Schreie in der Luft, mit denen 240 Verwundete, ein Unterarzt, sechs Sanitäter, ein Fähnrich und fünf Fahrer verbrannten.
General Gebhardt fragte nicht mehr nach, ob alles geklappt habe… er wußte es nach vier Stunden. Der Platzkommandant Stalingradskis hatte andere Sorgen… er mußte räumen, die Panzer der Sowjets rollten unaufhaltsam heran. Man hätte die 240 Mann sowieso nicht ausfliegen können. Der Kessel wurde schneller aufgespalten als gedacht. Und auch Major Bebenhausen von der Transportabteilung konnte nicht mehr fragen… er war früh um 5.18 Uhr gefallen, als die Panzerspitze der Russen seine Werkstatt niederwalzte. Er hatte sich über seine 2000 Liter Sprit nur drei Stunden und zweiundzwanzig Minuten freuen können…