Im Armeeoberkommando bei Gumrak herrschte noch immer gedämpfter Optimismus. Man spürte es an kleinen Dingen: Die Stabsoffiziere hatten noch ihre Burschen, die jeden Morgen die Stiefel blank wichsten, beim Essen bedienten Ordonnanzen an Tafeln mit weißen Tischtüchern, es wurde zackig gegrüßt und ebenso zackig gemeldet, die Funksprüche aus dem Führerhauptquartier wurden geglaubt, nur wenn man auf den Reichsmarschall zu sprechen kam, wurde man unsachlich und schob ihm den Schwarzen Peter der ganzen Misere zu. Die Versorgung aus der Luft brach von Tag zu Tag mehr zusammen. Nur ein Bruchteil der versprochenen Tonnenzahl wurde eingeflogen. Beruhigend war lediglich, daß immer wieder von Hermann Göring versichert wurde, alle verfügbaren Flugzeuge würden aus anderen Fronten abgezogen und nach Stalingrad geworfen, um die 6. Armee so lange zu versorgen, bis von außen der Durchbruch durch den Einschließungsring gelungen sei.
In einem Operationsbunker wartete der Pathologe aus Berlin. Er war eine fremdartige Erscheinung inmitten der Uniformen, ein Zivilist, gut genährt, ohne hohle Augen, sauber rasiert, mit gepflegten Fingernägeln. Sein weißer Arztkittel war blütenweiß, seine Gummischürze gelbrot und neu, seine Gummihandschuhe hellgelb und dünn. Auf einem weißgedeckten Seitentisch hatte er sein anatomisches Besteck sauber ausgebreitet, einige Glasbehälter für die Präparate standen daneben. Der Oberstarzt und einige andere Stabsärzte, die aus Stalingrad selbst oder aus den Dörfern des Kessels gekommen waren, standen um den Seziertisch herum und rauchten stumm. Auch Oberst von der Haagen war da. Er stand nicht mehr vor der großen Rußlandkarte und erklärte den Vormarsch der deutschen Divisionen bis Wladiwostok und an die chinesischen Grenze. Er war sehr still geworden und kratzte sich die Nase, als jucke sie heftig, als er den Assistenzarzt Dr. Körner sah. Den habe ich noch vor kurzem ferngetraut, dachte er. Damals sah alles ganz anders aus. Er wandte sich um und ging zu dem Berliner Pathologen, um Dr. Körner nicht begrüßen zu müssen.
«Na, Sie letzter Zivilist«, rettete sich von der Haagen in den Sarkasmus,»wie sieht’s in Berlin aus? Was man im Radio hört… muß ja ein toller Siegeswillen im Volk sein! Das macht uns stark, mein Bester, glauben Sie mir. Wenn hinter den Waffen die Herzen
stehen, das spürt die Front. Das gibt uns starken Halt, wenn sich der innere Schweinehund meldet und bis zum Kragenknopf bellt. Dann denken wir: Unsere Frauen und Mütter, unsere Väter und Kinder… die stehen in der Heimat ihren Mann, sie wissen, daß wir siegen werden… also, Emil, 'ran an die Buletten und gib's dem Iwan in die Fresse…«Oberst von der Haagen sah sich provokatorisch um. Die Ärzte schwiegen weiter und rauchten stumm. Sie kamen aus dem Dreck, unter ihren Händen waren Tausende verblutet, sie kannten die Wahrheit.
Oberst von der Haagen wandte sich schroff ab. Akademikersturheit, dachte er, um sich selbst aufzurichten. Da haben wir ihn wieder, diesen zersetzenden defätistischen Intellektualismus! Mit Akademikern kann man keine Kriege gewinnen, die denken zuviel!
Unterdessen tauten Dr. Körner, Rottmann und Wallritz ihre drei Leichen auf. In einem überheizten Raum legten sie die Körper neben den Ofen und drehten sie mehrmals herum, damit sie auch überall das Eis und die Steifheit verloren. Nach kurzer Zeit lagen sie in Wasserlachen. Ein Stabsarzt, der hereinsah, um festzustellen, wie lange es noch dauerte, schüttelte den Kopf.
«Langsamer auftauen, Herr Körner! Wir wollen doch keine Suppe von ihnen kochen…«
«Sie liegen seit drei Tagen im Eis, Herr Stabsarzt.«
«Vor allem müssen sie innen aufgetaut sein. Meinetwegen machen Sie so weiter…«
Die deutsche Gründlichkeit hatte auch hier nicht versagt. Von den Schreibstuben, die nach wie vor Buch über alles führten, was in Kompanie, Bataillon oder Regiment geschah, war die Krankenrolle der drei Toten nach Gumrak geschickt worden. Der Pathologe aus Berlin studierte interessiert die Eintragungen und verglich sie miteinander.
«Das ist hochinteressant, meine Herren«, sagte er und breitete die Krankenblätter auf dem Sektionstisch aus.»Alle Toten, die so merkwürdig ohne Anlaß umkippten, sind alte Soldaten der 6. Armee, die schon den Vormarsch mitgemacht haben. Seit September haben sie — wie ich aus der Verpflegungsliste sehe — pro Tag durchschnittlich achtzehnhundert Kalorien an Nahrung bekommen, jeder von ihnen hat im Herbst eine Gelbsucht oder eine Darminfektion überstanden, einige von ihnen hatten Malaria oder Typhus. Seit Ende November liegen sie in dieser baumlosen
Steppe, verkriechen sich in Erdlöchern, leben in Schnee, Eis und dauernder Feuchtigkeit und ernähren sich von hundert Gramm Brot und Suppen aus Fleischstücken krepierter und verhungerter Pferde — «
«Fünfzig Gramm Brot«, warf ein Stabsarzt ein. Oberst von der Haagen drückte das Kinn an den Uniformkragen.
«Nun übertreiben Sie mal nicht, Herr Stabsarzt. Erst seit vorgestern sind es fünfzig Gramm!«
«Wie dem auch sei… die Ernährung und die Unterbringung der Männer ist unzureichend…
«Hat man in Berlin auch schon gemerkt, daß Krieg ist?«fragte von der Haagen bissig.»Natürlich speist man im Kempinski besser als in einem Erdloch vor Stalingrad.«
Der Pathologe aus Berlin wölbte die Unterlippe vor.»Warten wir ab, meine Herren. Ich habe eine schreckliche Ahnung… schon vor den Obduktionen…«
Die erste Leiche, die aufgetaut, schön weich und ein wenig glitschig auf den Tisch gehoben wurde, war ein Gefreiter. Er hatte pfeifend sein Einmannloch erweitert, hatte gegraben und die ausgeschachtete Erde säuberlich als Schußdeckung um das Loch verteilt. Plötzlich hatte er mit dem Pfeifen aufgehört, hatte dumm gegrinst, war umgefallen und war tot. Er hatte vier Kinder, stammte aus Essen an der Ruhr, war Grubenelektriker und immer gesund gewesen. Bis auf Typhus, den er im Oktober am Don bekommen hatte.
Der Pathologe nickte Dr. Körner kurz zu und gab ihm die Hand. Dann verlor er keine Zeit mehr… mit einem langen Schnitt des Skalpells spaltete er den Leib vom Brustbein bis zum Schambein. Dann präparierte er sich durch die einzelnen Schichten in die Tiefe. Es war eine schnelle Arbeit… Fettgewebe war nicht mehr vorhanden, das Muskelfleisch wirkte ausgezehrt, der Körper war, wie es vereinfacht heißt, nur noch Haut und Knochen.
Brust- und Bauchhöhle waren eröffnet, die Ärzte beugten sich neben dem Pathologen aus Berlin über den Körper. Oberst von der Haagen steckte sich mit zitternden Fingern eine Zigarette an. Die aufgetauten Eingeweide begannen in der Hitze des Raumes zu riechen. Übelkeit überfiel ihn… er inhalierte den Zigarettenrauch und verließ dann schnell den Operationsbunker.
Beim Hinausgehen hörte er noch, wie der Pathologe mit klarer Stimme sagte:
«In wenigen Minuten werden wir wissen, woher der geheimnisvolle Tod in der 6. Armee kommt…«
Fast zwanzig Minuten wurde stumm seziert.
So wie man aus einem alten Auto einen Motor ausbaut, die Bremsen, das Gestänge, das Getriebe, so wurde der Körper des toten Grubenelektrikers aus Essen, Vater von vier Kindern, die noch gar nicht wußten, daß ihr Papi für Großdeutschland gefallen war, und die glaubten, er säße jetzt vor Stalingrad in einem warmen, sicheren Bunker und knabbere an den süßen Weihnachtsplätzchen, die sie ihm geschickt hatten, von dem Pathologen in routinierter Reihenfolge ausgeschlachtet.
Herz, Lunge, Leber, Eingeweide, Galle, Magen, Nieren, Dann, Blase… die Einzelteile eines Menschen häuften sich neben dem Körper auf einem Wachstuch. Dicker Tabakrauch zog träge über den Seziertisch und durch den heißen Bunker. Die Luft wurde stickig, süßlich, moderig, beklemmend. Eine Luft, die sich wie Fett auf die Haut setzte, klebrig wie Zuckerwasser.
Der Pathologe aus Berlin sah auf und dehnte sich. Der Seziertisch war etwas niedrig, man mußte mit gekrümmtem Rücken arbeiten, das ermüdete sehr. Die Marmortische in der Charite waren bequemer.
«Sehen Sie es, meine Herren?«fragte er und tippte mit einem scharfen Löffel auf die Innereien. Mit dem scharfen Löffel hatte er gerade aus den großen Röhrenknochen ein kleines Häufchen Knochenmark herausgekratzt.»Ich glaube, für uns ist der Tod jetzt kein Geheimnis mehr. Ich vermute, daß die Heeresleitung staunen wird und daß man im Führerhauptquartier sich darüber einige Gedanken machen muß. Fassen wir zusammen: Um die inneren Organe, unter der Haut, überall, wo es sein soll, ist kaum noch ein Fettgewebe vorhanden. Alle Organe sind von einer merkwürdigen Blasse, im Gekröse sehen wir eine wässerig-sulzige Masse, die Leber ist gestaut. Und dann das Herz… klein und braun, wie zusammengeschrumpft, dagegen ist die rechte Herzkammer unnatürlich stark erweitert, ebenso der rechte Vorhof. «Der Pathologe tippte mit einem Spatel auf das Häufchen Knochenmark, das er gerade abgestreift hatte.»Sehen Sie sich das an, meine Herren… statt roten und gelben Knochenmarkes habe ich eine glasige Gallertmasse herausgeholt. Fassen wir alles zusammen, ist die Diagnose ganz klar: Tod durch Überdehnung der rechten Herzkammer, Grund: völlige Unterernährung, Wärmeverlust, Er-
Schöpfung höchsten Grades. «Der Pathologe sah in die betroffenen Gesichter der Ärzte. Der Sektionsbefund war klar… es gab da kein Herumdeuteln mehr.»Das war die Todesursache dieses Toten… sehen wir uns die anderen an. Wieviel Leichen haben wir im Augenblick hier?«
«Neun«, sagte der Oberarzt heiser.
«Machen wir weiter, meine Herren!«Der Pathologe fing einen Blick Dr. Körners auf: einen fragenden, einen wissenden Blick. Er zögerte einen Augenblick und wandte sich dann dem Oberarzt zu.
«Sie werden nachher einen Vortrag über die Todesursache vor den Herren Generälen halten?«
«Ja.«
«Dann erklären Sie bitte in aller Deutlichkeit: Auch in Friedenszeiten starben viele alte Leute an einer Überdehnung der rechten Herzkammer. Auch sie fielen plötzlich um. Es war der Greisentod… Wenn hier in Stalingrad junge Leute an dem gleichen Herztod sterben, so darum, weil ihre Körper den unmenschlichen Strapazen nicht mehr gewachsen sind, weil sie die Grenze dessen, was ein Mensch ertragen kann, überschritten haben, weil sie verbraucht sind, oder — sagen Sie es klar — weil sie vor Stalingrad Greise geworden sind…«
«Das Herz der 6. Armee…«, sagte Dr. Körner leise.
Alle Köpfe flogen zu ihm herum. So leise er es gesagt hatte, in die plötzliche Stille hinein war es wie eine Explosion.
«Mein Gott…«Der Oberarzt wischte sich über das schweißnasse Gesicht.»Ich darf nicht daran denken, wie es weitergehen soll…«
Während die anderen acht Leichen seziert wurden, war Emil Rottmann nicht untätig gewesen. Er hatte sich erkundigt, wie die >Scheiße dampfte<. Bei den LKW-Fahrern, bei Munitionskolonnen, bei den Werkstätten, beim Troß, beim Wetterdienst der Luftwaffe. Er sah die Armee der Verwundeten, die in Waggons, Zelten und Holzhütten auf dem Bahnhof Gumrak darauf warteten, abtransportiert zu werden, er hörte von den verzweifelten Kämpfen um einen Platz in den Ju 52, die hinaus in das Leben flogen, er sah die Elendsschar der Verwundeten, die ihr Lebensbillett um den Hals trugen und doch am Flugfeld von Gumrak verreckten, weil sie keiner mitnehmen konnte.
«Wenn die uns nicht bis zum zehnten Januar 'rausholen oder mehr zu fressen bringen, reißen uns die Iwans den Hintern bis zum Kragenknopf auf. Weißt du übrigens, daß man einen Pferdehuf auskochen kann? Das gibt immer noch zwölf Fettaugen für 'ne Suppe…«
Emil Rottmann hörte sich das alles aufmerksam an. Die Ausweglosigkeit der Einkesselung, die Erwartung, daß in aller Kürze der Russe von allen Seiten gegen die dünnen deutschen Linien anrennen würde, um den großen Kessel vollends einzudrücken oder aufzuspalten und dann auf deutsche Hasenjagd zu gehen, erzeugte bei dem einen jene Form von Fatalismus, die alles ertragen läßt, bei dem anderen einen galligen Humor, der nichts war als ein Deckel auf der kochenden Angst. Verzweiflung sah Rottmann selten, nur bei den Verwundeten, die sich gegenseitig tottraten, um in einen LKW zu kommen oder von einer Ju 52 mitgenommen zu werden. Diese Ergebenheit in ein Schicksal, dieses Wissen, geschlachtet zu werden und nichts dagegen tun zu können, als zu fluchen, war nicht die Art Rottmanns. Er wollte leben, er wollte zurück zu seinem Schrebergarten, zurück zu der efeuberankten Laube, in der er Lotte besessen hatte, und nachher Marion, Berta und Ilsemarie.
Am Abend dieses Tages, als der große Vortrag über die Todesursache der Spontantoten der 6. Armee gehalten wurde und der Begriff vom >Herz der 6. Armee< wie Blei in den Hirnen der Ärzte und Offiziere lag, saß Emil Rottmann in einem Zimmer der Sanitätsstabsbaracke Wallritz gegenüber und rauchte hastig.
«Du«, sagte er,»ich habe mir etwas überlegt. Wer weiß, wann ich wieder nach Gumrak komme, und ob überhaupt. Du mußt mir ein Lebensbillett besorgen…«
Sanitätsfeldwebel Wallritz sah kurz auf. Er schien gar nicht zu begreifen, was Rottmann gesagt hatte.
«Was willst du?«
«Hier 'raus, mein Junge. Und du allein kannst das.«
«Idiot!«
«Hör mal zu. «Rottmann beugte sich vor. Seine Schlangenaugen waren klein und gefährlich.»Wenn du den Helden spielen willst, ist das deine Sache. Von mir aus kannst du in einem Erdloch krepieren oder beim Iwan verhungern… ich jedenfalls will weiterleben. Das ganze Großdeutschland kann mich am Arsch lek-ken, und wenn du jetzt anfängst, von Kameradschaft zu quat-schen… die Kameraden sind gefallen! Kapierst du, ich will ausgeflogen werden.«
«Nein.«
«Was nein?«
«Ich kapiere das nicht.«
Rottmann lächelte böse.»Stell dich nicht doof, mein Freund. Du sollst mich krank machen und mir einen Zettel um den Hals hängen.«
«Hau ab, Spinner!«sagte Wallritz grob und drehte sich um. Rottmann faßte ihn an der Schulter und drehte ihn mit einem Ruck zu sich zurück. Sein Gesicht war jetzt rot und zuckte.
«Wallritz…«, keuchte er.»Es ist eine Minute vor zwölf, kapierst du das nicht? Ich will abhauen! Ich will 'raus aus der Scheiße, mit dem gleichen Trick, durch den du deinen Bruder gerettet hast…«
In Wallritz setzte der Herzschlag aus. Sigbart, dachte er. Ob er schon in Deutschland ist? Oder ob sie ihn erwischt haben? Verstecken wollte er sich, bis' der Krieg zu Ende ist, sich verkriechen wie ein Hamster und dem Frieden entgegenschlafen. Wallritz wischte sich mit zitternden Händen über die Augen. Erst jetzt kam ihm zum Bewußtsein, daß er nie mehr an seinen Bruder gedacht hatte.
«Na also«, sagte Rottmann gedehnt.»Jetzt fällt der Groschen. Ich garantiere dir, daß ich ebenfalls den Schwerverwundeten spielen kann.«
«Du bist ja besoffen, Emil!«Wallritz' Herz schlug wieder normal. Er beobachtete Rottmann aus den Augenwinkeln. Woher weiß er etwas, dachte er. Niemand war dabei, nur Dr. Körner. Keiner kann es wissen. Aber woher weiß Rottmann, daß ich einen Bruder habe? Woher weiß er, daß wir uns getroffen haben?» Schlaf dich aus…«, sagte er lässig. Rottmann atmete schwer. Seine Fäuste lagen auf dem Tisch, dicke, derbe, brutale Fäuste.
«Hör mal genau zu, Kleiner«, sagte er heiser vor Erregung.»Glaubst du, ich hätte wirklich meine Truppe verloren? Glaubst du, ich wäre bei euch geblieben, da vorne in der dicken Scheiße, nur weil mir euer Gesicht so gut gefällt oder weil ich eisenhaltige Luft gern inhaliere? Bist du so blöd, anzunehmen, ich spielte deinen Schatten, weil ich aus lauter Perversität deine Nähe brauchte?! Nee… du bist meine Lebensgarantie, Kleiner! Ich habe hinter dem Zelt gestanden und alles mitgekriegt, als du dein Brüderlein zum Krüppel machtest und ihm das Zettelchen um den Hals hängtest. Aha, habe ich da gedacht. So wird's gemacht! Und was die können, das kann der Emil Rpttmann auch! Nur muß man die Zeit gut abpassen! Und die ist jetzt da, mein Lieber… wir sind in Gumrak, und morgen schwirre ich ab in Richtung Muttern… mit deiner Hilfe!«
«Ein Mist wirst du!«schrie Wallritz und sprang auf. Gleichzeitig überlegte er, was er tun sollte. Rottmann wußte alles, er hatte ihn und Dr. Körner in der Hand. Das war eine Tatsache, die nicht mehr aus der Welt zu schaffen war. Nicht mehr aus der Welt -
Wallritz starrte Rottmann an. Sie standen sich gegenüber, mit verkniffenen Gesichtern und zu allem bereit.
Ich sollte ihn umbringen, dachte Wallritz. Bei den Haufen von Toten, die draußen vor der Tür im Schnee liegen, untersucht keiner mehr, woran er gestorben ist.
Er will mich töten, dachte Rottmann und grinste. Ich würde es an seiner Stelle auch versuchen. Aber so einfach ist es nicht, einen Rottmann um die Ecke zu bringen. Auch nicht in Stalingrad…
«Machen wir ein Geschäft, Kumpel«, sagte Rottmann heiser.»Schweigen gegen Weiterleben. Das ist reell!«
«Nein, du Sauhund.«
«Und wenn ich Meldung mache? Einen Tatbericht?«
Wallritz biß die Zähne aufeinander.»Damit kommst du auch in kein Flugzeug, du Schwein«, knirschte er.
«Aber du gehst dabei hops! Kriegsgericht, Todesurteil, zwölf Mann… legt an… Feuer… Ich kenne das. Ich habe als Feldgendarm fünfmal einen Delinquenten bewacht.«
«Na und? Besser so sterben, als in einem Erdloch zu verhungern oder von den Russen erschlagen zu werden. Mach doch deinen Tatbericht…«
Dann dachte er an Dr. Körner. Auch ihn würde man an die Wand stellen, wegen Mithilfe. Damals hatte Dr. Körner selbstlos geholfen, und Wallritz hatte geschworen, ihm das nie zu vergessen. Durch Rottmanns Tatbericht aber wurde aus Dank ein Todesurteil. Wallritz senkte den Kopf. Über sein eingefallenes blaßgraues Gesicht zuckte es.
Rottmann erkannte, daß er in eine Sackgasse geraten war. Eine Todesdrohung in Stalingrad ist lächerlich, das empfand er auch. Sein Scheck fürs Leben war faul geworden, er hatte keine Deckung mehr. Er versuchte es noch ein letztesmal, die Angst vor der Unerbittlichkeit stieg heulend in ihm hoch.
«Mensch, denk doch mal nach…«Rottmann schwamm auf der weichen Welle.»Du hast deine alte, vergrämte Mutter zu Hause. Ob dein Bruder durchgekommen ist, das weiß keiner. Wenn nicht, dann biste der einzige Sohn. Und auf den wartet sie. Soll man ihr sagen: Der Feldwebel Horst Wallritz ist hingerichtet worden? Das bricht ihr das Herz, das bringt sie um! Für dich ist es eine Kleinigkeit, mich als Schwerverwundeten zum Flugplatz zu bringen. Und daß ich einen Platz in einer Maschine kriege, Junge, das glaubste doch auch, was? Erst mal das Lebensbillett um den Hals und die Begleitpapiere… Wallritz, Horst, Mensch, sei kein Blödian… ich weiß nicht, warum du nicht abhaust, aber ich will hier 'raus! Sei doch vernünftig…«
Während dieser kläglichen Rede war unbemerkt Dr. Körner eingetreten. Er verhielt sich still an der Tür, bis Rottmann zu Ende war. Dann sagte er laut:
«Sie sind ein seltenes Miststück!«
Emil Rottmann fuhr wie gestochen herum.
«Herr Assistenzarzt…«, stotterte Wallritz.
«Seien Sie still, Wallritz. Ich habe einen großen Teil mit angehört.«
Er kam langsam auf Rottmann zu. Der Feldgendarm duckte sich etwas, spreizte die Finger, stieß das Kinn vor.»Keine Angst, ich haue Ihnen keine 'runter! Ich freue mich nur darauf, Sie wieder mitnehmen zu können in die Stadt. Tausende Kameraden verfaulen da in den Löchern… jeden Tag verbluten Hunderte… Dreihunderttausend hungern sich von Tag zu Tag… rennen gegen die russischen Panzer an, krallen sich in ihren Bunkern fest, lassen ihr Leben für einen Meter Boden… und Sie Schwein wollen türmen…«
«Ich bin kein Held!«schrie Rottmann wild.»Ich sehe nicht ein, warum ich hier in der Steppe verrecken soll! Warum und für wen?«
«Das wissen wir alle nicht. Aber jetzt ist jeder auf den anderen angewiesen! Und wenn Sie vor Feigheit in die Hosen machen, es kümmert sich keiner drum. Sie sind da, und das ist wichtig… Es stirbt sich leichter in Kameradschaft.«
«Ich will nicht sterben!«Rottmanns Augen quollen aus den Höhlen.»Ich will wie dieser Sigbart Wallritz ausgeflogen werden. Ich habe euch beide in der Hand, eure dämlichen Spruche ziehen nicht mehr, nicht bei mir! Ihr seid genau solche Schweine wie ich!«
Dr. Körner überlegte nicht lange. Er holte aus und schlug Rottmann quer übers Gesicht. Es klatschte, als wenn ein nasses Handtuch gegen eine Mauer pappte. Rottmann machte keine Bewegung der Abwehr, er nahm den Schlag hin, sein Kopf pendelte etwas. Junge, dachte er dabei, hat das schmächtige Kerlchen einen Schlag, dann schnaufte er wie ein gereizter Stier, drehte sich ab und rannte hinaus.
«Jetzt macht er seine Anzeige«, sagte Walkitz nach einer Weile Schweigen.»Ich… ich hätte vielleicht getan, was er wollte…«
«Sie haben Angst, Wallritz?«
«Ja, Herr Assistenzarzt.«
«Angst vor dem Sterben?«
«Nein. Aber ich denke an meine Mutter…«Wallritz senkte den Kopf. Seine Schultern zuckten.»Ich habe es damals… bei Sigbart… auch nur wegen Mutter getan…«
Dr. Körner nagte an der Unterlippe. Der Weg, den sie jetzt gehen würden, war ihm klar, Verhaftung, Verhör, Kriegsgericht, Todesurteil. Es wäre eine Illusion gewesen, anderes zu denken, anderes zu hoffen. Mein Leben ist sowieso abgeschlossen, dachte er. Es liegt unter den Haustrümmern der Lortzingstraße in Köln, in einem Keller, neben Marianne, der eine Luftmine die Lunge zerriß. Daß ich lebe, ist nur noch die Funktion des Körpers, der Wechselrhythmus von Herzschlag und Armen, der Kreislauf des Blutes, der Nerven und Muskeln antreibt. Mehr ist es nicht… Eine Seele? Wo habe ich sie? Ein Gefühl? Es wurde zur Erinnerung. Ein Lebenswille? Er erstickte mit der Luftmine in Köln.
«Wir werden erst morgen nacht wieder zurück in die Stadt können«, sagte er.»Wir haben fast vierundzwanzig Stunden Zeit. Sie bringen sich in Sicherheit, Wallritz.«
«Herr Assistenzarzt…«
«Ich werde dafür sorgen, daß Sie ausgeflogen werden.«
«Und Sie, Herr Assistenzarzt?«
«Ich?«Dr. Körner schüttelte müde den Kopf.»Mir passiert nichts mehr, Wallritz, was mich noch erschüttern könnte.«
Major Jewgenij Alexandrowitsch Kubowski führte einen heiligen Krieg gegen die sowjetische Militärbürokratie. Eingebrockt hatte ihm das salzige Süppchen der saubere Chefchirurg von Abschnitt Stalingrad-Mitte, Dr. Andreij Wassilijewitsch Sukow. Der Satan hole ihn, dachte Kubowski und spuckte gegen die Mauer. Eifersüchtig auf Olgaschka ist er, der Lümmel, das ist alles. Ärgern tut er sich, weil Olga nicht ihn küßt, sondern mich, den Major Kubowski. Und wie er knurrt, wenn Olga meine Wunde auswäscht und verbindet. Wie ein Bär knurrt er, unangenehm und trotzig.
Eigentlich hatte Sukow recht und handelte streng nach den Vorschriften, als er den verwundeten Offizier Kubowski sofort an den Frontmilitärrat meldete, denn schließlich war der Major, auch wenn er Sukow persönlich unangenehm war, ein dekorierter Offizier und ein tapferer Soldat. Was kommen mußte, kam auch prompt: Kubowski erhielt den Befehl, sich zur Ausheilung seiner Wunde und zur Erholung zum Sammelplatz jenseits der Wolga zu begeben.
«Eine Infamie!«schrie Kubowski, als ein unschuldiger Rotarmist ihm den Befehl übergab. Er zerriß den Meldezettel und rannte zu Olga Pannarewskaja. Sie operierte gerade einen Halsschuß.
«Täubchen!«schrie er.»Du weißt, was man mit mir machen will. Aber ich weigere mich! Ich verlasse die Stadt nicht ohne dich! Keiner kann mir das übernehmen. Und wenn ich mit dem Genossen Shukov selbst spreche… Was soll ich in Kasachstan? Soll ich die Schäfchen zählen? Ich bleibe.«
Dr. Sukov, der am Nebentisch einen Bauchschuß behandelte, sah zu dem schreienden Major hinüber.
«Bitte, gehen Sie hinaus, Genosse Major«, sagte er höflich.»Ich bin froh, daß meine Verwundeten ohnmächtig sind und ich die Anästhesie spare. Ich brauche zur Erweckung nicht Ihre Posaune…«
«Welch ein unhöflicher Mensch!«Major Kubowski küßte Olga in den Nacken.»Aber er soll unser Glück nicht stören, dieser Unmensch. Ich werde wie ein Bettler herumlaufen und sie alle überzeugen, daß ich keine Erholung in Kasachstan brauche.«
Er blieb an der Tür stehen und sah noch einmal zu Olga Pannarewskaja. Eine Schönheit, dachte er glücklich. Diese schwarzen Haare, diese Schultern, diese Brüste, die Hüften, die schlanken Beine in den hohen Juchtenstiefeln. Und diese Glut in ihrem Blut, dieser Wüstenwind in ihrem Atem. Ich bin ein glücklicher Mensch, wirklich. Und wenn draußen die Welt untergeht… ich habe sie geliebt, das kann mir niemand mehr nehmen.
Die Ärztin blickte kurz auf, ihre Blicke begegneten sich. Sie lächelten sich zu, es war eine innere Verbundenheit, die keine Worte brauchte. Dann beugte sie sich wieder über die Halswunde und vernähte das ausgezackte Loch in der Speiseröhre.
Sechs Stunden pilgerte Jewgenij Alexandrowitsch von Bunker zu Bunker, von Offizier zu Offizier, von Zuständigkeit zu Zuständigkeit. Er besuchte den Lazarettkommissar, drückte ihm die Hand und unterhielt sich mit ihm über das Schachspiel; er verhandelte mit dem Inspekteur des Sanitätswesens und erzählte vier scharfe Witze; er stand zwei Stunden im Vorbunker des Armeegenerals und versuchte dann zu erklären, daß ein Held auch mit einem Schulterschuß ein Held bleibe und den Vaterländischen Krieg nicht in Kasachstan, sondern in Stalingrad beenden sollte. Zuletzt meldete er sich bei dem Generalstabschef der Heeresgruppe Stalingradfront, dem Genossen Generalmajor Warennikow, und schilderte ihm seine Nöte. Neben Warennikow saß ein freundlicher, rundköpfiger Mann, der Typ eines lieben Bäuerleins, und er lächelte Major Kubowski an und nickte öfter beifällig zu seinen Argumenten.
Das machte ihm Mut. Er redete weiter, bis der freundliche Mann die Hand hob und abwinkte.
«Ich glaube, wir sollten ihn vorläufig als Transportoffizier an der Wolgafähre einsetzen, bis er wieder kampffähig ist«, sagte er zu Generalmajor Warennikow.»Ich freue mich, daß der Genosse Major so an dieser Stadt hängt.«
«Das wäre möglich, Genosse. «Generalmajor Warennikow winkte ebenfalls. Major Kubowski war entlassen. Vor der Tür traf er auf einen Hauptmann und hielt ihn fest.
«Da drinnen sitzt ein lieber Mann«, sagte er.»Ich kenne ihn nicht. Aber er sieht aus wie ein Bauer und spricht wie ein General. Wer ist's, Brüderchen?«
Der Hauptmann sah den Major verblüfft an.»Das ist ein Genosse vom Frontkriegsrat, direkt aus Moskau. Nikita Sergejewitsch Chruschtschow heißt er…«
«Nie gehört.«
«Ein unbekannter Mann, Genosse Major.«
Kubowski ging weiter zur Leitstelle, um dort auf sein Kommando zu warten. Als er eintrat, wußte man bereits von ihm. Der Generalstabschef hatte angerufen.»Sie werden das Übersetzen der Panzer und LKW über die Wolga leiten«, sagte ein Oberst zu ihm.»Leider kann ich Ihnen nur die Zentral-Fähre anbieten. Die Stadt-Fähre ist besetzt.«
«Warum leider, Genosse Oberst?«
«An der Zentral-Fähre haben wir die meisten Ausfälle außerhalb der Stadt. Sie liegt unter Beschuß schwerer deutscher Artillerie. Machen Sie es gut, Major.«
So kam Jewgenij Alexandrowitsch Kubowski als Kommandant an die Wolga.
Es war ein leichter Dienst, wenn man davon absah, daß er eine gute Lunge erforderte und eine genaue Kenntnis aller Flüche von Minsk bis Astrachan. Gebrüllt wurde vom Tag bis in die Nacht und die Nacht hindurch bis zum neuen Tag. Die gewalzte Straße über das Eis der Wolga war dauernd verstopft durch Idioten, die keinen Wagen lenken konnten, sich querstellten und alles blockierten. Dann schoben dreißig Rotarmisten das Fahrzeug von der Bahn. Am schlimmsten war es, wenn Pferdefuhrwerke kamen. Das war meistens nachts. Sie brachten Verpflegung für die Zivilbevölkerung Stalingrads, die immer noch zu Tausenden in den Kellern hockten oder am Steilhang in den Erdlöchern, wimmelnde Riesenratten, die den Sanitätern halfen, die Wasser und Tee nach vorne schleppten, die Verwundeten aus den Trümmern zogen, die Brot backten und Suppen kochten. Eine große Familie waren sie alle, die ehemaligen Fabrikarbeiterinnen aus den Traktoren- und Kanonenwerken, die Mütter und die Greise, ja selbst die Kinder, die in den Feuerpausen durch die zerstampfte Stadt krochen und Holz sammelten. Für sie brachten die Panjewagen das Essen heran. Major Kubowski raufte sich die Haare, wenn er die Kette der Pferdewagen kommen sah. Gleichzeitig drängten die Panzer zur Wolga, die Kompanien der Ersatztruppen, die Werkstattwagen, Verwundetentransporte, Kesselwagen mit Benzin und Motorenöl. Sie alle wollten über die Wolga, über einen schmalen Streifen dicken, glatten Eises, und Kubowski schrie sich die Lunge wund, regelte den Verkehr und wurde mit Namen bedacht, die vom Wolfshund bis zum Bastard einer mongolischen Hure reichten.
Am 30. Dezember 1942, bei 32 Grad Kälte und einem eiskalten Wind aus der Steppe von Kasachstan, stand Jewgenij Alexandrowitsch Kubowski, eingehüllt in einen dicken Schafspelz, auf dem Wolgaufer und kontrollierte die Marschpapiere einer Minenwerferabteilung. Er hatte schon den ganzen Tag über ein dummes Gefühl gehabt. Olgaschka hatte ihn angerufen und ihm gesagt, daß sie furchtbar geträumt habe.
«Ich träume sonst nie, Jewgi…«, sagte sie, und es war das erstemal, daß sie ihn Jewgi nannte. Kubowski hatte wie ein Truthahn geseufzt und verflucht, daß zwischen ihnen die Wolga lag und einige Kilometer Mondlandschaft.»Ich habe solche Angst um dich…«
Da hatte er gelacht und geantwortet:»Olgaschka, welche Gedanken! Bis auf den Ärger mit den Idioten — du glaubst nicht, wieviel Hirnlose in der Roten Armee dienen — fühle ich mich wohl. Die Wunde heilt gut, bald werde ich wieder bei dir sein.«
In Wahrheit hatte auch er schlecht geschlafen. Es war ihm ein paarmal, als müsse er ersticken. Erst gegen Morgen konnte er ruhig schlafen.
An diesem 30. Dezember, bei 32 Grad Kälte und einem Wind aus Kasachstan, hatte ein deutsches Aufklärungsflugzeug festgestellt, daß aus der Steppe neue Panzereinheiten zur Wolga rollten. Um die Mittagszeit mußten sie am Wolgaufer eintreffen und versuchen, in die Stadt überzusetzen.
Genau um 13 Uhr — Kubowski hatte einen Teller Kascha mit Salzfisch gegessen und verspürte einen schrecklichen Durst — brüllten in Stalingrad die letzten schweren Geschütze der deutschen Artillerie auf. Es waren drei massierte Feuerschläge, genau auf das Wolgaufer und auf das Eis.
Major Kubowski hörte es in der eiskalten Luft heransurren… es pfiff, orgelte und dröhnte, summte, jaulte und kreischte… Mit einem wilden Satz hetzte er zu seinem Deckungsloch. Das ist doch nicht möglich, dachte er. Warum schießen sie denn? Nichts steht am Ufer, nur eine armselige Minenwerferkompanie. Die Panzer warten dort im Hinterland, bis es Nacht ist. Warum schießen sie denn, die feldgrauen Verschwender?
Er kam nicht mehr bis zu seinem Loch. Vor und hinter ihm riß die Erde auf… das war das letzte, was er erkannte. Dann hob ihn eine Riesenfaust vom Boden weg und schleuderte ihn mitten hinein in die anderen Detonationen.
Dir Rotarmisten, die ihn später suchten, fanden von Major Kubowski nur seinen Kopf und einen Stiefel ohne Bein.
Ein Irrtum der deutschen Artilleriebeobachtung hatte ihn ausgelöscht. Olga Pannarewskaja stand starr, als Chefchirurg Sukow ihr die Mitteilung machte.»Er war sofort tot«, sagte er tröstend >Er hat nichts gespürt…«
Da erst lief ein Zittern durch ihren Körper. Mit der Wildheit einer Raubkatze sprang sie vor, hob die Fäuste, und während Su-kow erschrocken und fasziniert von dieser wilden Schönheit mit offenem Mund untätig dastand, hieb sie mit den Fäusten auf den Operationstisch, rannte im Zimmer von Wand zu Wand, hieb gegen die Bohlen und Steine und schrie mit sich überschlagender Stimme:
«Ich hasse sie… ich hasse die Deutschen! Der Himmel sei mein Zeuge… ich werde keinen Deutschen schonen! Keinen! Keinen! Ich hasse sie… ich hasse sie…«
Dann fiel sie über einem Toten, den man eben vom Tisch gehoben hatte, zusammen. Sukow ließ sie liegen und faßte sie nicht an. Es war besser so, dachte er… ein gereizter Tiger kennt weder Freund noch Feind.
Das Lebensbillett für den Sanitätsfeldwebel Horst Wallritz verschaffte sich Dr. Körner durch einen Trick.
Der Gedanke war ihm plötzlich gekommen, und wie so oft im Leben sind die anscheinend kompliziertesten Dinge die einfachsten. Er beobachtete das Raus und Rein in den Operationszelten und Baracken der Verwundetenstadt am Bahnhof von Gumrak. Vor ein paar Wochen hatte er hier selbst mit Dr. Portner eine der >Auslesestationen< gehabt, die schreckliche Macht über Leben und Tod. Wenn auch nur ein Bruchteil der Verwundeten mit dem Transportzettel um den Hals einen Platz in einem der ausfliegenden Flugzeuge erhielt, denn Tausende warteten seit Tag und Wochen, zu grauen Klumpen geballt und wie Riesenmaden durch den Schnee kriechend, am Rand der Rollfelder, so war doch immer noch eine Chance drin, die Heimat wiederzusehen. Wer keinen Zettel bekam, wußte, daß er im Kessel von Stalingrad blieb. Endgültig. Geopfert für den Führer und Großdeutschland.
In dem blauen Zelt operierten vier Ärzte und drei Unterärzte. Es war Fließbandarbeit, Demontage von Leibern. Die Träger, die die versorgten Verwundeten wieder hinaustrugen, achteten gar nicht mehr darauf, ob der Oberfeldwebel am Schreibtisch ihnen einen Zettel umgehängt hatte oder nicht… sie rannten in die Baracken oder Eisenbahnwaggons, kippten die Verwundeten in das Stroh, so wie man einen Karren Kompost wegschüttet, und trabten schnell zurück.
Dr. Körner wartete fast. eine Stunde und beobachtete den Betrieb. Er sah, wie fremde Ärzte in das Zelt gingen und es wieder verließen, zwei Lastwagen mit neuen aufgerissenen Leibern fuhren vor, jemand brüllte:»Weiterfahren! Weiterfahren! Zu Lazarett VI! Unsere Müllkippe ist voll!«, ein einsamer Tigerpanzer mit halbem Turm ratterte yor und lud einen kopfverletzten Leutnant aus, es war nicht mehr zu kontrollieren, wer nun zum Lazarett gehörte und wer nicht.
Das nutzte Dr. Körner aus. Er rannte in das Zelt, geradewegs auf den Oberfeldwebel am Schreibtisch zu und streckte die Hand aus.
«Los, geben Sie mir so 'nen Wisch! Da hat ein Kerl den Zettel vollgekotzt!«
Der Oberfeldwebel sah gar nicht auf. Er reichte Dr. Körner den Transportzettel, aber er malte gewissenhaft einen Strich auf ein Stück Papier. Für heute hundert Lebensbilletts, mehr gab es nicht. Man kontingentiert das Leben. Aber auch diese hundert waren sinnlos. Die Flugplatzkommandanten von Gumrak und Pitomnik schrien und brüllten, weil das Heer der Verwundeten die Startbahnen blockierte und die Maschinen stürmte, sobald sie ausgerollt waren.
«Ich… ich tue es nicht«, sagte Wallritz, als Dr. Körner mit dem Lebensbillett zurückkam.»Vielleicht waren es von Rottmann nur leere Drohungen.«
«Wollen Sie darauf warten? Los! Sie haben Ihre Mutter, für die Sie weiterleben müssen. Das ist ein Ziel! Ich habe keines mehr, auf mich wartet niemand… Kommen Sie…«
Was nun folgte, war gespenstig.
Zwischen den niedergebrochenen Balken eines Geräteschuppens kniete Dr. Körner vor. Wallritz. Der Feldwebel lag auf seinem Mantel, die Brust entblößt, zitternd vor Kälte und Erregung. Dr. Körner hatte sein chirurgisches Notbesteck neben sich auf einer Lage Zellstoff ausgebreitet und schnitt einen Finger seiner Gummihandschuhe ab.
«Wird es nicht auffallen?«keuchte Wallritz.
«Nicht, bis Sie jenseits des Kessels sind. Dort müssen Sie sich weiterhelfen. Melden Sie sich als Versprengter… Was man auch mit Ihnen macht, eines ist sicher: Sie kommen nie mehr nach Stalingrad zurück! Man wird Sie in irgendeinem Lazarett einsetzen und froh sein, einen Fachmann mehr zu haben.«
Dr. Körner entzündete ein Hindenburglicht und stellte es auf einen Balken über den Kopf von Wallritz. Dann beugte er sich vor und rieb mit harten Händen die eiskalte Brust des Feldwebels warm.
«Ich werde Ihnen keine Anästhesie machen«, sagte er dabei.»Sie müssen den Schmerz aushalten. Und wenn Sie sich die Zähne abbrechen… beißen Sie sie zusammen…«
Wallritz nickte stumm.
«Ich täusche bei Ihnen einen Lungenschuß vor«, sagte Dr. Körner.
«Einen was?«
«Lungenschuß. Jeder Arzt, der Sie nur ansieht, wird Sie sofort weiterleiten. Und jetzt halten Sie still, Wallritz. Beißen Sie die Zähne zusammen.«
Den ersten Schnitt spürte Wallritz nicht sonderlich. Dr. Körners Skalpell machte in die rechte obere Brustwand einen 6 cm langen Schnitt durch Haut und Muskulatur. Erst als Dr. Körner daranging, mit einigen weiteren Schnitten Haut und Muskulatur mitzunehmen, die Wunde aufzufetzen, daß sie wie ein Schuß aussah, und dann wieder säuberte, jagte der Schmerz Wallritz bis ins Gehirn. Er stöhnte und warf den Kopf auf dem nassen Mantel hin und her.
«Es wäre gut, wenn Sie ohnmächtig würden«, sagte Dr. Körner ruhig.»Denn jetzt geht es erst los.«
Mit einem selbsthaltenden Haken spreizte er die Schnittwunde. Dann legte er zwischen zwei Rippen einen kleinen Schnitt an, entfernte etwas Haut, indem er eine Hautfalte mit der Pinzette aufhob und am Grunde der Falte das hochgezerrte Hautstück abschnitt.
Dieser Schnitt war kritisch. Er ging in die Tiefe des Brustkorbes. Dr. Körner hatte deshalb, bevor er die Hautfalte anschnitt, eine lose Naht um die künstliche Schußwunde gelegt… er zog diese Naht sofort zu, bevor er die Hautfalte herauspräparierte.
Wallritz lag kalkweiß und hatte die Augen geschlossen. Dr. Körner tastete nach seinen Lidern. Wallritz schüttelte den Kopf.
«Ich bin wach, Herr Assistenzarzt…«
«Die Schußwunde haben wir. Nun machen wir sie zu, und dann kommt der Trick.«
Dr. Körner vernähte die Wunde schichtweise und klebte ein Heftpflaster darüber.
Es begann heftig zu schneien. Zwischen die Balken des zerschossenen Geräteschuppens wirbelten die dicken Flocken und legten sich über die nackte Brust Wallritz'. Die armselige Kerze über seinem Kopf flackerte.
Draußen, auf der Straße zum Flugplatz, gab es einen Krach. Ein Munitionsschlepper war in einen vom Schnee zugeschütteten Bombentrichter gefahren und saß fest.
«So ein Hurending!«brüllte eine Stimme.»Alle Mann 'ran! Die Zuckerhüte müssen heute noch zur 14. Panzerdivision…«Es waren Granaten für die Tigerpanzer, die in der deckungslosen Steppe bei Nowo Alexejewskij lagen.
Dr. Körner zog seinen Mantel aus und hängte ihn zwischen die Balken über sich und Wallritz, ein nasses, triefendes Dach von einem Quadratmeter. Aber es hielt den Schnee ab, es schenkte das Gefühl von Geborgenheit.
Mit klammen Fingern, die er immer wieder gegen den Körper schlug, um die stockende Durchblutung anzuregen, operierte er weiter.
«Was nun?«fragte Wallritz mit klappernden Zähnen.
«Nun kommt der Pneumothorax, Ihr lebensgefährlicher Lungenschuß…«
Er nahm eine dicke Kanüle, drückte mit dem Finger noch einmal suchend auf die geplante Stelle und stieß dann neben und etwas unterhalb der Brustwarze, unter der vorher gelegten künstlichen Schußwunde, die Kanüle in die Brust.
Wallritz stöhnte auf. Seine Hände krallten sich in den nassen Mantel und die gefrorene Erde, seine Beine zuckten, der Mund riß auf… aber er schrie nicht, er rang nur nach Luft und verging in einer grenzenlosen Angst.
Dr. Körner hielt den Daumen auf den Ansatz der in der Brust sitzenden Kanüle. Noch war keine Außenluft in den Brustkorb gekommen, die Hohlnadel war durch den Daumen verschlossen. Er wartete, bis sich Wallritz wieder beruhigt hatte. Dann hob er den Daumen und ließ vorsichtig Luft in den Brustkorb eintreten.
Wallritz wurde wieder unruhig. Er riß die Augen auf und starrte Dr. Körner flehend an. Sein Atem wurde schneller und stoßend, eine unbeschreibliche Beklemmung auf der Brust jagte Todesangst durch ihn… in diesem Augenblick stülpte Dr. Körner den abgeschnittenen Finger seines Gummihandschuhs über den Nadelansatz und befestigte ihn mit einer Schlinge aus Catgut.
Die Todesnot hörte auf, nur das schnelle, stoßweise Atmen blieb. Die letzten Handgriffe waren nur noch eine Verfeinerung und schmerzten nicht mehr. Dr. Körner schnitt in die Fingerkuppe des abgeschnittenen Gummihandschuhfingers einen kleinen Schlitz.
Die Folge war verblüffend. Beim Einatmen ließ der Fingerling jetzt die in den Brustraum eingetretene Luft ausblasen, bei der Ausatmung dagegen ließ er keine Luft mehr eintreten. Der abgeschnittene Finger des Gummihandschuhs war zu einem Ventil geworden.
Dr. Körner beobachtete den künstlichen Pneumothorax. Wenn Wallritz einatmete, blähte sich der Fingerling hoch auf, atmete er aus, fiel er zusammen wie ein angestochener Luftballon. Es sah sehr eindrucksvoll und vor allem überzeugend aus. Wallritz hob etwas den Kopf. Die eisige Kälte, die er bisher nicht gespürt hatte, zerfraß ihn fast.
«Was… was ist, Herr Assistenzarzt«, stammelte er.
«Alles in Ordnung. Sie haben jetzt einen so kompletten Lungenschuß, daß jeder Arzt Sie auf Händen tragen wird. Noch fünf Minuten, dann ist's vorbei.«
Dr. Körner befestigte die Pneumothoraxkanüle mit Heftpflaster an der Brustwand, legte einen Querverband um die Brust an und konstruierte aus Sicherheitsnadeln und Heftpflaster eine Stütze für die Hohlnadel, damit sie außen aus dem Verband heraus möglichst senkrecht hervorstand. Dann half er Wallritz auf, zog ihm die Uniformjacke wieder an und hängte ihm den Mantel um die Schultern. Wallritz starrte auf den kleinen Luftballon in seiner Brust, der auf und ab quoll.
«Natürlich sind Sie nur liegend transportfähig, vergessen Sie das nicht, Wallritz. Wenn Sie mit diesem Pneu fröhlich herumtraben, glaubt Ihnen das keiner.«
Er schob die Kerze näher zu sich, zog die Knie an, legte seine Meldetasche darauf und füllte den Begleitzettel aus, das Lebensbillett. Er schrieb:
Lungensteckschuß. Geschoß entfernt. Chirurgische Versorgung der Wunde und Naht. Ableitung des Pneumothorax mittels Gummiventil. Verlegung in Etappenlazarett zwecks weiterer Behandlung. Tetanusserum. Sulfonamid.
Unterschrift: Dr. Hammer, Stabsarzt.
Er hängte das Schild Wallritz um den Hals und klopfte ihm dann auf die Schulter. Wallritz standen die Tränen in den Augen.
«Ich werde Ihnen das nie danken können, Herr Assistenzarzt…«
Dr. Körner kroch aus dem rauchgeschwärzten Gebälk des Geräteschuppens. Der Munischlepper saß noch immer im Trichter.
Ein Feldwebel brüllte, als wären seine Worte ein hydraulischer Wagenheber, der den Wagen aus dem Loch schieben könnte. Dr. Körner sah auf seine Uhr. 23.27 Uhr. Die Operation hatte kaum eine halbe Stunde gedauert. Wallritz kroch hinter ihm her, die Hand schützend über seinem kleinen Luftballon in der Brust.
Nach Mitternacht waren sie auf der Straße zum Flugplatz Gumrak. An einem dicken Strick zog Dr. Körner eine Trage wie einen Schlitten durch den Schnee. Auf ihr lag Wallritz, mit den Mänteln von drei Toten zugedeckt und eingewickelt. An ihnen vorbei ratterten LKW und Panzer, Motorräder und Pferdewagen. Sie wurden mit Schnee und Eis bespritzt, zur Seite in die Verwehungen gedrückt und mit Flüchen überschüttet. Aber niemand hielt an, niemand nahm den Mann auf der Trage mit, den ein junger Arzt durch den Schnee zog, umheult vom Steppenwind, mit vereistem Gesicht und gefühllosen Beinen. Hunderte, Tausende marschierten, schwankten, krochen und wälzten sich über die Straße zum Flugplatz, hangelten an haltenden Autos hoch und sprangen die nach rückwärts fahrenden Panzer an wie Raubkatzen. Nur zurück… zurück… nach Westen… weg aus der Stadt, weg aus dem Ring, der sich immer enger zog… zum Flugplatz… zum Flugplatz… zur letzten Hoffnung…
Nach einer Stunde saß Dr. Körner erschöpft auf einem Eishügel am Rand der Straße. Er konnte nicht mehr weiter. Die Steppe, die Schneewüste, die Fahrzeuge drehten sich vor seinen Augen, sie wurden rosa und blau und gestreift und gefleckt. Er schrak auf, als ihn eine Welle Schnee und Dreck überschüttete. Ein Autokühler ragte bubbernd und schwankend vor ihm auf.
«Lad dinge Patient an …«, rief jemand im breitesten Kölsch.»Äwwer mach schnell, sonst kumme die anderen nooch…«
Dr. Körner faßte Wallritz unter wie ein Kind. Er schwankte mit ihm um den Wagen herum, vier Arme griffen zu, hoben den Körper unter die Zeltplane. Der Motor heulte auf.
«Leb wohl…«, schrie Dr. Körner und hob die Hand. Er sah die großen Augen von Wallritz auf sich gerichtet, er sah, daß er etwas zurückschrie, aber es ging unter im Heulen des Motors und im Anfahren der Räder. Wieder überschüttete ihn ein Schwall von Schnee, Eis und Dreck… die Plane fiel über den Einstieg, der Wagen ratterte weiter.
«Aus dem Weg, du Rindvieh!«brüllte jemand. Eine Kolonne Kradfahrer brauste an ihm vorbei.
Zwischen Benzinfässern und Säcken mit MG-Munition lag Horst Wallritz, beide Hände über sein Gummiventil gewölbt. Sie fahren durch bis Pitomnik, dachte er. Sie haben es mir gerade gesagt. Und in Pitomnik ist es leichter, eine Maschine zu bekommen. Das sagen sie alle. In Pitomnik landen dreimal mehr Maschinen als in Gumrak.
Er drehte den Kopf zur Seite, preßte die Stirn gegen einen Benzinkanister und weinte.
Emil Rottmann blieb verschwunden.
Bei der Rückkehr nach Stalingrad fehlte er. Dr. Portner machte die vorschriftsmäßige Meldung über die Verwundung des Sanitätsfeldwebels Wallritz. Emil Rottmann meldete er als vermißt. oder versprengt. Er wollte keine Schwierigkeiten haben mit der Äußerung des Verdachts auf Fahnenflucht.
Am Abend des 31. Dezember 1942 bekam das Lazarett in den Kellern des Kinos von Stalingrad Besuch.
Der Wehrmachtsbericht hatte an diesem Tag nur einen einzigen Satz für die sterbende 6. Armee übrig:»Transportverbände der Luftwaffe versorgten vorgeschobene Kräftegruppen…«Nicht mehr. Es war genug. Zum Jahreswechsel klingt es nicht gut, wenn man sagen würde: 300000 deutsche Soldaten gehen ihrer Vernichtung entgegen. Die Lage an der gesamten Stalingradfront war hoffnungslos. Die 8. italienische Armee war nur noch ein Fragment, ein loser, aufgerissener Haufen angstschlotternder Sonnenkinder, die bei 40 Grad Kälte in Eislöchern lagen und von der Adria träumten. Bei den Heeresgruppen A und B war es nicht anders… die Kaukasusfront sollte geräumt werden, an Donez und Tschir drängten die Sowjets, die rumänischen Einheiten mußten aus der Front gezogen werden, da sie kompanieweise überliefen oder einfach die Waffen wegwarfen, die Heeresgruppe >Don< wartete mit angehaltenem Atem auf die kommende russische Offensive, die das Ende bedeuten würde… und im Kessel begann man, Suppen aus Sägemehl zu kochen und Pudding aus Fußpuder.
Am Abend des 31. Dezember 1942 traf der Neujahrsgruß aus dem Führerhauptquartier ein. Ein Funkspruch:
Die 6. Armee hat mein Wort, daß alles geschieht, um sie heraus zuhauen. Adolf Hitler
Ober das Radio kam auch der Wortlaut des Neujahrsspruches, den Hitler an Generaloberst Zeitzier, den Chef des Oberkommandos des Heeres, sandte. In den Kellern und Bunkern der Kompanie-und Bataillonsgefechts stände hörte man ihn, und man sah sich an, ungläubig, entsetzt, ratlos oder in ohnmächtiger Wut. Man löffelte seine Suppe aus Pferdeknochen und Sägemehl und tastete nach dem Brotbeutel, in dem die Feiertagsverpflegung kullerte. Genau abgezählt in die dreckigen, aufgerissenen, schwieligen Soldatenhände: fünfundzwanzig getrocknete grüne Erbsen, sechsunddreißig weiße Bohnen und eine Vierteltasse Linsen. Ein fürstliches Essen, ein feudaler Neujahrsschmaus.
Und die Stimme im Radio verlas die Grußbotschaft des Führers:
… Die 6. Armee muß aushalten. Wir werden sie entsetzen, das wird einstmals der glorreichste Sieg der deutschen Wehrmacht sein.
Auch Dr. Portner und Dr. Körner hörten die Silvestersendung des Großdeutschen Rundfunks. Sie operierten dabei. Während im Führerhauptquartier der Sekt kalt gestellt wurde, ging der Kampf um den >Tennisschläger< weiter, wurden die Trümmer der Stadt immer wieder umgepflügt, schleppte man die zerfetzten Leiber in ununterbrochener Monotonie in die Keller. Unter den großen Worten von Heldentum und glorreichstem Sieg wurde gestorben und amputiert, geschrien und gefiebert, gebetet und geflucht.
Dr. Portner sah kurz von seinem blutigen Küchentisch auf, als drei Männer in den OP-Keller traten, ein Offizier und zwei Unteroffiziere. Sie hatten wie in Friedenszeiten Koppel und Pistole umgeschnallt, einen nicht weiß gestrichenen Stahlhelm auf und bauten sich an der Tür wie zu einer Parade auf. Der Offizier, ein Oberleutnant, grüßte stramm.
«Oberleutnant Barritz von der Feldgendarmerie-Staffel V Gum-rak. Ich habe den Befehl, eine Verhaftung vorzunehmen. «Dr. Portner blickte wieder hoch.»Was haben Sie?«Er sah nicht, wie Dr. Körner wortlos seine Pinzette hinlegte, vom Küchentisch zurücktrat und seine Hände in die Waschschüssel tauchte. Es ist soweit, dachte er. Hoffentlich ist Wallritz längst jenseits des Kessels.
«Sie haben einen Assistenzarzt Dr. Körner hier?«
Dr. Portner blickte sich zu Dr. Körner um.»Was soll das, Kör-ner? Man will Sie verhaften? Wer denn? Ja, haben denn die Kerle in Gumrak Scheiße im Gehirn?!«Er hieb mit der Faust auf den Küchentisch. Der Verwundete, der darauf lag, spürte es nicht mehr. Er hatte einen Granatsplitter in der Brust und fieberte.»Was ist hier los?«brüllte Dr. Portner.
Der Oberleutnant holte aus der Meldetasche einige eng beschriebene Blätter.»Es liegt eine beeidete Anzeige vor, daß der Sanitätsfeldwebel Horst Wallritz und der Assistenzarzt Dr. Körner dem Funker Sigbart Wallritz, einem Bruder des Wallritz, zur Fahnenflucht mittels einer vorgetäuschten Verwundung verholfen haben…«
Dr. Portner zog die Schultern hoch. Er fror plötzlich in dem überheizten, stickigen Keller.
«Ist das wahr, Körner?«fragte er leise.»Halt, sagen Sie nichts… Das ist doch alles Dummheit!«
«Es ist wahr, Herr Stabsarzt.«
«Sie Rindvieh!«Dr. Portner ging auf den Oberleutnant zu.»Sie haben nichts gehört, Herr Oberleutnant«
«Leider doch, Herr Stabsarzt. Merkwürdigerweise ist auch der Sanitätsfeldwebel verschwunden.«
«Er bekam einen Lungenschuß und blieb in Gumrak.«
«Das glauben wir nicht. Die Anzeige — «
«Scheiß auf die Anzeige!«schrie Dr. Portner.»Wer hat sie gemacht?!«
«Der Feldwebel der Feldgendarmerie Emil Rottmann.«
«Der ist ja selbst abgehauen!«
«Nein, er ist bei uns und wird als Zeuge gegen Dr. Körner bereitgehalten.«
Dr. Portner wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn. Mein Gott, dachte er nur. Mein Gott! Er sah wieder zu Dr. Körner hinüber. Der band die Gummischürze ab und zog einen zerschlissenen Rock an. Das Gefühl, den eigenen Sohn herzugeben, wurde übermächtig in ihm.
«Was machen Sie denn, Körner?«brüllte er.»Ziehen Sie sofort die Schürze wieder an und arbeiten Sie weiter.«
Der Oberleutnant der Feldgendarmen verstaute den Haftbefehl wieder in der Meldetasche. Er war verpflichtet, nach dem Paragraphen zu handeln, eine eigene Meinung war nicht gefragt.
«Wir müssen den Verhafteten mitnehmen nach Gumrak«, sagte er steif. Dr. Portner hieb wieder auf den Tisch.
«Nein!«
«Herr Stabsarzt — «..
«Ich sage nein! Ich brauche meine Ärzte, um Menschenleben zu retten, nicht um sie erschienen zu lassen!«
«Der Befehl — «
«Lecken Sie mich am Arsch mit Ihrem Befehl!«brüllte Dr. Portner außer sich.»Ich weigere mich, meinen Assistenten herzugeben! Gehen Sie durch die Keller… dort liegen einige Hunderte Verwundete, die täglich versorgt werden müssen! Sie vermodern hier, weil kein Fahrzeug vorhanden ist, sie nach Gumrak oder Pitomnik zu bringen! Aber Sie, meine Herren, haben einen Kübelwagen, Sie haben Sprit, Sie haben Öl, wenn es darum geht, einem idiotischen Paragraphen den Gipfel der Idiotie aufzusetzen!«
«Von jeher war Fahnenflucht — «
«Fahnenflucht! Weht Ihnen immer noch die Fahne voran, die mehr sein soll als der Tod?! Stecken Sie noch nicht genug mit der Nase in der Scheiße, um zu begreifen, daß wir alle, Sie und ich und die armen Kerle nebenan in den Kellern und die dreihunderttausend, die im Kessel verschimmeln, Opfer eines Verbrechens sind?!«
«Herr Stabsarzt — «, stotterte der Oberleutnant.
«Melden Sie das, mein Lieber! Das ist Defätismus. Jawohl! Wehrkraftzersetzung! Und Ihrem Kriegsgerichtsrat gönne ich, daß jemand ihm in die Fresse schießt und dann kein Arzt da ist, der ihn versorgt. Bedauere, Herr Kriegsgerichtsrat, aber der zuständige Arzt ist von Ihnen an die Wand gestellt worden! Nun verrecken Sie, Herr Kriegsgerichtsrat! Mit dem Gesetzbuch unterm Arm und dem Führerwort im leeren Gehirn. Und wenn Sie Schmerzen haben, singen Sie Ihre Paragraphen herunter, das beruhigt…«Dr. Portner drehte dem konsternierten Oberleutnant den Rücken zu.»Und nun gehen Sie… ich muß operieren, oder ich muß dem Divisionsarzt melden, daß zehn Verwundete nicht versorgt werden konnten, weil ein Kettenhund im OP-Bunker knurrte…«
Der Oberleutnant wurde rot und schluckte.»Sie werden es mir nicht verübeln, Herr Stabsarzt, wenn ich diese Beleidigung eines Offiziers an die Division weitergebe…«
«Bitte. Und einen schönen Gruß von mir an den General Gebhardt…«
«Der kritischen Lage wegen belassen wir den Verhafteten bei Ihnen. Wir stellen ihn unter Hausarrest…«»So etwas muß man sich ruhig anhören!«schrie Dr. Portner.»Ein Keller mit hundert Sterbenden… und dann Hausarrest.«
«Sie bürgen mir für den Herrn Assistenzarzt.«
«Raus!«Dr. Portner beugte sich über den Verwundeten auf dem Küchentisch, den Mann mit dem Granatsplitter in der Brust. Er war tot.»Sofort 'raus… ich scheue mich nicht, Ihnen die Leiche eines für Führer und Großdeutschland gefallenen Helden an den Kopf zu werfen…«
Dr. Körner trat langsam auf den empörten und vor Erregung sprachlosen Oberleutnant zu.»Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort, daß ich hierbleibe und mich der Anklage zur Verfügung stelle«, sagte er deutlich.
Der Oberleutnant grüßte.»Danke, Herr Kamerad. «Er machte eine Kehrtwendung und verließ schnell den OP-Keller. Seine beiden Unteroffiziere folgten ihm mit klirrenden, blankgeputzten Brustschildern. Dr. Portner lehnte sich an den Küchentisch und schleuderte von der Handfläche zwei Pervitintabletten in den Mund.
«Sie haben wohl nicht alle Tassen im Schrank…«, sagte er, als er sie geschluckt hatte.»Wie konnten Sie so etwas machen?«
«Ich werde Ihnen das alles heute nacht erzählen, Herr Stabsarzt.«
«Und der Lungenschuß von Wallritz? Auch gedreht?«
«Ja.«
«Mensch… wissen Sie, daß es um Ihren Kopf geht?}«
«Ja. Aber mein Kopf ist mir nichts mehr wert…«
«Aber mir! Und denen da draußen, die Sie brauchen! Himmel, Arsch und Wolkenbruch!«Die Pervitintabletten wirkten. Das Herz schlug schneller, das Blei in den Gehirnwindungen schmolz.»Ich werde sofort den Divisionsarzt anrufen. Vielleicht sind Sie zu retten…«
Der Divisionsarzt war nicht da. Er befand sich in Pitomnik zur Lagebesprechung. General Gebhardt war ebenfalls auf Inspektion im Kessel, nur Oberst von der Haagen war erreichbar.
«Ich weiß, ich weiß«, sagte er abweisend.»Mir ist der junge Mann schon lange aufgefallen. Unangenehm aufgefallen. Zuletzt bei der Sektion der merkwürdigen Toten. Er hat da ein Wort geprägt, das allein schon wehrunwürdig ist.«
«Das Herz der 6. Armee…«
«Sie sagen es! Unerhört, nicht wahr?«Die Stimme von der
Haagens wurde schnarrend.»Ich bin der Ansicht, daß man den Mann bestrafen sollte. Exemplarisch! Es gibt gute und abschrek-kende Beispiele! Von den letzteren haben wir viel zu wenig im Kessel, um die Moral der Truppe zu stützen…«
Wortlos hängte Dr. Portner ein.
Aus, dachte er. Man wird ihn an die Wand stellen. Umgeben von 11 sowjetischen Armeen, in einem Kessel, in dem 300 000 deutsche Soldaten von ihrem Führer geopfert werden, wird man einen jungen Arzt standrechtlich erschießen. Und man wird dazu ein Recht haben und einen Paragraphen.
Wo aber ist der Paragraph aus einem Recht, der den an die Wand stellt, der mit großen Worten eine ganze Armee ermordet? 300 000 Menschen vor den Augen der fassungslosen Welt? Wo ist dieser Paragraph…«
In der Nacht zum 2. Januar holten sie Dr. Körner ab.
Nach Gumrak.
Zum Kriegsgericht.
Man hatte es eilig in Stalingrad, man ahnte, daß nur noch wenig Zeit blieb, nach Paragraphen zu leben.
In dieser Nacht zum. 2. Januar marschierte rings um den Kessel die Rote Armee auf. Über die Wolga zogen Panzer und schwere Geschütze, aus der Tiefe Asiens quollen sie heran, Division nach Division… zwei frische Armeen, die 62. Armee unter Generalleutnant Tschuikow und die 64. Armee unter Generalleutnant Shumilow… 23 Divisionen und 18 Brigaden, allein für die Eroberung von Stalingrad-Stadt.
Das große Sterben begann.
Zwischen zwei Offizieren mit umgeschnallter Pistole stolperte Dr. Körner über die Trümmer der Vorstadt bis zu dem wartenden Kübelwagen im Hof einer Werkstätte. Dr. Portner folgte ihnen mit Knösel und einem Unterarzt. Er wollte dabei sein, er wollte aussagen, er wollte wie ein Vater um seinen Sohn kämpfen.
Vor dem Kübelwagen blieben die stummen Offiziere stehen. Einer von ihnen nestelte an seiner Pistolentasche und hielt die Waffe auf der flachen Hand Dr. Körner entgegen.
«Bitte, Herr Kamerad…«, sagte er leise.
Dr. Körner schüttelte den Kopf.
«Es würde uns viel ersparen, Herr Assistenzarzt«, sagte det andere Offizier.
Dr. Körner schüttelte wieder stumm den Kopf. Ich will aussagen, dachte er. Ich will mich nicht fortschleichen aus der Verantwortung. Ich will ihnen alles ins Gesicht schreien, alles, was sie schon wissen, aber nicht wissen wollen.
«Also denn…«Die Offiziere traten zur Seite.»Steigen Sie ein.«
Wenig später hoppelten zwei Kübelwagen über die zerschossene Straße in die Nacht hinaus. Nach Gumrak.
Am Horizont, fast kreisrund, wetterleuchtete es, blitzte es in den Himmel, als zögen von Nord und Süd, von Ost und West sämtliche Gewitter aus der Unendlichkeit auf einen kleinen Punkt der Erde, auf Stalingrad.
Die beiden kleinen Wagen brummten durch die Nacht, zwei hüpfende, keuchende Käfer.