Kapitel 15

General Gebhardt sah sich um. Neben ihm stand Oberst von der Haagen mit leeren, verquollenen Augen. Seine Mundwinkel hingen herab, die Lippen waren halb geöffnet, die dicke Zunge preßte sich durch die Zähne. Es war kein schöner Anblick mehr. Gebhardt zeigte mit dem Lauf seiner Maschinenpistole auf den rumpelnden Panzer.

«Brav, von der Haagen!«schrie er.»Ich den Sehschlitz, Sie die Luke…«

«Ich dachte… ich den Sehschlitz…«Der Oberst würgte. Der General winkte ab.

«Ihre Hand zittert, Oberst! Den Turm treffen Sie leichter als den Schlitz. Also denn — Feuer frei! Es lebe Deutschland!«

«Es lebe…«Von der Haagen hob mit einem Ruck die Waffe. Dann feuerte er… breitbeinig stand er neben dem General auf der Straße, mitten auf dem Asphalt, ohne Deckung, er schoß auf den Turm, von dem seine Kugeln abprallten und wegsurrten in die Trümmer. Und plötzlich war er ganz ruhig… er sah, wie das schwere MG aus dem Panzerturm zu ihnen hinschwenkte, sah, wie der schwarze Lauf zu zittern begann, hörte das tackende Hämmern der Abschüsse… Er stand neben dem General und schoß zurück, irgendwohin, nicht mehr gezielt.

General Gebhardt sank in die Knie. Die Maschinenpistole fiel ihm aus den Händen, schepperte über die Straße… aus den Knien fiel er nach vorn auf das Gesicht, seine Beine zuckten unter seinem Leib, sie streckten sich… dann lag er still. Im gleichen Augenblick spürte auch von der Haagen, wie sechs glühende Stiche durch seinen Körper jagten. Die Welt wurde plötzlich federleicht… er fühlte sich hinfallen, er hörte das Dröhnen der Panzermotoren, aber er empfand keinerlei Schmerzen, nur wundervolle Leichtigkeit und das Hereinbrechen einer sich immer mehr verstärkenden Dämmerung.

Und davor habe ich Angst gehabt, dachte er noch. Es war sein letzter Gedanke. Den letzten Einschuß, der seine Schädeldecke aufriß, spürte er nicht mehr… er war schon tot, als sein Körper neben den des Generals Gebhardt rollte.

Dr. Portner lag noch immer zwischen den Ruinen, den Kopf auf den Unterarmen. Als die Feuerstöße verstummten, blickte er auf.

Er sah die beiden Körper auf der Straße liegen, der Panzer war stehengeblieben und tastete das Trümmerfeld ab. Sein Turm drehte sich langsam von links nach rechts.

«Er lebt ja noch …«, stammelte Dr. Portner.»Mein Gott… er lebt ja noch…«Er hob etwas den Kopf und starrte zu General Gebhardt. Der Rücken des Liegenden zuckte, ein Arm glitt über den Asphalt der Straße, als suche er Halt.»Er lebt ja noch!«schrie Dr. Portner. Mit einem Satz sprang er auf und riß sein Taschentuch aus der Manteltasche. In Ermangelung einer Roten-Kreuz-Fahne schwenkte er das weiße Taschentuch hoch über seinen Kopf, stieg aus den Ruinen und ging aufrecht auf die beiden Liegenden und den Panzer zu. Dr. Körner umklammerte die Steine, hinter denen er Deckung gesucht hatte.»Herr Stabsarzt!«brüllte er. Seine Stimme gellte in die plötzliche Stille hinein.»Herr Stabsarzt!!«

Dr. Portner ging unbeirrt weiter. Er schwenkte den kleinen weißen Fetzen und sah den Panzer gar nicht an, dessen Turm wieder zur Straße glitt. Er hatte General Gebhardt erreicht und drehte den Körper auf den Rücken. Der General war noch nicht gestorben, aber die Augen besaßen schon die Starrheit der Ewigkeit.

Der Stabsarzt knöpfte den Mantel und den Rock des Generals auf. Aus sieben Brustwunden tropfte ihm das Blut über die Hände. Es war sinnlos, was Dr. Portner tat, aber seine Erschütterung war so groß, sein Kopf so völlig entfernt von aller Logik, sein Herz so unbeschreiblich leer und einsam, daß er drei der russischen Verbandpäckchen, die die Pannarewskaja mitgebracht hatte, aus der Tasche zog und sie aufriß.

Weiter kam er nicht. Ein einzelner Schuß aus der Panzerluke traf ihn genau zwischen die Augen. Er warf die Arme hoch, die Verbandpäckchen flogen durch die eisige Luft, dann fiel er über General Gebhardt, als könne er ihn noch im Tode schützen.

Dr. Körner zitterte am ganzen Körper. Als er Dr. Portner fallen sah, war es ihm, als habe auch sein Leben aufgehört. Er wußte nicht mehr, daß er hinter seinen Steinen lag und wie ein junger Wolf heulte. Er hatte nur den Drang, zu Dr. Portner zu laufen, bei ihm zu sein, es war eine Verbundenheit, die stärker schien als zwischen Vater und Sohn… aber als er aufspringen wollte, warfen sich Knösel und ein Sanitäter über ihn und drückten ihn in die Deckung zurück.

Verbissen, stumm, aber mit unwahrscheinlicher Härte rangen sie miteinander. Es war rätselhaft, welche Kräfte noch in Dr. Körners ausgezehrtem Körper steckten… er stemmte sich gegen den bulligen Knösel und den Sanitäter, trat um sich, wälzte sich unter ihnen weg, hieb mit den Fäusten auf sie ein. Keuchend, aber ohne Worte, denn hier gab es nichts mehr zu sagen, schlugen sie auf sich ein, bis ebenso plötzlich, wie die Kraft gekommen war, in Körner eine völlige Schlaffheit eintrat… er lag auf dem Rücken, starrte in den grauen Winterhimmel, mit einer Apathie, die wie lähmend wirkte. Knösel, der sich von ihm löste, wartete ab, ob er sich wieder rührte. Aber Dr. Körner regte sich nicht. Es war, als habe man eine ausgebrannte Schlacke in Gestalt eines Menschen in die Trümmer geworfen.

Eine Stunde lang kurvte der Panzer auf der Straße… dann fuhr er zurück zum Roten Platz, wo in den riesigen Kaufhauskellern das Armee-Oberkommando hauste. Unter ihnen Offiziere, die in diesem Augenblick überlegten, ob man auf der Kaufhausruine die Hakenkreuzfahne hissen sollte, um unter diesem Zeichen zu sterben. Und ein Generaloberst, der stumpf und zerbrochen in seinem Kellerraum hockte und mit dem Gedanken spielte, sich am nächsten Tag mit einer Ladung Pioniersprengstoff in die Luft zu jagen.

Als der Panzer davongerumpelt war, sprangen Knösel und die beiden Sanitäter aus ihrer Deckung und schleiften General Gebhardt, Oberst von der Haagen und Stabsarzt Dr. Portner von der Straße. Auch Dr. Körner stand plötzlich neben ihnen… stumm griff er seinem Stabsarzt unter die Arme und trug ihn mit Knösel zum Lazarettkeller zurück. Die Sanitäter folgten ihnen… sie trugen den General und den Oberst über den Schultern wie Fleischer eine Rinderseite.

Dr. Sukow und die Pannarewskaja standen schweigend vor den Toten, als man sie im OP-Keller niedergelegt hatte. Pfarrer Webern betete stumm. Er hatte das kleine, goldene Brustkreuz zwischen die gefalteten Hände geklemmt und die Augen geschlossen. Seine Erschütterung war unsagbar, sie verschloß ihm den Mund. Man müßte Hiob sein, dachte er. Jetzt müßte man rufen können: Gott — warum?!

Im kleinen Keller neben dem OP-Raum hockte Knösel und weinte. Er saß wie ein sterbender Hund in der dunklen Ecke, und Iwan Iwanowitsch Kaljonin und seine Frau Vera saßen neben ihm und hatten die Arme um ihn gelegt.

«Kriegg bald kaputt…«, sagte Kaljonin leise und hielt den schluchzenden Kopf Knösels fest.»Briederchen… nur noch einen Tagg… odder zwei…«

Chefchirurg Dr. Andreij Wassilijewitsch Sukow zog eine alte, blutbefleckte Decke über das Gesicht Dr. Portners. Olga Pannarewskaja half ihm mit der Starrheit einer Puppe. Ihr bleiches, tatarisches Gesicht war regungslos. Man hatte ihr erzählt, daß auch Dr. Körner beinahe nicht mehr zurückgekommen wäre, daß man ihn zwingen mußte, weiterzuleben. Nun stand er an einem der Tische und operierte… es war, als läge auf dem Nebentisch nicht Dr. Portner, er sah nicht hin, drehte ihm den Rücken zu, beugte sich über den zerrissenen Körper und schnitt in die zuckende Wunde… doch ab und zu unterbrach er seine Operation, drückte das Kinn an die Brust und zwang sich, nicht aufzuheulen. Dann lief ein Zittern durch seinen schmalen Jungenkörper, und die Pannarewskaja legte die Hand auf seine Schulter, stumm, aber mit einem kräftigen Druck. Da operierte er weiter.

Beim Morgengrauen wurden General Gebhardt, Oberst von der Haagen und Stabsarzt Dr. Portner begraben. So unterschiedlich sie im Leben gewesen waren, nun lagen sie nebeneinander in einem Granattrichter, jeder in eine Zeltplane gewickelt, auf der Brust ein Kreuz, das Knösel aus Dachlatten gezimmert hatte. Pfarrer Webern und der verwundete, von zwei Sanitätern gestützte Pastor Sanders sprachen die Gebete. Dann wurden die ersten Steine auf die Körper gerollt… Dr. Sukow war der erste, und er merkte erst da, als er die Hände gebrauchen mußte, daß er sie bei den Gebeten gefaltet hatte, unwillkürlich, wie selbstverständlich. Er schielte zu der Pannarewskaja hinüber… sie stand neben Dr. Körner und hatte auch die Hände gefaltet.

Und wir sind Kommunisten, dachte Dr. Sukow. Wir sagen: Religion ist Opium fürs Volk… Wie nötig haben wir manchmal Opium… Er warf die ersten Steine in den Granattrichter und trat dann zurück. Stein um Stein wurde geworfen… wer von den Verwundeten gehfähig war, kam an den Trichter gewankt und wälzte seinen Stein über die Toten.

Als der Trichter aufgefüllt war, steckte Knösel ein großes Kreuz aus verbrannten schwarzen Deckenbalken in den Steinhaufen.

«Herr, Dein Ratschluß ist uns Menschen oft unverständlich…«, sagte Pastor Sanders leise, als das Kreuz stand…»aber wir beugen uns ihm, denn du wirst es gutmachen. Einst hast du die

Waffen gesegnet, die der Freiheit dienten… segne uns jetzt, die wir die Freiheit verloren haben…«

Mit einem strahlend blauen Himmel und einer glänzenden, silbernen Wintersonne begann der neue Tag. Der 30. Januar 1943.

Der Wehrmachtsbericht meldet darüber lakonisch:

In Stalingrad ist die Lage unverändert. Der Mut der Verteidiger ist ungebrochen.

Der Reichspressechef gab an diesem Tag für die gesamte deutsche Presse folgende Tagesrichtlinie heraus:

1. Im Zeichen äußerster Entschlossenheit und_ fester Siegeszuversicht gestaltet die deutsche Presse die heutige Ausgabe des 30. Januar 1943 zu einem eindrucksvollen und mitreißenden Appell an die deutschen Volksgenossen.

An diesem Tag gab der Chef des Generalstabes der 6. Armee, General Schmidt, eine Antwort, die man nie vergessen sollte, wenn der Name Stalingrad fällt, denn hier wurde der Wahnsinn zur Methode. Im Keller des Kaufhauses Univermag sitzend, empfing General Schmidt den verzweifelten Anruf eines Panzerkorpschefs. Er bat um Einstellung des sinnlosen Kampfes. General Schmidt antwortete:

«Wir kennen die Lage… der Befehl lautet: Es wird weitergekämpft!«

«Aber womit?«schrie der Oberst der Panzertruppen.»Was sollen wir ohne Munition tun?!«

Und General Schmidt antwortete:

«Ihre Soldaten haben doch Messer und Zähne. Sie sollen beißen!«

Nach dieser Antwort begingen die Offiziere des Panzerkorps Selbstmord…

Im Führerhauptquartier wurde die >Machtübernahme< gefeiert. Die Generäle gratulierten und brachten Toaste aus. Der Reichsmarschall Hermann Göring, verantwortlich für die mangelhafte Luftversorgung der 6. Armee im Kessel Stalingrad, hielt eine Rede über alle deutschen Sender,

«… Wir haben die Russen bisher geschlagen, wir werden sie auch wieder schlagen…«, rief er mit seiner hellen Fanfarenstimme. Und:»… Aus all diesen gigantischen Kämpfen ragt nun gleich einem gewaltigen Monument der Kampf um Stalingrad heraus. Es wird der größte Heroenkampf in unserer Geschichte bleiben. Was dort jetzt unsere Grenadiere, Pioniere, Artilleristen, Flakartilleristen und wer sonst in dieser Stadt ist, vom General bis zum letzten Mann, leisten, ist einmalig. Mit ungebrochenem Mut und doch zum Teil ermattet und erschöpft, kämpfen sie gegen eine gewaltige Übermacht um jeden Block, um jeden Stein, um jedes Loch, um jeden Graben…«Und am Ende der Rede:»… Wenn die Sonne wieder hoch steht, wird sie die deutschen Truppen im Angriff finden, genauso wie im vorigen Jahr.. «

Und am gleichen Tag schrien Zehntausende bei der Rede des Reichspropagandaministers Dr. Goebbels im Berliner Sportpalast: Führer befiehl — wir folgen dir…!«

Generaloberst Paulus wurde an diesem Tag zum Generalfeldmarschall befördert. Um die gleiche Stunde sprach Hitler mit seinen Generälen über die Aufstellung einer neuen 6. Armee. Der Grabkranz für 330 000 Soldaten war die Ernennung ihres Kommandeurs zum Feldmarschall.

An diesem 30. Januar 1943 feierten auch die Sowjets… am Mittag zogen über die Ruinenstadt Stalingrad, unter einem strahlenden Himmel, sowjetische Fliegergeschwader in Paradeformation vorüber. Ein paarmal wiederholten sie die Luftparade, eine Demonstration ihrer Macht und der Ohnmacht der verhungerten, sterbenden, in Löchern und Kellern hockenden Reste einer zermahlenen deutschen Armee.

Die Offiziere des Armee-Oberkommandos starrten in den glänzenden Himmel und schwiegen betroffen. Feldmarschall Paulus saß in seinem Keller… jetzt, in den letzten Stunden, war es in ihm so leer, daß er überhaupt nichts mehr begriff. Er stand einem Schicksal gegenüber, das über seinen Begriff reichte.

An diesem Morgen wurde aber auch das große schwarze Kreuz vom Grabe Dr. Portners geschossen. Zwei sowjetische Panzer ver-" anstalteten darauf ein Scheibenschießen.

«Sehen sie denn die Fahne nicht?!«schrie die Pannarewskaja.»Auf ein Kreuz zu schießen… sind wir denn Unmenschen?!«

Dr. Sukow hob die Schultern.»Ein Kreuz? Genossin Olga… was wissen unsere Jungs von einem Kreuz? Und eine Fahne? Se-hen Sie doch hinaus… es hängt nur noch ein grüner Fetzen an der Stange. Unmenschen…?«Dr. Sukow schwieg einen Moment. Dann nickte er.»Ja, Unmenschen sind wir, Genossin… wir alle… Wären wir normale Menschen… wie könnten wir das alles aushalten…?«

Es gab keine Front mehr, keine Linie, keine Stellungen. Im Norden, in der Mitte und im Süden wurden die deutschen Soldaten wie wilde Hasen gejagt. Panzer fuhren durch die Straßen, sowjetische Stoßtrupps kämmten die Keller durch… hier wurde geschossen, dort wurde sich ergeben… in einigen Kellern trank man die letzte Schnapsration aus und erschoß sich selbst mit der letzten Patrone. In den gewaltigen Ruinenwüsten der Industriewerke im Norden wurde noch um jeden Meter gerungen. Warum, das fragte man nicht. Der alte Gedanke, seine Haut so teuer wie möglich zu verkaufen, herrschte vor. Daß es möglich war, nicht zu schießen und zu überleben, daran dachten sie nicht. Sie starben… das Geheimnis des Heldentums wurde vollkommen an ihnen, ebenso wie das Geheimnis, Sinnlosigkeiten nicht zu erkennen, wenn man eine Uniform trägt.

30. Januar 1943.

Im Keller unter dem Kino wimmerten und stöhnten über 3000 Verwundete. Neue Verwundete kamen kaum noch… die Soldaten, die getroffen wurden, sanken in ihren Löchern um oder rutschten an ihre Kellerwände. Sie hatten nicht mehr die Kraft, durch Ruinen bis zum Verbandplatz zu kriechen.

Die Verbindungen zu den einzelnen Truppenteilen wurden plötzlich unterbrochen, soweit sie noch vorhanden waren. Immer wieder war es der gleiche Wortlaut, der von der kleinen Funkstation des Armee-Oberkommandos oder im Telefonraum aufgenommen wurde:

«Russe steht vor der Tür. Kein Schuß mehr zur Verteidigung. Wir übergeben. Grüßt die Heimat. Es lebe Deutschland…«

Und dann Schweigen.

Im Nordkessel dröhnten die Stalinorgeln… dort gab es noch das, was man den Tod mit blanker Waffe nennt. In der Stadtmitte, um den Roten Platz herum, war der Widerstand wie das heisere Bellen eines zu Tode gehetzten Hundes… Die sowjetischen Stoßtrupps säuberten die Trümmer, holten die schwankenden, verhungernden, zum Teil auf Händen und Knien kriechenden, zerlumpten und blaugefrorenen deutschen Soldaten aus den Bunkern und Kellern, sammelten sie auf den Straßen und führten die grauen Gespenster zu den Plätzen, in Höfe oder Hallen, wo sie sich niederhockten, umfielen oder stumpf vor sich hinstierten.

Eine Armee der toten Seelen.

Dr. Körner saß am Abend des 30. Januar auf seinem Strohbett und hielt die Hände Olga Pannarewskajas fest.

«Morgen oder übermorgen wird es vorbei sein…«, sagte sie leise.

«Und dann, Olga?«Er blickte sie nicht an. Er wunderte sich über sich selbst, daß er überhaupt noch sprechen konnte, daß aus diesem leeren Hohlkörper eine Stimme herausquoll.

«Du wirst leben, mein Liebling…«

«In einem Gefangenenlager…!«

«Nicht lange. Ich hole dich heraus.«

«Das wird nicht möglich sein.«

«Es ist vieles möglich in Rußland. «Sie legte den Kopf an seine Schulter, ihr schwarzes Haar fiel über sein eingefallenes, knochiges Gesicht.»Und wir können warten, mein Liebling… wir haben gelernt, geduldig zu sein. Waren wir stark genug, auf den Tod zu warten… wir sollten stärker sein, auf das Leben zu hoffen…«

Er nickte und drückte sie an sich. Aber er sah sie dabei nicht an. Keiner wird dieses Stalingrad überleben, dachte er. Alles ist nur ein Selbstbetrug… Ende des Krieges, Ruhe, ein Bett, tägliches Essen, ein sauberes Lagerlazarett… Es wird alles umsonst sein. Aus unseren Körpern kann man kein Feuer mehr schlagen… sie sind ausgebrannt für immer.

Dr. Sukow kam in den OP-Keller. Er hatte im Funkraum eine der letzten Meldungen gehört. Ein Parlamentär der Sowjets, ein Major aus dem Generalstab Rokossowskijs, wurde in das Kellerlabyrinth des Kaufhauses Univermag geführt. Noch einmal überbrachte er ein Kapitulationsangebot der Russen, im letzten Augenblick, die Forderung einer bedingungslosen Übergabe mit der Zusicherung, daß die Offiziere Seitenmesser, Dolche, Degen und Auszeichnungen behalten dürften. Die allerletzte Möglichkeit, noch einigen Tausenden das Leben zu retten, wurde dargeboten.

Dr. Sukow kam zuversichtlich in den OP-Keller.

«Sie weiden es annehmen«, sagte er fast feierlich.»Genossen… morgen ist der Krieg in Stalingrad zu Ende. Es gibt auf der Welt keinen Offizier, der jetzt noch nein sagen kann…«

Er kannte den Chef des Armeestabes der 6. Armee, den General Schmidt, nicht Was keine Funkmeldung durchgab, geschah an diesem Tag.

Das Angebot der Sowjets wurde abgelehnt.

Als der Major vom russischen Generalstab die Kellertreppe hinabstieg und in den Kellerraum des Stabschefs geführt wurde, sah ihm General Schmidt abweisend und stolz entgegen und fragte laut einen seiner Herren:

«Was wollen die Schimpansen hier?!«

Das war die Sprache eines deutschen Offiziers, während 135 000 Tote um ihn herum in den Trümmern der Stadt lagen.

Am Abend saß Dr. Sukow neben Olga Pannarewskaja und Dr. Körner auf den Strohschütten. Die Meldung aus dem Kaufhaus Univermag war durchgekommen.

«Keine Kapitulation. Es wird weitergekämpft bis zur letzten Patrone.«

Dr. Sukow schüttelte den Kopf und preßte die Hände flach gegen seine Schläfen.

«Was sind das nur für Menschen…?«sagte er. Zum erstenmal sah man ihn bis ins tiefste erschüttert.»Ich kann es nicht begreifen…«

Wer konnte es auch…?

So strahlend sonnig der 30. Januar gewesen war, so trüb und grau, schneeverhangen und diesig war der 31. Januar. Ein Morgen voller Trübsinn, voll nasser Kälte, ein Morgen, der durch alle Kleider drang und sich auf die Knochen legte. Ein Morgen ohne Geräusche. Ein Morgen seltsamer Stille. Ein Morgen ohne Bewegung. Ein Morgen wie in einem riesigen Totenhaus.

Unter der Erde aber, im Kellergewirr des Kaufhauses Univermag, wurde zerstört. Die Sende- und Empfangsgeräte des Armeenachrichtenregimentes wurden mit Hammer und Spaten zerschlagen, die Röhren und Telefonkästen zertrümmert, die Leitungen herausgerissen, die Aggregate zerstampft. Der letzte Funkspruch an die Freiheit war hinausgerufen worden. Es war ein abschließendes Lebenszeichen in zwei Teilen, bevor das letzte Leben in den Trümmern erlosch:

Die 6. Armee hat getreu ihrem Fahneneid_für Deutschland bis zum letzten Mann und bis zur letzten Patrone eingedenk ihres hohen und wichtigsten Auftrages die Position für Führer und Vaterland bis zuletzt gehalten. Paulus.

Und als allerletztes:

Der Russe steht vor dem Bunker, wir zerstören.

Es war 5.45 Uhr morgens.

In den Kellern verbrannten die Code- und Geheimbücher, die Chiffriergeräte, die Armeeakten, die geheimen Kommandosachen, die Kisten voller Dokumente und Pläne. Ein Sonderkommando war unterwegs, um mit den letzten Patronen eine Pflicht zu erfüllen, die zu der traurigsten gehörte, die je im Kessel Stalingrad befohlen wurde: Mit Maschinenpistolen und Karabinern erschoß man vagabundierende deutsche Soldaten, die — losgelöst von allen moralischen Bindungen — das Wort Freiheit und Auflösung so auslegten, daß sie plünderten, daß sie in den Kellern erschienen, in denen noch deutsche Kameraden hockten, die Brotbeutel durchwühlten und für einen Kanten steinhartes Brot oder eine Handvoll Erbsen einen Mord begingen. Selbst die wehrlosen Verwundeten wurden geplündert, man zog ihnen die Stiefel von den Beinen, wenn sie besser waren als die eigenen, man riß sie aus den Mänteln, schlug sie bewußtlos, wenn sie um Hilfe schrien, und schoß auf die eigenen Offiziere, wenn diese Ordnung schaffen wollten. Gegen diese wenigen Gruppen, bei denen der verbrecherische Instinkt stärker war als Angst und Grauen, wurde noch am letzten Tag vorgegangen.

Der erste, der merkte, daß etwas Ungewöhnliches geschehen sein mußte, war Iwan Iwanowitsch Kaljonin.

In der Nacht zum 31. Januar 1943 hatten deutsche Transportflugzeuge noch einmal Verpflegungsbomben auf engstem Raum abgeworfen. Es waren vierzehn Flugzeuge, die über den Ruinen kreisten, die noch in deutschem Besitz waren. Auch auf Knösels Markierungskreuz fielen drei Verpflegungsbomben… Scheinwerfer eines Flak-Regimentes beleuchteten die wüste Gegend und gaben die Abwurfziele an… aber auch die sowjetische Artillerie begann wieder zu trommeln… ein deutlicheres Ziel als die Scheinwerfer der Flak gab es nicht mehr.

Knösel und Kaljonin bargen ihre drei Bomben in einem Splitterregen. Sie schleiften die Behälter hinter sich her, bis sie im Keller des Lagers erschöpft gegen die Wand fielen und erst verschnauften, ehe sie an den Inhalt der Bomben dachten. Dann stemmten sie die Verschlüsse auf und schütteten den Inhalt auf den Kellerboden.

In einer der Verpflegungsbomben war Naßbrot und Kaffeemehl, Grieß und Saftschinken, Marmelade und Butter. Die dritte Bombe aber enthielt einen dicht versiegelten Karton mit dem schriftlichen Befehl: Abzuliefern bei Kommandeur zur Weitergabe an das Armeehauptquartier der 6. Armee.

«Det wird ’ne schöne Scheiße sein!«sagte Knösel. Er schlitzte mit seinem Seitengewehr respektlos den Karton auf und starrte auf den Inhalt.

Vor ihm lagen einige hundert Eiserne Kreuze I. und II. Klasse, Nahkampf Spangen und Deutsche Kreuze in Silber und Gold. Auch Kaljonin starrte verblüfft auf den Segen militärischer Auszeichnungen, der vom Himmel gefallen war.

«Orden!«sagte er und grinste plötzlich.

Knösel antwortete nicht. Sein Gesicht war rot geworden. Und plötzlich wurde der gute, ruhige Knösel wild, er griff mit beiden Händen in die Eisernen Kreuze, schaufelte sie aus dem Karton und warf sie gegen die Kellerwand.

«Hunde!«brüllte er.»Schufte! Scheißkerle! O ihr Schweine…«

Und er griff wieder in den Karton und warf die Orden an die Kellerwand… das Blech schepperte über den Boden, der Lack spritzte ab, die Nahkampfabzeichen zersprangen. Seine ganze verzweifelte Wut legte Knösel in diese Würfe, er schrie dabei, daß Kaljonin sich still in eine Ecke des Kellers verzog und ruhig blieb, bis der Karton geleert war und der Ordensegen für eine Armee verstreut auf dem Boden lag.

Ein Teppich aus Eisernen Kreuzen, über den Knösel hinwegstampfte zum Ausgang.

Am Morgen waren sie dann beschäftigt, die Büchsen aus den beiden Verpflegungsbomben und das gerettete Pferdefleisch in winzige Portionen aufzuteilen. Sie saßen in einem Nebenkeller und zählten ab.

Ein Löffel Grieß… eine dünne Scheibe Brot… ein Löffel Milchpulver… zwei Löffel Rindfleisch… ein Stück Pferdefleisch, so groß wie ein kleiner Finger.

Vera Kaijonina saß bei ihnen… sie half, die Portionen zu ordnen. Wenn hundert fertig waren und auf dem Kellerboden lagen, kamen die Essenträger mit Munitionskistendeckeln und schoben die Portionen für ihre Kameraden im Lazarettkeller darauf.

Kaljonin unterbrach das Herumschneiden an seiner Pferdekeule und hob den Kopf.

Über ihnen war es ganz still. Der Morgen war gekommen, und mit der Sonne begann sonst auch die Artillerie zu schießen oder die Panzer kämmten die Straßen durch. Aber jetzt schwieg alles… es war, als lebten sie in einer völlig leeren Stadt.

«Ganz still…«, sagte Kaljonin und stieß Knösel an.»Hörst du…?«

«Ja. «Knösel zählte Erbsen ab. Pro Mann sechs Stück.»… vier… fünf… sechs… Ooch, deine Genossen müssen ja mal Pause machen…«

«Gucken!«

«Wat?«Knösel legte den kleinen Erbsensack weg.»Wat willste?«

«Gucken.«

«Mensch, sei froh, det se ruhig sind.«

«Nix Panzer, nix Kanone, gar nix…«

«Jloob nich, det jetzt ’ne Winterfrische beginnt…«

«Komm mit…«

Kaljonin hielt es nicht mehr im Keller. Ein Instinkt trieb ihn hinaus in den diesigen, trüben Morgen. Er konnte nicht erklären, woher seine Unruhe kam… sie war einfach da und stak kribbelnd in seinen Beinen.

Zusammen mit Knösel und Vera stieg er hinauf in die Trümmer und sah sich um. Plötzlich zuckte er zusammen und sprang auf, warf die Arme weit zurück und brüllte. Auf dem Gebäude des Verteidigungskomitees der Partei, dem großen Häuserblock am Roten Platz, schräg gegenüber dem Kaufhaus Univermag, in dessen Kellern Generalfeldmarschall Paulus und sein Stab saßen, wehte weithin sichtbar eine große rote Fahne.

Parteisekretär Genosse Iwan Grodnidsche, der seit seinem Desaster mit dem Hühnerfuttermehl sehr still geworden war, hatte sie eigenhändig aufgezogen, umbraust vom Jubel seiner Freunde und der Zivilisten, die rund herum aus den Kellern krochen und in den frühen Morgen blinzelten.

Die Fahne des Sieges!

Stalingrad gehörte wieder ganz zu Mütterchen Rußland.

Kaljonin zeigte mit beiden Armen auf die wehende Fahne.

«Krieg kaputt!«brüllte er» Briederchen… Krieg kaputt…«

Er umarmte seine Frau Vera und küßte sie, er umarmte den starren Knösel und drückte ihn an sich, er tanzte auf den Trümmern, lachte und weinte in einem Atemzug und benahm sich gar nicht so, wie sich ein Mladschij Sergeant der Roten Armee eigentlich benehmen mußte. Dann riß er Knösel die Maschinenpistole von der Brust, warf sie hoch in die kalte Luft, fing sie auf, lud durch und feuerte übermütig in den Himmel. Die letzten vierundzwanzig Schuß waren es… Knösel hatte sie gezählt… er hatte Buch geführt über jede Patrone. Noch vierundzwanzig waren geblieben… und nun jagte Iwan Iwanowitsch Kaljonin sie mit einem Freudentanz in den Morgen.

Gegenüber, in einer Hausruine, tauchte eine Gruppe Rotarmisten auf. Kaljonin schwenkte die Waffe Knösels…»Sieg!«schrie er.»Freunde! Sieg!«Er sprang über die Trümmer auf seine Kameraden zu, das Gesicht wie verklärt vor Freude, und dabei schoß er noch einmal in die Luft, ein kleines privates Feuerwerk zur Stunde des Triumphes.

Mit ungläubigen Kinderaugen blieb er stehen, als aus der Gruppe der Rotarmisten eine einzelne Maschinenpistole aufbellte. Als die Kugeln in seinen Leib fuhren, wurde ihm klar, daß er ja eine deutsche Uniform trug und daß es das Recht der Rotarmisten war, auf einen deutschen Soldaten zu zielen, der schießend auf sie losstürmte.

«Genossen…«, stammelte Kaljonin und sank in die Knie. Er hielt sich den Magen fest, preßte seine Fäuste dagegen, denn seine Därme brannten und sein Magen war eine glühende Hölle geworden.»Genossen… was tut ihr denn…? Brüder.. ein Irrtum… ein Irrtum ist’s… Genossen…«

«Wanja!«schrie Vera Kaijonina auf. Sie stieß Knösel weg, der sie zurückhalten wollte, und rannte zu dem zusammensinkenden Kaljonin. Auch die Rotarmisten merkten, daß etwas Tragisches geschehen war… sie kamen langsam näher, mit vorgestreckten Karabinern, nach allen Seiten sichernd, Knösel, der Vera nachlief, mißtrauisch anstarrend. Es waren kleine Kalmücken, Reiter aus den Steppen, mit gelben Gesichtern und winzigen, schrägen Augen.

Vera kniete bei Kaljonin und legte seinen Kopf in ihren Schoß.

«Ihr Hunde!«schrie sie, als die Rotarmisten sie umringten.»Ihr räudigen Schweine! Ihr habt ihn erschossen… er stirbt… mein Wanja stirbt…«

Sie umklammerte ihn, küßte ihn in wilder Verzweiflung und weinte laut.

Ein junger Feldwebel nahm seine Fellmütze ab und drehte sie zwischen den Händen.

«Verzeiht, Genossin…«, stammelte er.»Aber er hatte eine deutsche Uniform… und er schoß… wie können wir wissen, wer er ist… Es trifft uns keine Schuld…«

Kaljonin schlug noch einmal die Augen auf. Er sah Vera über sich gebeugt, er sah Knösel fahlbleich, wie in Milch getaucht, er sah die kleinen Kalmücken und dachte an die rote Fahne, die auf dem Parteihaus wehte.

«Sieg, Genossen!«sagte er stockend. Dabei blutete er aus dem Mund… das Blut lief über sein Kinn und über Veras Hände, die seinen Kopf hielten.»Er ist mein Freund…«Er sah Knösel an.»Ein guter Freund, Brüder…«In seinen Därmen rissen tausend Teufel. Er bäumte sich auf und stöhnte.»Das hättet ihr nicht tun dürfen, Genossen… das nicht…«

Sein Kopf fiel zurück, gegen die Brust von Veraschka, er lächelte, als er sie spürte, das Feuer in ihm ergriff ihn völlig, aber es war eine merkwürdige Hitze.

«Wanja…«, stammelte Vera.»Mein Wanja…«

Dann war der Mladschij Sergeant Iwan Iwanowitsch Kaljonin gestorben.

Er war der letzte Tote in Stalingrad-Mitte, der durch einen Schuß fiel.

Während vor dem Kaufhaus Univermag ein Wagen vorfuhr, um Generalfeldmarschall Paulus zu einem Frühstück bei Generalleutnant Rokossowskij abzuholen, kamen die lebenden Leichname aus den Kellern und hoben die Hände hoch in den kalten Wintermorgen.

Ein junger Hauptmann der Gardedivision stieg hinab in den Kinokeller. Chefchirurg Dr. Sukow kam ihm entgegen. Er stellte Assistenzart Dr. Körner vor als Herr über 3500 Sterbende.

«Wir werden alles tun, Genosse Major«, sagte der Hauptmann zu Dr. Sukow.»Alles, was wir können.«

«Und wieviel ist das?«fragte Sukow zurück.

Der Hauptmann sah den Arzt lange an, ehe er antwortete.

«Das wissen Sie doch selbst am besten, Genosse Major.«

Dr. Sukow wandte sich ab und ging wortlos zurück in das Kellerlabyrinth mit den aufgeblähten, fiebernden, eiternden, verfaulenden Leibern.

Der erste, der den Keller verließ, war der >Held der Nation< Oberst Sabotkin. Gestützt auf zwei Leutnante schwankte er ans Tageslicht. Auf der Straße wartete ein Krankenwagen auf ihn… er hatte gar keine Zeit, sich von Dr. Körner zu verabschieden. In rasender Fahrt brachte man ihn zum Wolgaufer.

Dann kamen sie nacheinander aus dem Keller… die gehfähigen Verwundeten, die Sanitäter, die Träger, die Funker, die Unterärzte… zuletzt Dr. Körner. Neben ihm ging Olga Pannarewskaja, hocherhobenen Hauptes, vorbei an dem ersten Offizier, der völlig verblüfft grüßte und ihnen mit offenem Mund nachstarrte.

Draußen, im Schnee, stand Dr. Sukow und blickte weg. Er wußte, was jetzt kommen mußte, und er wollte Olga Pannarewskaja nicht in die Augen sehen.

Ein Hauptmann trat auf sie zu und hielt sie am Arm fest, als sie Dr. Körner zu der langen Reihe der Gefangenen begleitete, die rund um das Kino wartete.

«Genossin…«, sagte er mild.

«Lassen Sie mich!«Sie schüttelte seinen Griff ab und blieb stehen. Ihre schwarzen Augen flammten auf, die Wildheit ihrer asiatischen Vorfahren durchglühte sie.»Lassen Sie mich gehen! Was wollen Sie von mir?!«

«Ihr Weg ist dorthin, Genossin. «Der Offizier zeigte zu einigen sowjetischen Krankenwagen, die herangefahren waren, um die russischen Verwundeten aus dem Keller abzuholen.

«Ich gehe, wohin ich will…«

«Das wird Ihnen keiner verwehren, Genossin. Aber wir sind im Vaterländischen Krieg, Sie sind Offizier, und es gilt der Befehl des Marschalls Stalin.«

«Ich habe ihn immer befolgt.«

«Bitte — dann treten Sie zurück.«

«Nein!«Sie warf die Haare herum, ein schwarzer Panther, der die Krallen und Zähne zeigt.»Nein!«sagte sie noch einmal laut und trotzig.

Dr. Körner verstand nicht, was gesprochen wurde, aber er verstand ihr >Njet! Njet!< und wußte, worum es ging. Er legte seine Hand auf den Arm Olgas, eine zittrige Greisenhand, die einem 26jährigen gehörte.

«Geh mit ihnen, Olga«, sagte er tonlos.»Du wirst einen Krieg und eine Weltanschauung nicht besiegen können. Sie werden dich zerbrechen.«

«Ich bleibe bei dir…«

«Es geht doch nicht…«

«Warum geht es nicht?«schrie sie und wandte sich an die herumstehenden Offiziere.»Warum geht es nicht?! Andreij Wassilijewitsch — warum geht es nicht?!«

Dr. Sukow schwieg und wandte sich ab. Olga Pannarewskaja ballte die Fäuste und hob sie hoch.

«Sind wir Menschen?!«schrie sie.»Antwort… sind wir Menschen?!«

«Bitte, Genossin…«, sagte der Hauptmann mit belegter Stimme.»Ich kann nichts dafür, daß wir in dieser Zeit leben. Sie müssen sich trennen…«

Die Pannarewskaja blieb mit hängenden Armen und gesenktem Kopf stehen, als Dr. Körner weiterging zu der langen, dunklen Reihe der wartenden Gefangenen. Dr. Sukow trat auf sie zu und wollte den Arm um ihre Schulter legen. Sie schüttelte ihn ab und warf sich herum.

Noch einmal sahen sie sich an… Dr. Körner reihte sich ein, ein dunkler Fleck inmitten dunkler Flecken… aber ihre Augen trafen sich, ihre letzten Blicke schrien sich zu…

«Auf Wiedersehen…«, sagte Olga Pannarewskaja leise.»Ich liebe dich… ich liebe dich.. «

Ein Leutnant faßte sie unter den Arm und führte sie ab zu den Sanitätswagen. Das letzte, was Dr. Körner von ihr sah, waren ihre Haare… sie flatterten wie eine schwarze, zerfetzte Fahne im Morgenwind.

Sie sahen sich nie wieder..

Am Nachmittag zog ein ungeheurer grauer Wurm schwankender Gestalten aus den Trümmern Stalingrads hinauf in die Steppe nach Süden. Zu dem Sammellager Beketowka an der Wolga. Sie gingen stumpf dahin, aber im Herzen froh, das Grauen der Hölle überlebt zu haben. Sie konnten noch nicht ahnen, daß allein in Beketowka 35 000 von ihnen sterben würden, an Hunger, an Fie-ber, an Typhus, an Entkräftung, durch Schneesturm und Eiswind.

Über 95 000 deutsche Soldaten bildeten die endlose Schlange der Leiber. Aber es waren kaum noch Menscher… es waren wandernde Trümmer, die den zerfetzten Häusern glichen, aus deren Kellern sie hervorkamen.

Ein Auffanglager in einer Fabrik gab Verpflegung an die Deutschen aus. Eine Kelle Hirsebrei, etwas Fisch und ooo Gramm Naßbrot.

600 Gramm Brot! Fisch! Hirsebrei!

Das Paradies war erobert worden!

Aber es war nur ein kurzes Paradies. Die Mehrzahl der 95 000 hungerte weiter, schleppte sich in die Steppe, fiel seitlich der Kolonnen in den Schnee, starb aus Erschöpfung. Die Wege, auf denen die deutschen Gefangenen in die Auffanglager gezogen waren, waren deutlich markiert. Links und rechts lagen die schwarzen Hügel, die einmal Mensch gewesen waren… Metersteine einer Straße, die ins Nichts führte.

Inmitten der sich durch den Sturm windenden Menschenschlange gingen zwei Männer. Sie schleiften einen dritten zwischen sich. Er hing mit den Armen an ihren Schultern und versuchte, Schritt zu halten. Aber sie trugen ihn mehr, so gut sie es noch mit ihren schwachen Kräften konnten.

«Laßt mich liegen…«, stammelte Pastor Sanders, als die Kolonne stockte.»Bitte, laßt mich liegen. «

«Du sollst Gott nicht herausfordern, gerade du nicht. «Pfarrer Webern wischte das Gesicht des Pastors mit Schnee ab. Dr. Körner, der zweite Mann, der den Pastor aufrecht hielt, japste nach Luft. Er schob den Arm Sanders’ dichter um seinen Hals und biß die Zähne zusammen, als die Kolonne sich weiterbewegte.

Durch den Schnee, durch den Sturm, in eine Endlosigkeit hinein… und die Fußstapfen der Tausende verwehten von einer Minute zur anderen, ihre Körper lösten sich auf hinter der Wand aus wirbelnden Flocken und heulendem Nebel… irgendwo war ein Zelt, eine Hütte, eine Baracke, irgendwo war ein Bett, eine Strohschütte, ein trockenes Plätzchen, irgendwo war ein Löffel heiße Suppe, die nach Kohl schmeckte. heiße Suppe.. heiße Suppe…

Irgendwo…

Hinter Schneewänden, hinter Sturm, hinter erstarrenden Leibern, hinter Gebeten und Flüchen, hinter dem treibenden Dawai

— dawai…

Irgendwo…

Nach zwei Stunden trugen sie Pastor Sanders. Dr. Körner faßte ihn unter den Armen, Pfarrer Webern trug die Beine. Sie gingen im gleichen Schritt, damit der Körper nicht pendelte. Ab und zu beugte sich Pfarrer Webern vor und schüttelte den Körper. In der eingeknickten Höhlung des Bauches sammelte sich der Schnee zu einem kleinen Hügel.

Irgendwo war ein Bett… ein Haufen Stroh… oder nackte, trockene Erde. Welch eine Wonne… trockene Erde…

Nicht weit von ihnen ging Knösel. Die letzten Worte Kaljonins hatten nicht gewirkt. Er wurde in die Reihe der anderen gestoßen, er war einer der 95 000. Aber er grollte nicht darüber… er lebte, er marschierte hinaus aus der Stadt, von der er geglaubt hatte, daß er sie nie mehr verlassen würde. Er war gesund, er hatte sogar Kraft, und er hatte seine Pfeife noch. Wenn sie erst wieder brannte, und wenn es Heu war, würde das Leben weitergehen…

Niemand weiß, was aus ihnen geworden ist… aus Dr. Körner und Olga Pannarewskaja, aus Pfarrer Webern und Pastor Sanders, aus dem Gefreiten Hans Schmidtke, den man Knösel nannte, und aus Vera Kaijonina. Nur Dr. Sukow tauchte wieder auf… er wurde Chefchirurg in Charkow.

Am 2. Februar 1943, nachdem auch der Nordteil der Stadt kapituliert hatte, wölbte sich ein strahlend blauer Himmel über Stalingrad, kleine, weiße Wölkchen zogen dahin, das Thermometer zeigte 31 Grad minus… nur aus den Trümmern stieg Nebel, vereinzelt mit roten Flecken, denn noch immer brannte es in den Ruinen der zerstörten Stadt.

Und noch immer zogen die grauen Kolonnen hinaus in die Steppe, die Letzten von 22 Divisionen mit 364 000 Mann.

Die deutschen Zeitungen bekamen an diesem Tag vom Reichspressechef folgenden Befehl:

. so sehr auch die Zeitungen in diesen Tagen eine heroische Haltung zeigen werden, so sehr ist es erwünscht, keine Worte der Trauer anzustimmen, sondern aus dem Opfer der Männer von Stalingrad ein Heldenepos zu machen — jedoch ohne Phrasen und Sentimentalitäten, sondern in männlicher, harter und nationalsozialistischer Sprache.

Das Herz der 6. Armee hatte aufgehört zu schlagen.

Hüben und drüben atmete man auf.

Würde es eine Lehre für kommende Generationen sein…?

IST ES EINE LEHRE?

Die Antwort darauf werden wir geben… oder unsere Kinder… oder unsere Kindeskinder…

Es ist zu befürchten, daß sie falsch sein wird… so wie sie immer falsch gewesen ist, wenn man beginnt, elendes Krepieren in einem Schneeloch mit Heldentod zu verwechseln.

Es gibt keinen Heldentod… es gibt nur ein erbärmliches Sterben. Die Männer von Stalingrad wissen es… auch Pfarrer Webern und Pastor Sanders.

Man könnte sie fragen.

Aber wo sind sie…

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