9

Sie wollte schreien, aber kein Laut kam heraus. Lucas hatte ihr sofort mit einer Hand den Mund zugehalten und sie an sich gezogen, ihr Rücken an seiner Brust. Dann beugte er sich ganz dicht an ihr Ohr.

»Hör zu«, sagte er leise. »Ich will, dass du mir sehr gut zuhörst, Evie. Hast du verstanden? Und du darfst keinen Laut von dir geben. Keinen einzigen Laut.«

Evie nickte mit weit aufgerissenen Augen. Sie zitterte. Seine Hände packten so fest zu, dass sie kaum atmen konnte. Wollte er sie zum Bruder bringen? Dafür sorgen, dass auch sie zur K erklärt wurde? Sie sagte sich, dass es ihr gleichgültig war. Sie wollte, dass es ihr gleichgültig war. Aber es war ihr nicht gleichgültig. Sie hatte entsetzliche Angst.

»Du musst mir den Schlüssel von deinem Vater geben«, sagte Lucas. Evie spürte, wie ihr Körper sich verkrampfte. Den Schlüssel von ihrem Vater? Sie verstand nicht.

»Ich werde dir gar nichts geben«, zischte sie wütend. »Du hast Raffy verraten. Er ist kein K. Das kann nicht sein.«

»Das weiß ich«, entgegnete Lucas unbewegt. »Deshalb brauche ich den Schlüssel. Er muss raus aus der Stadt. Und du wirst mir dabei helfen.«

Evie erschrak. Sie musste sich verhört haben. »Ich verstehe nicht«, brachte sie hervor. »Ich bin nicht sicher, ob ich …«

»Du wirst es verstehen. Ich lasse dich jetzt los. Wenn du auch nur einen Laut von dir gibst, dann wirst du das bereuen.«

Evie nickte, und Lucas ließ sie los, löste die Hand von ihrem Mund und drehte sie zu sich um. Was sie sah, schockierte sie. Das war Lucas, doch nicht der Lucas, den sie kannte. Seine blauen Augen waren umflort, schwermütig, und Dringlichkeit und Schmerz lagen darin. Er erinnerte sie an etwas … an jemanden. Sofort begriff sie, an wen: an Raffy. Zum ersten Mal erkannte sie, dass die beiden Brüder waren, zum ersten Mal hatte Lucas eine gewisse Ähnlichkeit mit seinem Bruder. Doch sie traute ihm trotzdem nicht. Das war immer noch Lucas. Das war immer noch der Mann, der Raffy verraten hatte.

»Weißt du, wofür K steht?«, fragte Lucas.

»Raffy ist kein K«, entgegnete sie, und ihre Stimme zitterte. »Das ist er nicht. Was wir getan haben … war nicht böse. Wir wollten nicht …«

»K steht für Killable.« Er sprach, als hätte er nicht bemerkt, dass sie etwas gesagt hatte. Er sah sie unverwandt an, aber sie sah, dass über seinem linken Auge ein winziger Muskel pochte. »Killable. Sie werden nicht neukonditioniert. Sie werden draußen ausgesetzt, damit die Bösen sie töten. Morgen wird Raffy ein K sein. Morgen Nacht werden die Bösen kommen. Deshalb bringen wir ihn heute Nacht aus der Stadt.«

Evie starrte ihn ungläubig an. »Nein«, keuchte sie. »Du irrst dich.«

»Denkst du, die Bösen kommen, weil sie wütend sind? Sie kommen, weil sie hierhergebracht werden. Weil sie hungrig sind«, sagte er bitter. »Sie erledigen die Drecksarbeit für die Stadt.«

»Nein!« Evie schüttelte den Kopf. »Nein.« Ihre Augen verengten sich zu Schlitzen. »Du lügst. Ich weiß nicht, warum du hier bist, Lucas, aber ich falle nicht auf dich herein. Du willst mich ebenfalls zur K erklären lassen. Du willst uns beide loswerden, weil du voller Hass bist.«

Lucas schüttelte energisch den Kopf. »Ich bin hier, weil ich deine Hilfe brauche.« Seine Stimme bebte leicht. »Weil Raffy unsere Hilfe braucht. Sonst wird er sterben. Wenn du Raffy helfen willst, musst du mir den Schlüssel von deinem Vater geben.«

Evie starrte ihn an. War das so etwas wie eine Falle oder so etwas wie eine Prüfung? »Neulich«, sagte sie plötzlich, »als du hier warst … da hast du auch schon nach dem Schlüssel gesucht. Darum warst du im Arbeitszimmer meines Vaters!« Ihr Mund blieb offen stehen, obwohl sie nicht weitersprach. Ein Flackern in seinen Augen sagte ihr, dass sie recht hatte.

»Da wusstest du schon, dass er zum K erklärt werden würde«, meinte sie, und Wut stieg in ihr hoch. »Weil du ihn selbst beim Bruder verraten hast. Und jetzt soll ich dir helfen? Du bist ein Lügner, Lucas, und ich helfe dir nicht. Ich weiß nicht, wozu du den Schlüssel brauchst, aber von mir bekommst du ihn nicht.«

»In einem hast du recht«, räumte Lucas ein. »Es ist meine Schuld, dass Raffy zum K erklärt wurde.«

»Weil du ihnen von uns erzählt hast?« Tränen brannten ihr in den Augen, doch es gelang ihr, sie zu unterdrücken. Sie wollte nicht weinen. Sie war zu wütend, um zu weinen. »Weil du ihm folgen musstest? Konntest du es nicht zulassen, dass dein Bruder eine von den kostbaren Regeln der Stadt verletzt?«

Lucas zog eine Braue hoch und schaute dann weg. »Wegen dir?«, fragte er bitter. »Du glaubst, ich hätte …« Er stockte, musste schlucken. Der Muskel über dem Auge pochte noch schneller. »Nein, Evie. Nicht deswegen.«

Evie spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog. »Warum dann?«, fragte sie. »Warum ist Raffy ein K? Und warum erzählst du mir, du willst ihm jetzt helfen, wo du ihm doch noch nie helfen wolltest, wo du ihn doch sein Leben lang wie einen Menschen zweiter Klasse behandelt hast und dich selber verhältst wie eine Maschine?«

Sie wusste nicht, wo sie den Mut hernahm, dieses Wort auszusprechen. Lucas’ Blick verfinsterte sich, und sie fragte sich, ob sie zu weit gegangen war. Aber dann nickte Lucas langsam. Er setzte sich auf die Bettkante und schlug die Hände vors Gesicht.

»Es tut mir leid, Evie.« Er blickte zu ihr auf. Sein blondes Haar war zerzaust, und für einen Augenblick sah er nicht nur menschlich aus, sondern auch verletzlich. Evie wollte die Hand ausstrecken, doch sie wusste nicht, wie; sie traute sich selbst nicht. Und überhaupt traute sie ihm nicht. Sie würde ihm nie trauen.

Er atmete tief aus. »Ich war sehr hart mit Raffy. Aber ich wollte ihn beschützen. Er hat nicht erkannt … er hat nicht begriffen … dass das, was er getan hat, seine ganze Art … wie er die Leute angesehen hat … Er hat nicht verstanden, dass ihn das in Schwierigkeiten bringt. Er hat nicht begriffen, dass Dad genauso war. Ich wollte ihn beschützen …« Lucas’ Stimme setzte kurz aus und Evie bewegte sich vorsichtig ein Stückchen näher zu ihm hin. »Dein Vater?«, fragte sie. Raffy sprach so gut wie nie über den Vater. Als man ihn zum K gemacht hatte, war Raffy noch zu jung gewesen, um zu verstehen, was es hieß, böse und gefährlich zu sein. Allerdings hatte er ziemlich schnell erfahren, was das Vermächtnis seines Vaters bedeutete: dass die Leute auf der Hut waren vor ihm, dass sie ihm nicht trauten, und zwar nur weil er so aussah wie sein Vater.

»Unser Vater glaubte an diese Stadt. Er dachte, er könnte von Nutzen sein, wenn er möglichst viel lernte. Aber er hat sich nicht an die Regeln gehalten, nicht an die üblichen Verfahrensweisen. Er hat nicht verstanden, dass die Regeln dazu da sind, um … um …« Wieder ließ er den Satz unvollendet und blickte ins Leere.

»Um was?«, fragte Evie atemlos.

Er blickte ihr in die Augen, dann schüttelte er den Kopf. »Dazu ist keine Zeit. Nicht jetzt. Wir müssen Raffy wegbringen, solange es dunkel ist. Solange alle noch schlafen.«

Evie sah ihn misstrauisch an. Dann setzte sie sich neben Lucas aufs Bett. »Du hast mir nicht erzählt, warum Raffy zum K heruntergestuft worden ist. Und warum es deine Schuld ist, wenn du doch niemandem von mir erzählt hast. Von uns.«

Lucas blickte sich verstohlen um, so als könnte noch jemand im Raum sein, der hörte, was er zu sagen hatte. »Es war die Panne«, sagte er schließlich, und sein Blick verdüsterte sich noch mehr. »Ich habe ihm beigebracht, wie man mit der Technik umgeht und sie beeinflusst. Ich dachte, das könne ihm in Zukunft nützlich sein. Aber er wurde zu gut. Er hat … etwas gefunden. Etwas, das er nicht hätte finden dürfen.«

Evie schnappte nach Luft. Sie erinnerte sich daran, was Raffy ihr über die Panne erzählt hatte – und dass sie ihm nicht geglaubt hatte. »Du meinst … das Kommunikationsprogramm?« Ein Schauer lief ihr über den Rücken.

Lucas blickte sie erschrocken an. »Er hat es dir erzählt? Er hat dir davon erzählt?«

»Ich dachte, er hätte sich das nur ausgedacht. Er hat sich ja immer irgendetwas ausgedacht«, antwortete sie mit brüchiger Stimme.

»Hast du jemandem davon erzählt?« Lucas sah sie eindringlich an und Evie schüttelte den Kopf.

Er schien das zu verdauen. Dann sah er sie wieder an, ganz entschlossen, fast so als blicke er direkt in sie hinein. »Also hilfst du mir? Beschaffst du den Schlüssel?«

Sein ganzes Gesicht schien völlig verändert. Da war nichts mehr von dem Lucas, den sie schon ein Leben lang kannte. Er sah aus wie ein richtiger Mensch. Wie jemand, der sie brauchte. Wie jemand, der sich tatsächlich sorgte um Raffy.

»Du hast es die ganze Zeit gewusst? Und du hast dich die ganze Zeit verstellt?«, fragte sie.

»Ich musste«, flüsterte er und nickte. »Es tut mir leid.«

»Und ich? Was war das? Warum die Verlobung mit mir?«

»Weil ich wusste, dass Raffy dich liebt und dich nie bekommen würde. Ich dachte, so könnte ich wenigstens dafür sorgen, dass du in Sicherheit bist.«

Sie bekam einen Kloß im Hals und wurde von verwirrenden Gefühlen übermannt.

»Ich helfe dir«, flüsterte sie.

Ein Lächeln huschte über Lucas’ Gesicht. »Also gut.« Er stand auf und auch Evie erhob sich. »Wir brauchen den Schlüssel. Du gehst und holst ihn. Wir treffen uns dann draußen. Wenn deine Eltern aufwachen, dann sag, du würdest schlafwandeln. Sag, du könntest nicht schlafen. Irgendwas, okay? Aber erwähne meinen Namen nicht. Sie dürfen nicht wissen, dass ich da bin. Verstehst du? Davon hängt sehr viel ab, Evie.«

Sie nickte. Sie hatte sich noch nicht an diesen neuen Lucas gewöhnt. Irgendwie erwartete sie immer noch, dass er sich plötzlich mit seinen eiskalten blauen Augen auf sie stürzte und triumphierend die Lippen kräuselte über ihre Dummheit. Doch stattdessen sah er sie voller Dankbarkeit an und kletterte wieder zum Fenster hinaus. Sie war wieder allein, ihr Kopf raste, doch sie konzentrierte sich ganz auf das eine: Sie würde helfen, Raffy zu retten. Koste es, was es wolle.

Sie schlich zur Tür und zog sie einen Spaltbreit auf. Der Flur war verlassen. Vor dem Schlafzimmer der Eltern blieb sie stehen, wie schon so oft, wenn sie sich draußen mit Raffy getroffen hatte. Erst als sie die gleichmäßigen Atemzüge des Vaters hören konnte, ging sie weiter zur Treppe. Die Stufen knarrten; das hatten sie immer getan, aber Evie wusste, welche Stufen unter ihrem Gewicht nicht allzu laut ächzten. Geschmeidig schlich sie nach unten wie auf Trittsteinen. Sekunden später stand sie im Arbeitszimmer ihres Vaters und blickte auf das Porträt ihrer Mutter, hinter dem der Safe mit dem Schlüssel versteckt war. Ihr Vater öffnete ihn nur in den Nächten, wenn die Bösen kamen. Dabei war er immer allein und unbeobachtet, wie das Protokoll es verlangte. Doch Evie hatte schon als kleines Mädchen gelernt, wie man unbemerkt in ein Zimmer schlüpfte und heimlich beobachtete.

Nervös kniete sie sich auf den Schreibtisch und nahm das Bild von der Wand. Mit schweißnassen Fingern drehte sie das Zahlenschloss des Safes, so wie sie es bei ihrem Vater gesehen hatte. 4 – 5 – 24. Ihr Geburtsdatum. Die Tür glitt auf, und sie starrte einen Augenblick darauf, bevor sie hineingriff und den Schlüssel nahm.

Doch dann hielt sie inne. Was tat sie da? Sie spielte Lucas in die Hände. Sein ganzes Leben lang war er kalt, herzlos und grausam gewesen. Und jetzt erzählte er ihr auf einmal, dass er sich verstellt hatte? Und jetzt sollte sie ihm glauben, dass er ihr und Raffy nur helfen wollte? Lucas hatte keine Gefühle. Er war skrupellos. Und er war schlau. Egal was sein Plan war, sie fiel nicht darauf herein.

Sie schob sich rückwärts vom Schreibtisch, verließ das Arbeitszimmer und ging aus dem Haus. Lucas wartete draußen auf sie. »Hast du ihn?«, fragte er und streckte die Hand aus.

Sie schüttelte den Kopf. »Ich tue es nicht.« Sie sah ihm direkt in die Augen. »Ich traue dir nicht.«

Er packte sie an den Schultern. »Evie, du musst mir vertrauen. Kapierst du denn nicht? Es gibt keinen anderen Weg. Du musst mir den Schlüssel geben, oder Raffy … Raffy …« Die Stimme versagte ihm. Ungläubig sah Evie, wie ihm die Tränen über das Gesicht liefen. Mit einer jähen Handbewegung wischte er sie weg.

»Aber wie soll ich dir denn vertrauen?«, fragte sie unglücklich. »Wie denn? Nach allem, was du getan hast?«

»Nach allem, was ich getan habe? Wie zum Beispiel, deine kleinen mitternächtlichen Treffen mit Raffy zu decken? Dafür zu sorgen, dass das System euch nicht erwischt? So etwas zum Beispiel?« Lucas’ Augen blitzten wütend.

Evie starrte ihn unsicher an. »Du hast es gewusst?«

»Natürlich habe ich es gewusst.« Er seufzte. »Sonst hätte man euch doch gleich geschnappt!«

Evie brauchte eine Weile, um das zu verdauen. Das System hatte nichts gewusst; es war ihr nicht auf der Spur gewesen. Lucas hatte sie die ganze Zeit beschützt. Sie und Raffy. Oder, dachte sie plötzlich, das System hatte ihn mit dieser Information ausgestattet, damit er ihr Vertrauen gewinnen konnte. Hätte er wirklich tatenlos zugesehen, wenn er von ihren Treffen mit Raffy gewusst hätte?

»Ich verstehe nicht, wie du hättest verhindern können, dass das System davon erfährt.« Zweifel plagten sie. »Man kann das System doch nicht kontrollieren, oder?«

Lucas schloss die Augen. Dann blickte er sie seltsam an, unsicher. »Also gut. Da ist noch etwas.«

»Was?« Sie verengte die Augen zu Schlitzen. »Was denn?«

»Ich will dir etwas erzählen, Evie. Etwas Wichtiges. Damit du mir vertraust, okay?«

»Okay«, antwortete sie unsicher.

Er sah nach oben, dann wieder auf den Boden, so als suchte er nach den richtigen Worten.

»Was denn?«, fragte Evie noch einmal und runzelte die Stirn. »Sag schon.«

Er zog ein Stück Papier hervor und gab es ihr. Evie blickte verständnislos darauf. Es war irgendeine Bescheinigung. Da standen ihr Name und auch die Namen ihrer Eltern. »Deine Eltern …«, flüsterte er kaum vernehmlich. »Deine Eltern sind nicht deine Eltern.«

Sie sah ihn an. »Natürlich sind sie meine Eltern!«

»Nein, Evie.« Er atmete tief aus, trat einen Schritt zurück und blickte sie besorgt an. »Das sind sie nicht. Sie haben dich adoptiert, als du drei Jahre alt warst.«

Sie kniff die Augen zusammen und las den Text noch einmal durch, bis sie, ganz unten in der Ecke, das Wort fand, das sie gesucht hatte. »Adoption.« Ihr wurde übel. Und sie knüllte das Blatt zu einem Ball zusammen.

»Was redest du denn da?«, meinte sie wütend. »Ist das noch eine Lüge? Was redest du denn da, Lucas?« Sie tippte ihm mit dem Finger gegen die Brust, dann versetzte sie ihm einen Stoß, und ehe sie sichs versah, schlug sie auf ihn ein. Sie fauchte ihn an. Aller Anstand war abgefallen, bemerkte sie; Schluss mit der Heuchelei. »Was redest du da, Lucas?«, drang sie auf ihn ein. »Sag es mir …!«

Lucas hockte sich hin und zog sie neben sich. »Das war Teil des Wachstumsprogramms«, flüsterte er, und seine Stimme war angespannt. »Es gab nicht genug Menschen, vor allem keine jungen Leute. Nicht alle konnten nach der Schreckenszeit Kinder bekommen. Nicht alle …« Er holte tief Atem. »Also hat man Menschen hereingelassen. Verzweifelte Menschen. Manche hatten einen weiten Weg zurückgelegt. Sie hatten nichts zu essen, waren am Verhungern. Sie waren nur knapp dem Tod entronnen und hatten gedacht, die Stadt würde sie retten. Sie kamen her und …« Er verstummte; in seinen Augen glänzten Tränen.

»Und was?«, fragte Evie. Ein seltsames Gefühl beschlich sie. »Was ist mit ihnen passiert? Was ist mit meinen richtigen Eltern passiert?«

»Man hat ihnen ihre Kinder weggenommen und sie zu guten Eltern gegeben. Zu Eltern, die selbst keine Kinder bekommen konnten.«

Evie spürte einen dicken Kloß in der Kehle. »Das meine ich nicht. Was ist mit ihnen passiert? Was ist mit meinen leiblichen Eltern passiert?« Ihre Stimme klang kehlig tief.

Lucas schüttelte den Kopf als Antwort.

Evie sprang auf und wich einen Schritt zurück. Sie konnte nicht sprechen. Sie drehte sich um und ging auf das Haus zu, das Haus, in dem sie aufgewachsen war, das Haus, das sie immer für ihres gehalten hatte. Jetzt war es für sie nichts als eine Lüge.

Sie fühlte sich elend.

Sie wollte schreien, nein, brüllen. Sie wollte Lucas anschreien, er solle sie nicht mehr anlügen, solle ihr nicht solche Dinge erzählen.

Doch sie tat es nicht, weil sie wusste, irgendwo tief drin, dass er nicht log. Der Mann aus ihrem Traum, der sie an sich presste. Die Frau, die ihr über die Stirn strich und ihr von dem wunderbaren Ort erzählte, wo sie hingehen würden, und die ihr sagte, dass sie stark sein musste. Ihre Eltern. Das waren ihre richtigen Eltern gewesen.

Sie drehte sich wieder zu Lucas um. Ihre Augen schwammen in Tränen. »Ich habe von ihnen geträumt«, hörte sie sich sagen, aber ihre Stimme hatte nichts mit ihr zu tun, denn sie war schon wieder ganz weit weg, ein kleines Mädchen auf dem Arm eines Mannes, der sie liebte. »Der Bruder hat gesagt, ich würde von der Stadt träumen. Er wusste es. Sie …«

Sie fing Lucas’ Blick auf, sah den Schmerz in seinen Augen, wusste, dass er verstand. Als sie sich gegen ihn fallen ließ, spürte sie, wie er die Arme fest um sie schlang, und es war fast so, als wäre sie wieder in ihrem Traum. »Verstehst du?«, flüsterte er verzweifelt. »Hier gibt es so viele Lügen. Wir müssen Raffy befreien. Wir müssen!«

Und Evie nickte, weil sie wusste, dass er recht hatte. Und sie wusste noch etwas. »Ich gehe auch«, sagte sie, und während sie es sagte, stieg Angst in ihr auf, denn außerhalb der Stadtmauer lauerten nur Gefahr, die Bösen, eine Welt voller brutaler Menschen. Aber sie wollte es wagen.

»Nein«, sagte Lucas sofort. »Nein, du bleibst hier. Hier bist du in Sicherheit. Ich habe alles geplant. Es wird so aussehen, als hätte Raffy den Schlüssel gestohlen. Du musst hierbleiben.«

»Nein.« Evie schüttelte heftig den Kopf. »Ich gehe mit Raffy. Ich gehöre nicht hierher. Ich will hier nicht mehr leben. Ich will nichts mehr zu tun haben mit diesem Ort.«

Lucas schwieg einige Sekunden lang. Er wich zurück, fasste sie wieder an den Schultern, aber sanfter diesmal. »Es ist gefährlich da draußen«, sagte er dann. »Bist du dir sicher?«

Sie nickte. »Ich kann hier nicht bleiben. Jetzt nicht mehr. Und sie werden sowieso wissen, dass ich es war. Raffy müsste ein Fenster oder so einschlagen … Und wenn wir das tun, dann wacht mein Vater auf, schlägt Alarm, und niemand kann entkommen.«

Lucas sah ihr in die Augen. Er sah elend aus. »Ich hätte nicht herkommen sollen.«

»Du musstest kommen«, erwiderte sie. »Und außerdem, wenn das stimmt, was du mir über meine Eltern erzählt hast, dann kann ich sowieso nicht bleiben. Nicht mehr. Sie haben sie mir weggenommen, sie haben mich angelogen. Mein ganzes Leben hier war eine einzige Lüge.«

»Sie haben jeden angelogen«, sagte Lucas leise.

»Dann gehen wir alle zusammen.« Evie schluckte und versuchte, so zu tun, als wäre der riesige Kloß in ihrer Kehle nicht da. Sie wollte so kalt sein, wie Lucas immer war, wollte eine Maschine sein, damit es nicht so wehtat. Und plötzlich verstand sie, warum er so war, wie er war. Weil Maschinen keinen Schmerz spürten. Denn wenn man aus Eis war, dann konnte man nicht verletzt werden.

Einen Augenblick lang leuchtete etwas auf in Lucas’ Blick, etwas, das sie wieder an Raffy erinnerte, aber das sie auch irgendwie verstörte, denn in ihrem eigenen Blick lag bestimmt dieselbe Verzweiflung. Sie hatte Lucas gehasst, sie hatte ihn verachtet. Aber jetzt … jetzt …

»Ich kann nicht mitkommen«, erklärte er unvermittelt, wandte sich ab und kappte die Verbindung, die ein paar seltsame Sekunden lang zwischen ihnen bestanden hatte. Evie hatte das Gefühl, als stolpere sie rückwärts, irgendwohin in etwas, was sie nicht kannte. »Ich muss hierbleiben. Es gibt Dinge, die ich tun muss. Ich …«

Sein Blick schoss umher. Evie wusste, dass es sein Kopf war, der gesprochen hatte, nicht sein Herz. Und mit einem Mal verstand sie ihn – nicht alles, aber genug. Er hatte überlebt, er hatte getan, was er tun musste. Aber er war ein Mensch, er hatte gelitten und er litt noch immer. »Es gibt Dinge, die ich erledigen muss. Dinge …« Er murmelte vor sich hin, dann schaute er sie wieder an, und diesmal spürte Evie die volle Kraft seines Blicks, die verzweifelte Not in seinen Augen, den Hunger nach Trost und nach Verständnis. Ohne es eigentlich zu wollen, ohne groß darüber nachzudenken, ging sie auf ihn zu und berührte mit den Händen seine Brust, seine Schultern, seinen Hals. Er legte die Arme wieder um sie und ihre Lippen fanden sich. Sie spürte, wie ihre Tränen sich mit den seinen mischten, sein Schmerz mit ihrem Schmerz, bis es sich fast so anfühlte, als wären sie zu einem einzigen Wesen geworden, mit derselben Wut, derselben Verzweiflung und derselben Angst. Und dann war es ganz plötzlich vorbei, genauso schnell, wie es begonnen hatte. Sie lösten sich voneinander, hielten sich noch ein paar Sekunden an den Händen, bevor sie sie sinken ließen. Und Evie wusste, dass es derselbe Gedanke war, der sie dazu gebracht hatte, aufzuhören. Der Gedanke an denselben Menschen. Raffy.

»Ich bin gleich wieder da«, sagte Evie und ging zur Haustür. »Ich bringe dir den Schlüssel. Aber ich verlasse die Stadt, Lucas. Ich kann hier nicht bleiben. Jetzt nicht mehr.«

»Ich weiß«, antwortete Lucas und sah weg. Sein blondes Haar schimmerte im Mondlicht. Seine verhangenen Augen betrachteten jetzt irgendeinen Punkt auf dem Straßenpflaster. »Es tut mir so leid, Evie. Wegen allem.«


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