6

Die ganze Nacht drehte Evie sich im Bett von einer Seite auf die andere und fand keinen Schlaf. Das Böse in ihr lag in erbittertem Widerstreit mit ihrem Vorsatz, genauso rein und stark zu sein, wie der Bruder es in der Versammlung gefordert hatte. Sie wollte dem Bösen abschwören, sie wollte nur noch gute Gedanken im Kopf haben, doch sie konnte an nichts anderes denken als an Raffy, an die Verzweiflung in seinen Augen und an seine Weigerung, zu akzeptieren, was sie ihm gesagt hatte. Und ihre einzige Empfindung war eine tiefe Sehnsucht, ihn zu sehen, nur ein einziges Mal noch. Sie konnten doch einen anderen Weg finden – einen guten Weg – und Freunde bleiben … Aber sie wusste, dass das unmöglich war und dass sie ihn nie wiedersehen durfte.

Ihr Verstand arbeitete so fieberhaft, dass sie das Klopfen am Fenster beim ersten Mal ganz überhörte. Beim zweiten Klopfen erschrak sie so sehr, dass sie sich kerzengerade im Bett aufsetzte, die Decke an sich zog und zum Fenster starrte, als wären die Bösen selbst gekommen, um sie zu holen, als könnten sie ihre Gedanken lesen und sie als eine von ihnen erkennen.

»Evie. Evie.« Ihr Herz setzte einen Schlag aus. Das waren nicht die Bösen, das war Raffy. Er war hier, er war bis zu ihrem Haus gekommen. Ihre Angst, dass er entdeckt werden könnte, mischte sich mit dem verzweifelten Bedürfnis, ihn zu sehen – ihn zu trösten, ihm alles zu erklären, damit er sie verstand und sie freigab.

Zitternd trat sie ans Fenster und zog den Vorhang zurück. Obwohl sie wusste, dass er es war, zuckte sie zusammen, als sie sah, wie er sie anschaute, während er auf dem Fenstersims mühsam das Gleichgewicht hielt, mit einem Gesicht so voller Traurigkeit, dass sie den Tränen nahe war.

Sogleich öffnete sie das Fenster, zog ihn herein und legte den Finger auf die Lippen – nur ein einziges Geräusch, dann gab es kein Zurück mehr und keine Hoffnung auf Vergebung.

Er setzte sich aufs Bett. Sie blickte ihn an und brachte nichts heraus, obwohl sie verzweifelt nach den richtigen Worten suchte. Also redete Raffy als Erster, leise, angespannt und müde.

»Du machst einen Fehler«, sagte er. »Das kannst du nicht tun.«

»Doch, das kann ich.« Sie blickte zu Boden. »Und du musst es auch. Das System beobachtet dich. Vielleicht weiß es schon alles. Ich weiß nicht, warum es uns noch nicht bestraft hat, aber das wird es tun, wenn wir nicht aufhören. Ich werde Lucas heiraten. Und wir dürfen uns nicht mehr treffen.«

»Weil das System uns sonst bestraft? Das ist mir egal. Dann werde ich eben ein D. Sie behandeln mich sowieso schon alle, als wäre ich einer.«

»Und wenn du nicht zum D herabgestuft wirst?«, zischte sie heftig. »Wenn sie uns zu Ks machen? Dann werden wir aus der Stadt geworfen und sie liefern uns den Bösen aus.« Tränen schossen ihr in die Augen vor Angst und Elend. »Raffy, wir haben keine Wahl. Wir dürfen uns nicht mehr sehen. Begreif das doch endlich.«

»Nein. Ich begreife nur, dass du Lucas unmöglich heiraten kannst.« Er mahlte mit den Kiefern. »Völlig ausgeschlossen. Er ist kein Mensch, er ist eine Maschine. Er wird sich nicht um dich kümmern. Er wird dir nicht zuhören. Er wird dich nicht lieben. Nicht so wie ich. Er verdient dich nicht. Er …«

Raffy streckte die Arme nach Evie aus, aber sie wich zurück.

»Er ist keine Maschine …«, erwiderte sie matt.

»Doch, das ist er«, sagte Raffy und starrte sie unerbittlich an.

»Dann müssen wir vielleicht auch Maschinen werden«, antwortete sie und wischte sich die Tränen weg. »Vielleicht ist das ja der Schlüssel, um ein guter Mensch zu werden. Vielleicht verbirgt sich das Böse ja in unseren Gefühlen und in unseren verborgenen Gedanken.«

»Wenn das gut sein heißt, dann will ich nicht gut werden«, sagte er wütend und herausfordernd, aber Evie ging nicht darauf ein.

»Das meinst du nicht ernst«, flüsterte sie.

»Ach nein? Er verschränkte die Arme vor der Brust.« Als sie Dad weggebracht haben, da hat Lucas kein einziges Wort gesagt. Er hat Vaters Sachen hinausgeworfen und gemeint, er hätte Schande über unsere Familie gebracht und wir dürften seinen Namen nie wieder erwähnen. Sein eigener Vater. Findest du das gut?«

Evie wollte schlucken, aber in ihrem Hals steckte ein gewaltiger Kloß. Sie erinnerte sich noch so gut daran. Lucas’ Verhalten hatte Raffys Verzweiflung über den Verlust des Vaters noch schlimmer gemacht. Immer wenn Raffy den Mann erwähnen wollte, der sie beide großgezogen hatte, blitzte es eisig auf in Lucas’ Augen. »Man hat deinen Vater zum K erklärt«, sagte Evie zögernd.

Raffys Augen verengten sich zu Schlitzen. »Du wirst wohl auch schon zu einer Maschine«, meinte er bitter. »Mein Vater war ein guter Mensch. Er war nicht böse. Er war nicht böse.« Er wandte sich ab und vergrub seinen Kopf auf den Knien. Evie streckte zaghaft die Hand nach ihm aus.

»Er wollte nicht böse sein«, sagte sie. »Ich bin mir sicher, dass er das nicht wollte. Aber das System …«

»Das System hat immer recht. Schon klar.« Seine Stimme hatte nun einen gefährlichen Unterton. Mit schreckgeweiteten Augen starrte sie ihn an. Konnte das System ihn hören?

»Das System hat recht.« Sie blickte sich besorgt um. »Es kennt jeden von uns und sieht tief in unser Herz und …«

»Und mein Vater wird vom A direkt zum K? Da war das System wohl für eine Weile nicht ganz bei der Sache?« Raffy stand auf. »Verstehst du denn nicht, Evie? Ich dachte, du würdest es verstehen. Das ist alles Mist. Das muss so sein. Ich bin nicht böse. Und du bist nicht böse. Die Gefühle, die ich für dich habe, sind nicht böse. Und die Gefühle, die du für mich hast. Oder hattest, muss ich wohl eher sagen.«

Wieder sah er sie eindringlich an, und Evie merkte, dass ihr warm wurde.

»Habe«, flüsterte sie. »Die ich habe.«

Ein Lächeln erschien auf seinem Gesicht. Er setzte sich wieder auf das Bett, ergriff ihre Hände und zog sie an sich.

»Neulich«, meinte er so leise, dass sie ihn kaum hören konnte, »als ich die Panne bemerkt habe … das war keine Panne, das war ein Kommunikationsprogramm. Es gab Botschaften an Menschen außerhalb der Stadt. An Menschen, die auch ein System haben müssen. Dabei behauptet der Bruder immer, da draußen gäbe es nur lauter Böse und Wilde. Aber ich habe die Botschaften gesehen. Und das Programm. Verstehst du denn nicht? Wenn sie bei dieser Sache lügen, dann lügen sie auch bei anderen Dingen.«

Evies Augen waren fast so groß wie Untertassen, und ihr Herz begann, angstvoll zu klopfen. Sie schüttelte den Kopf.

»Nein«, flüsterte sie. »Nein, Raffy. Das ist unmöglich.«

Er verdrehte die Augen. »Ja, das hat Lucas auch gesagt. Ich hätte mir das ausgedacht, ich hätte Halluzinationen. Aber ich weiß genau, was ich gesehen habe.«

»Aber … aber …«, stammelte Evie. Ihre Gedanken rasten, und ihre Verwirrung wuchs so sehr, dass sie das Gefühl hatte, das Gleichgewicht zu verlieren.

»Nichts aber«, sagte Raffy. Er drückte ihre Hände und plötzlich leuchteten seine Augen. »Wenn es einen anderen Ort gibt, dann gehen wir dorthin. Zusammen.«

»Dorthin? Du meinst, die Stadt verlassen?« Evie zuckte zurück.

»Ich meine, irgendwo einen besseren Ort finden. Ohne Vorschriften. Wo wir einfach nur leben können.«

»Du meinst, so wie die Bösen leben?« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Nein, Raffy. Nein. Wir gehen nirgendwohin. Du gehst nach Hause und kommst nie wieder her und ich werde Lucas heiraten.« Sie senkte den Blick, ihre Tränen flossen nun ungehindert.

»Nein!«, rief Raffy aufgebracht. »Evie, hör mir zu. Wir haben doch immer davon geredet … davon, dass wir einen Ort finden irgendwo weit weg, wo wir glücklich leben können. Wir haben immer davon geredet, dass wir fliehen wollen. Also jetzt können wir es. Jetzt müssen wir es.«

Evie zog ihre Hände weg und sagte wütend: »Das war doch bloß kindisches Gerede. Jetzt sind wir erwachsen. Du kannst nicht mehr länger in deiner Fantasiewelt leben. Du lebst hier in der Stadt. Und du hast Glück, dass du hier lebst. Wir haben beide Glück. Du musst aufhören, Raffy. Du musst …« Sie wischte sich die Tränen aus den Augen, stand vom Bett auf und stieß das Fenster auf. »Du musst gehen, Raffy«, sagte sie. »Sofort … Bitte.«

»Du willst wirklich, dass ich gehe?«

Evie nickte. Sie brachte es kaum über sich, ihn anzusehen, die Verwirrung und den Schmerz in seinen Augen, die ihre Entschlossenheit sofort ins Wanken bringen würden.

»Also gut. Ich gehe«, murmelte er böse. »Aber ich sage dir, es gibt diesen Ort. Das ist kein Hirngespinst, das ist Wirklichkeit. So wirklich wie alles hier.« Er packte sie, zog sie an sich und küsste sie. Sie versuchte, sich von ihm zu lösen, doch sie konnte nicht. Sie wollte nicht. Stattdessen hielt sie sich an ihm fest, an seinen Schultern, an seinen Haaren, presste ihn an sich und sog den Duft seiner Haut ein, damit sie ihn nie vergessen würde.

»Leb wohl, Evie«, sagte er schließlich mit heiserer Stimme. »Pass auf dich auf.«

Dann ließ er sie los, und noch nie hatte sie sich so allein gefühlt, so kalt und so hilflos. Doch sie stählte sich, holte tief Atem. Sie tat das Richtige. Endlich einmal tat sie das Richtige. Raffy ging zum Fenster, und Evie zog den Vorhang ganz zurück, damit er es öffnen konnte. Und dann hörten sie beide etwas. Ein Rascheln unten im Garten. Sie rührten sich nicht, starrten sich an. »Was war das?«, flüsterte Raffy.

»Geh hinter den Vorhang«, formte Evie mit den Lippen. Sie reckte sich ein wenig und spähte nach unten, um herauszufinden, woher das Geräusch kam. Ein Fuchs, sagte sie sich. Oder ein anderes Tier. Ein …

Aber es war kein Fuchs. Sie sah ihn sofort. Er sah sie direkt an und nun fiel sie wirklich in einen Abgrund. Mitten im Garten stand Lucas und sein blondes Haar leuchtete im Mondlicht. Und sie wusste sofort, dass er alles gesehen hatte; sie hatten sich direkt am Fenster bei halb geöffnetem Vorhang umarmt. Er musste Raffy gefolgt sein. Und jetzt wusste er es. Und jetzt … Sie fing an zu schwitzen. Sie musste Raffy warnen, aber wenn sie sich zu ihm umdrehte und ihm ein Zeichen gab, dann gab es für Lucas keinen Zweifel mehr. Sie musste zumindest so tun, als ob. Nur für den Fall, dass er doch nichts gesehen hatte. Nur für den Fall.

Evie lehnte sich aus dem Fenster. »Lucas!«, flüsterte sie. »Was machst du …?«

»Schick Raffy zu mir herunter«, flüsterte er zurück, ohne irgendeine Regung in der Stimme.

»Raffy?«, fragte sie.

»Evie, mach es nicht noch schlimmer, als es sowieso schon ist. Schick Raffy sofort herunter. Ich muss ihn nach Hause bringen. Zwing mich nicht dazu, dass ich deine Eltern aufwecke.«

Raffy hörte die Stimme und wurde kreidebleich. Evie sah ihn verzweifelt an. Es gab nichts zu sagen.

Raffy trat ans Fenster. »Ich werde ihm sagen, dass das alles meine Schuld ist«, sagte er. »Dass ich hier eingedrungen bin. Ich sage ihm, du hast versucht, mich dazu zu bringen, dass ich gehe …«

Evie schüttelte den Kopf. »Er weiß alles«, sagte sie. »Er hat uns gesehen.«

Raffy nahm ihre Hand und drückte sie so fest, dass sie aufschrie vor Schmerz. »Es tut mir leid, Evie«, sagte er stockend. »Ich liebe dich. Es tut mir so leid.«

»Es braucht dir nicht leidzutun. Ich liebe dich auch«, brachte sie mit belegter Stimme heraus. Raffy kletterte aus dem Fenster und an der Hauswand hinunter in den Garten, wo Lucas auf ihn wartete. Sie sprachen kein Wort. Lucas legte seinem Bruder gebieterisch die Hand auf die Schulter und schob ihn Richtung Gartentor.

Er sah nicht zurück zu Evie, die sich ins Bett legte und die Decke über sich zog und wartete, bis der Morgen kam und alles anders wurde. Doch trotz ihrer Angst spürte sie fast so etwas wie Erleichterung, dass die Wahrheit heraus war, dass alle sie nun als die sehen würden, die sie wirklich war, und dass die Verstellung ein Ende hatte. Und mit diesem Gedanken schlief sie ein.

Als sie am Morgen nach unten ging, war sie seltsam gefasst. Lucas musste es jemandem erzählt haben. Bestimmt wussten ihre Eltern Bescheid.

Ihre Mutter war gerade dabei, sich fertig zu machen, und schien kaum Notiz von Evie zu nehmen, die versuchte, ein bisschen etwas zum Frühstück zu essen.

Besorgt ging sie wieder hinauf, wusch sich und zog sich an. Dann verließ sie das Haus und wartete darauf, dass jemand auf sie zeigte, sie anschrie oder sie wegbrachte. Doch nichts geschah. Es war fast so, als wäre das, was letzte Nacht vorgefallen war, nur ein weiterer Traum gewesen, so als wäre es gar nicht passiert. Als die Aufseherin bei ihrer Ankunft kaum aufblickte und auch Christine ihr nur kurz zulächelte wie sonst auch, dachte Evie schließlich, dass es vielleicht doch ein Traum war, dass vielleicht doch gar nichts passiert war.

Raffy war nirgends zu sehen, aber das war nicht ungewöhnlich. Wahrscheinlich war er schon bei der Arbeit, vielleicht sogar in der Frühschicht. Auch während der Mittagspause in der Regierungskantine, wo sie für ihre Wertmarken einen Gemüseteller mit Brot und Käse bekam, sah sie ihn nicht, und sie sagte sich, dass alles tatsächlich ein Traum gewesen war. Raffy war nicht zu ihrem Haus gekommen; er hatte sich mit der Situation abgefunden und ging ihr aus dem Weg, um es leichter zu machen. Alles würde in Ordnung kommen.

Doch sosehr sie sich auch bemühte, sie konnte die Wahrheit nicht verdrängen. Raffy war in ihrem Zimmer gewesen und Lucas hatte es gesehen. Wenn Lucas es noch niemandem erzählt hatte, dann musste es dafür einen Grund geben. Sie hatte die Wut in seinen Augen gesehen. Sie hatte ihn betrogen. Sie hatte gegen die Gesetze der Stadt verstoßen und mit seinem Bruder Umgang gehabt. Egal was passieren würde, es würde nicht gut werden, und darauf zu warten, machte es nur noch schlimmer.

»Abweichler! Willst wohl zu Hause etwas aushecken? In gefährlichen Gedanken schwelgen?«

Evie sprang auf. Von hinten kamen Männer mit hasserfülltem Gesicht auf sie zugestürmt. Sie erstarrte. Sie wusste, dass sie kamen, um sie zu holen, dass irgendwie zwischen Arbeitsende und jetzt die Wahrheit herausgekommen war. Und jetzt wusste jeder, was sie für eine war.

Doch während sie stocksteif dastand, rannten die Männer an ihr vorbei. Wie betäubt sah sie, wie die Männer auf ihr eigentliches Ziel losgingen, es umringten, blutrünstig und laut schreiend. Bevor sie ihn einkreisten, sah sie das Gesicht des Mannes und das Entsetzen in seinen Augen. Es war Mr Bridges, der vorige Woche auf D herabgestuft worden war, der Mann, vor dem der Bruder sie alle gewarnt hatte.

Sie wollte weglaufen, doch sie konnte nicht; irgendetwas in ihr musste den Angriff miterleben, damit sie wusste, was ihr selbst bevorstand.

»Nein«, rief Mr Bridges. »Es tut mir leid. Ich …«

»Was?«, fiel einer der Männer ihm ins Wort. »Gar nichts tut dir leid. Du bist ein D. Du bist ein Abweichler.«

»Du hast das Böse in die Stadt gebracht«, schrie ein anderer Mann, während sie Mr Bridges zu Boden stießen.

»Du verdirbst unsere Familien«, brüllte ein anderer.

Einer der schreienden Männer fing Evies Blick auf. Es war Mr Adams, der nur ein paar Häuser weiter von ihnen wohnte. Ein Jahr zuvor noch war er selbst ein D gewesen. Er wusste, wie das war. Er wusste es …

Evie überquerte die Straße; sie konnte es nicht mehr mitansehen. Ihr wurde übel. Sie musste gehen, weit weg.

Mr Adams sah sie noch immer an. »Siehst du«, krähte er. »Sogar die junge Evie wechselt die Straßenseite, um dich zu meiden. Keiner will dich auch nur ansehen.«

Evie zögerte. Wenn sie waghalsig wäre, so wie Raffy, dann würde sie Mr Bridges jetzt sagen, dass sie nicht seinetwegen die Straßenseite gewechselt hatte, sondern wegen seinen Peinigern. Aber sie war nicht mutig, sie hatte Angst. Solche Angriffe waren allgemein akzeptiert in der Stadt, ja sie wurden sogar befördert. Sie waren zwar nicht rechtens, aber die Polizeigarde schaute normalerweise weg, wenn ein D in Bedrängnis war. »Gewalt ist der falsche Weg«, sagte der Bruder und schüttelte traurig den Kopf, wenn er von so einem Vorfall erfuhr, »aber manchmal müssen wir dem Bösen auf seiner eigenen Ebene begegnen, wenn wir es zerstören wollen.«

Also rannte Evie in die Bäckerei an der Ecke und tat so, als würde sie die Brotlaibe begutachten, damit sie nicht mitansehen musste, was vor sich ging, nicht daran beteiligt war.

»Möchten Sie etwas?«, fragte die Frau hinter dem Tresen. »Wir haben heute wunderbares Fladenbrot, bloß drei Wertmarken pro Stück. Oder Vollkornbrot, falls Sie so etwas mögen. Vier Wertmarken, leider, weil das Mehl teurer ist. Dafür sind die Laibe ziemlich groß, sehen Sie?« Sie hielt einen in die Höhe und Evie starrte verständnislos darauf. Sie konnte jetzt nicht an Brot denken, nicht an Essen; sie konnte nur daran denken, was wohl mit Mr Bridges geschehen würde und früher oder später auch mit ihr.

»Ich … ich weiß nicht«, antwortete sie. »Ich muss meine Mutter fragen …«

»Da haben Sie recht.« Die Frau zuckte etwas enttäuscht die Schultern. Dann spähte sie durchs Schaufenster hinaus auf die Attacke gegen Mr Bridges. »Schreckliche Sache«, murmelte sie. »Man sieht’s den Leuten einfach nicht an, was? Da meint man, man kennt die Leute, und dabei sind es Abweichler, die uns ins Verderben reißen wollen. Jeden Tag hat er hier Brot gekauft. Hätte nie gedacht, dass er ein … na ja, Sie wissen schon … einer von denen ist.«

Evie nickte unbehaglich, dann drehte sie sich um und blickte auf die Straße, wo die Männer Mr Bridges noch immer quälten. Einer hatte einen Stecken aufgehoben und schlug damit auf ihn ein, ein anderer tat es ihm nach. Wie lange würde sie hier noch festsitzen und wie lange würde sie diese Folter noch mitansehen müssen?

Dann schnitt mit einem Mal eine andere Stimme durch das Gejohle der Männer und sie hielten augenblicklich ein mit dem Schlagen. »Ich nehme an, dass euch der Große Anführer selbst zu dieser Bestrafung ermächtigt hat, oder?«

Der barsche und so charakteristische Klang der Stimme ließ keinen Zweifel. Das konnte nur einer sein. Evie spähte zur Ladentür hinaus und sah Lucas herankommen. Sein Blick war wie versteinert vor Wut.

Die Männer blickten ihn feindselig an, doch als sie sein gelbes Rangabzeichen erkannten, wurden sie etwas vorsichtiger. »Was geht dich das an«, knurrte einer und ging argwöhnisch auf Lucas zu. »Das ist ein D. Er ist gefährlich und er wohnt in unserer Straße. Und wir wollen ihn hier nicht.«

»Was mich das angeht? Ich bin ein Bürger dieser Stadt, und ich bin der Ansicht, dass das System zuständig ist für Sicherheit und Ordnung«, erwiderte Lucas eisig. »So ein Verhalten ist, so wie ich das sehe, gesteuert von Wut und Überheblichkeit – beides verwerfliche Beweggründe, die keinen Platz haben innerhalb der Stadtmauer.« Er lächelte, doch selbst von der anderen Straßenseite aus sah Evie seine eiskalten Augen. Eine Welle der Angst ergriff sie; dieselben Augen hatte sie vorige Nacht im Mondschein gesehen.

»Was fällt dir ein?«, rief der Anführer. »Willst du etwa sagen, dass wir im Unrecht sind? Er ist der Unmensch, und er wartet nur darauf, unsere Familien zu überfallen.«

Er sprang auf Lucas zu und stürzte sich auf ihn, aber Lucas war schneller. Er packte den Mann an den Handgelenken, riss ihn herum und drehte ihm die Arme auf den Rücken. Evie sah zu und ihr stockte der Atem. Was ging hier vor? Warum sollte Lucas einen D beschützen? Warum?

»Und du meinst, euer Vorgehen ist das, was der Große Anführer meint, wenn er uns in seiner Betrachtung Nummer 78 anweist, ›unseren Rang und den der anderen zu akzeptieren, weil das System seine Pflichten kennt, und wir müssen die unseren kennen und danach streben, immer besser zu werden, uns selbst zu verbessern und damit auch unsere Gemeinschaft, unsere Stadt und unsere Gesellschaft‹? Wirklich?«, zischte er zwischen den Zähnen. Er stieß den Mann zu Boden. »Verschwindet hier. Geht nach Hause«, befahl er und starrte einen nach dem anderen an, als wollte er sie herausfordern, sich ihm zu widersetzen.

Keiner wagte es. Die Augen gesenkt, schlichen sie davon, wobei der eine oder andere sich noch einmal umdrehte und einen reumütigen Blick auf Lucas warf. Daraufhin streckte Lucas Mr Bridges, der auf dem Pflaster kauerte, die Hand hin. Evie sah mit weit aufgerissenen Augen zu und fragte sich, was das zu bedeuten hatte. Warum tat Lucas so etwas?«

»Können Sie gehen?«, fragte er.

Mr Bridges nickte. »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll«, krächzte er. »Ich weiß nicht, wie …«

»Danken Sie mir nicht«, bellte Lucas. »Von einem D will ich keinen Dank. Ich habe diese Männer nur vor sich selbst geschützt und davor, dass sie durch Sie verdorben werden.« Er blickte sich um und Evie duckte sich hinter die Ladentür. Als sie wieder hinaussah, gab Lucas dem Mann etwas in die Hand – eine Karte, seine Karte. Dann drehte er sich um und marschierte los. Genau auf Evie zu. Genau auf die Bäckerei zu! Panisch blickte sie sich um, aber es war zu spät, um zu fliehen, und in dem kleinen Laden konnte sie sich nirgendwo verstecken.

Energisch drückte er die Ladentür auf und Evie straffte sich. Vielleicht war er ja genauso nett zu ihr wie gerade eben zu Mr Bridges. Vielleicht war Lucas ja doch keine Maschine. Vielleicht … Er bemerkte sie sofort, als er in den Laden kam. »Evie!« Seine Augen zogen sich zusammen und jede Gefühlsregung verschwand aus seinem Gesicht. »Was machst du hier?«

»Sie weiß nicht, welches Brot sie will«, sagte die Frau hinter dem Tresen und seufzte.

»Doch, ich weiß es«, sagte Evie schnell und suchte in Lucas’ Gesicht nach einem Hinweis darauf, was er jetzt tun wollte und wie es wohl weitergehen würde. »Ich muss bloß … Ich muss meine Mutter fragen. Also drei Wertmarken für den Laib.«

»Dann solltest du nicht Mrs Arnolds Zeit verschwenden«, meinte Lucas teilnahmslos.

»Nein, nein, natürlich nicht …«, stieß Evie schuldbewusst hervor und wurde rot.

Ihre Augen trafen sich, und sie hielt Lucas’ Blick ein paar Sekunden lang stand, dann konnte sie es nicht mehr ertragen und musste wieder wegsehen.

»Ich habe heute Nachmittag mit deinem Vater gesprochen«, sagte er, und Evie spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich.

»Mit meinem … Vater?«

Lucas nickte. »Ich sagte, ich würde dich heute Abend besuchen. Wenn es genehm ist.«

Evie schaute ihn unsicher an. »Mich besuchen?«

»Ist schon eine ganze Weile her«, sagte Lucas gleichmütig, und seine Miene ließ keinerlei Regung erkennen.

»Dann sehen wir uns später«, brachte Evie heraus und ging langsam Richtung Tür. Sie zögerte einen Augenblick, doch dann ließ sie die Tür zu. Sie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, doch dann wurde ihr klar, dass es nichts zu sagen gab. Er hatte beschlossen, ihren Eltern heute Abend alles zu erzählen, und daran konnte sie nichts ändern. Also verließ sie den Laden und ging nach Hause und wartete.


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