10

Evie zog die Tür zu und warf einen letzten Blick auf das Haus, in dem sie eigentlich bis zu ihrer Hochzeit hatte wohnen wollen. Lucas drückte ihre Hand.

»Bist du so weit?« Sie nickte. »Okay, dann gehen wir jetzt und holen Raffy.«

Er ließ ihre Hand nicht los, oder vielleicht war sie es, die ihn festhielt – sie war sich nicht sicher. Sie wusste nur, dass sie das nicht allein tun konnte, dass sie Lucas’ Haut spüren musste, seine Wärme, als Bestätigung, dass sie nicht allein war. Sie hatte immer gedacht, in der Stadt sei man niemals allein; die ganze Gesellschaft hier gründete auf Gemeinschaft, Bürgersinn und Zusammengehörigkeit. Doch jetzt wusste sie, dass sie nie wirklich dazugehört hatte und dass ihr Leben eine Lüge gewesen war. Sie war auf sich allein gestellt, so war es immer gewesen.

Es dauerte nur ein paar Minuten bis zu dem Haus, in dem Lucas mit seiner Mutter und seinem Bruder wohnte. Sie gingen schon auf die Tür zu, als Evie ihn zurückhielt und zu ihm hochsah. Es gab so vieles, was sie wissen wollte, so vieles, was sie nicht begreifen konnte über ein vages Gefühl von Vertrauen und Achtung hinaus.

»Die ganze Zeit?«, fragte sie. »Du hast dich wirklich verstellt? Die ganze Zeit?«

Lucas fing ihren Blick auf, dann sah er weg. »Überleben«, sagte er leise. »Wir müssen alle unseren eigenen Weg finden, um zu überleben.«

»Und …« Sie zog die Stirn in Falten und versuchte, in Gedanken das Puzzle zusammenzusetzen, aber es waren zu viele Teile, zu viele Fragen. »Das Kommunikationsprogramm … Heißt das … Kennst du dich damit aus? Hast du …?«

Lucas nickte. »Mein Vater hat es dort installiert«, flüsterte er.

Sie starrte ihn ungläubig an. »Dein Vater?«

Lucas nickte wieder. »Evie, da draußen vor den Mauern ist eine ganze Welt. Keine hübsche Welt, keine Welt voller Schätze und Güter, aber nichtsdestotrotz eine Welt. Da sind auch Menschen, die euch helfen können. Mein Vater hat Kontakt aufgenommen mit …«

»Einer anderen Stadt?«

Lucas nickte. »Ihr müsst sie finden. Dort seid ihr sicher.«

Evie öffnete den Mund, um etwas zu sagen, aber Lucas schüttelte den Kopf. »Keine Fragen mehr. Wir haben keine Zeit«, flüsterte er. »Sobald wir einmal im Haus sind, gibt es eine Menge zu tun. Raffy wird mir nicht zuhören; er wird zu lange brauchen, bis er alles versteht. Aber du musst mir jetzt zuhören. Du musst die Führung übernehmen. Geht durch das Osttor und dann Richtung Norden. Schaffst du das?«

Evie nickte.

»Geht so lange, bis es hell wird, und dann sucht euch ein Versteck. Im Norden gibt es Höhlen, bis zu denen ihr es schaffen solltet. Falls nicht, sucht euch überall Deckung, wo ihr könnt. Diese Welt ist in der Schreckenszeit fast ganz zerstört worden. Ihr müsst also Wasser und etwas zu essen mitnehmen. Und ihr müsst sehr vorsichtig sein, Evie. Gib auf Raffy acht. Er kann sehr unbedacht sein und er wird zu leicht wütend.«

Ihre Blicke trafen sich, und etwas flackerte kurz auf zwischen ihnen, aber Lucas sah wieder weg, bevor Evie es deuten konnte.

»Geht über Nebenwege nach Osten bis zum Stadtrand.«

»Durch die Sümpfe?« Sie bemühte sich, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken. Jeder wusste Bescheid über die Sümpfe, die sich um die Stadt zogen und die Grenze zwischen dem Guten und dem Bösen bildeten. Evie hatte sie nur ein einziges Mal gesehen, vor vielen Jahren. Ihr Vater hatte sie mitgenommen. Er hatte ihr erzählt, die Sümpfe seien Teil eines ausgeklügelten Bewässerungssystems, das das Wasser in die Flüsse der Stadt leitete. Zugleich verstärkten sie den Verteidigungsring der Stadt. Monster gäbe es keine in den Sümpfen, hatte der Vater gesagt – entgegen den Geschichten, die den Kindern in der Schule erzählt wurden – und man brauche sie nicht zu fürchten, denn sie beschützten und ernährten die Bürger in der Stadt. Evie hatte aufmerksam zugehört und genickt, aber als sie wieder gingen, war sie doch sehr erleichtert gewesen, als sie durch die kleinen Felder und Gemüsegärten am Übergang zum Sumpfland wieder zu den Straßen und Häusern zurückgekehrt waren, dem sicheren, bewohnten Teil der Stadt, den sie kannte. Den Teil der Stadt, den sie, wie sie damals dachte, nie wieder verlassen wollte.

»Es gibt einen Weg durch den Sumpf«, sagte Lucas und nickte. »Geht genau nach Osten und haltet Ausschau nach einem Häuschen. Es sieht verfallen aus, aber das ist es nicht. In dem Häuschen ist ein Wächter mit Hunden.«

»Mit Hunden?« Evie schluckte.

»Es wird gut gehen. Ihr werdet Regensachen anziehen. Das überdeckt euren Geruch ein bisschen. Gleich hinter dem Haus findet ihr den Weg. Der führt euch zum Osttor. Geht durch das Tor, rennt los, nach Norden, und schaut nicht zurück.«

»Und du?«, fragte Evie. »Was ist mit dir?«

Er zuckte die Achseln und brachte ein leichtes Lächeln zustande. »Kein Problem. Mach dir um mich keine Sorgen. Also, sind wir so weit?«

Evie schaute ihn noch ein letztes Mal an – diese Augen, die immer so kalt gewesen waren und die jetzt strahlten wie die Sonne – und nickte. »Ich bin so weit.« Leise öffnete Lucas die Haustür.

Im Haus war es stockdunkel. Evie ließ sich von Lucas die Treppe hinauf bis zu Raffys Zimmer führen. Lucas schaltete eine kleine Lampe an. Raffy war an sein Bett gefesselt. Er hatte die Augen geschlossen und atmete schwer. Ab und zu zerrte er im Schlaf an den Stricken und abermals stieg Furcht auf in Evie. Damit hatte sie nicht gerechnet. Sie warf einen schnellen Seitenblick auf Lucas und fürchtete schon fast, er würde sie mit kaltem, höhnischem Blick verlachen, weil sie ihm geglaubt hatte, weil sie auf seinen Trick hereingefallen war. Aber in seinen Augen war nichts als Schmerz und Zärtlichkeit, als er sich über seinen Bruder beugte und ihn losband. »Es tut mir leid, Raffy«, flüsterte er. »Aber es ging nicht anders.«

Plötzlich öffnete Raffy ein Auge, dann das andere. Mit glasigem Blick begutachtete er die Lage. Als er bemerkte, dass seine Hände frei waren, und er seinen Bruder sah, der über ihm aufragte, warf er sich gegen ihn. Er stieß ihn zu Boden, sprang auf und stürzte auf Evie zu. »Schnell«, rief er hastig. »Wir müssen hier raus. Wir müssen weg von ihm.«

Evie schüttelte den Kopf. »Raffy! Wir verlassen die Stadt und Lucas hilft uns dabei.«

Raffy blickte sie überrascht und schockiert an. »Lucas? Die Maschine? Du darfst ihm nicht trauen, Evie. Er hat mich festgebunden und mich hier gefangen gehalten.« Er packte Evie und wollte losrennen, doch er fiel hin und riss Evie mit zu Boden. Lucas warf sich auf ihn.

»Still!«, zischte er. »Wenn Mutter aufwacht …« Er sah besorgt zur Tür und gab Evie ein Zeichen, sie solle sich verstecken. »Nur für den Fall«, flüsterte er. Evie huschte hinter die dicken Vorhänge am Fenster, aber außer dem Gepolter, das Raffy machte bei dem Versuch, sich aus Lucas’ Griff zu winden, war nichts zu hören. Nach wenigen Augenblicken kam Evie wieder hervor.

»Raffy«, flehte Lucas, aber es hatte keinen Zweck. Sein Bruder tobte weiter und weigerte sich, zuzuhören. Evie hockte sich bei Raffy nieder.

»Raffy«, sagte sie und nahm seine Hand. »Vertraust du mir?«

Raffys Blick wanderte von ihr zu Lucas und wieder zurück. Dann nickte er.

»Morgen werden sie dich zu einem K machen«, flüsterte sie. Raffys Augen weiteten sich vor Angst, und er wand sich noch heftiger, aber Evie drückte seine Hand fester und er hielt inne. »Wir verlassen die Stadt. Du und ich, zusammen. Lucas hilft uns dabei. Ich habe den Schlüssel von meinem Vater. Lucas ist nicht so, wie du denkst, Raffy. Er ist keine Maschine. Er hat dich beschützt.«

Raffy sah sie voller Abscheu an. »Mich beschützt? Er ist schuld, dass sie mich zu einem K machen. Er hat mich festgebunden. Er hat gesagt, ich bin eine Gefahr für mich selbst.«

»Das warst du auch«, meinte Lucas leise, aber bestimmt. »Du hast über Dinge geredet, die dir nur schaden konnten. Ich musste so tun, als wenn du verrückt wärst und wirres Zeug reden würdest. Sonst …«

»Sonst was?«, fragte Raffy wütend. »Sonst hättest du einen schlechten Eindruck gemacht? Nach deiner grandiosen Karriere?«

»Raffy, nicht …«, sagte Evie, die seine Wut verstehen, doch die Lucas’ gequälten Ausdruck nicht ertragen konnte, auch wenn der noch so sehr versuchte, ihn zu verbergen. »Du musst mir einfach glauben.«

»Ihr müsst jetzt gehen«, sagte Lucas. »Bindet mich fest, damit es so aussieht, als hättet ihr mich überwältigt.« Er ließ Raffy los und zog zwei wasserdichte Overalls und Gummistiefel unter dem Bett hervor. »Das braucht ihr für die Sümpfe«, sagte er sachlich und stopfte alles in einen Rucksack, der am Fußende des Bettes bereitstand. »Da sind auch Verpflegung und Wasser drin – genug für ein paar Tage.«

Evie starrte auf die Sachen, dann auf Lucas. »Du hast gewusst, dass ich gehen würde?«, fragte sie leise. »Du hattest das alles geplant?«

Lucas sah sie eindringlich an. »Ich dachte, ich würde selbst gehen«, meinte er.

»Und dann?«, fragte Evie und versuchte, das Zittern in ihrer Stimme zu verbergen.

Lucas wandte den Blick ab. »Aber so ist es besser. Wenn ich hier bin, kann ich euch besser beschützen, bis ihr in Sicherheit seid.«

»Sicher aus der Stadt draußen, meinst du?«, fragte Evie.

»Sicher aus dem Weg für Lucas und dann ziemlich schnell verhungert. Stimmt’s, Lucas?«, sagte Raffy sarkastisch.

»Und dann müsst ihr selbst etwas zu essen und Wasser finden«, fuhr Lucas unbeirrt fort, ohne auf ihre Fragen einzugehen. »Wenn ihr euch noch mehr aufpackt als das hier, wird es zu beschwerlich. Wasser könnt ihr an den Zuflüssen zum Stadtfluss finden. Er ist westlich der Stadt aufgestaut, fließt aber von Osten zur Stadt.«

Er war fertig mit Packen und gab Raffy den Rucksack. »Kannst du das tragen?«

Raffy riss ihm den Rucksack aus der Hand. »Wir sollen also wirklich weglaufen? Und du lässt das einfach zu?« Er verdrehte die Augen. »Keine Chance. Ich weiß, was passiert. Du wirst uns die Polizeigarde auf den Hals hetzen, genau wie du es bei Vater gemacht hast.«

»Raffy!« Evie warf ihm einen warnenden Blick zu. »Sag so was nicht. Das stimmt nicht. Lucas hilft uns.«

»Es stimmt sehr wohl«, erwiderte Raffy wütend. »Ich habe es doch selbst gehört. Ich habe gehört, wie er mit ihnen gesprochen hat. Er hilft uns nicht. Er weiß gar nicht, was helfen überhaupt ist.«

Evie schaute unsicher zu Lucas. Der wich ihrem Blick aus.

»Sag, dass du nicht die Polizeigarde auf deinen Vater gehetzt hast.« Ihre Stimme stockte. »Das hast du nicht getan. Das kannst du nicht getan haben.«

»Ich habe getan, was ich tun musste«, antwortete er.

»Nein!« Evie atmete keuchend. »Das ist unmöglich!« Sie blinzelte eine Träne weg und starrte Lucas an, damit er sagte, dass das nicht stimmte. Sie hatte geglaubt, dass er doch ein guter Mensch war, dass er ihr Freund war, dass er die Stadt hasste wegen seinem Vater. Er hatte sie glauben gemacht, dass er litt und dass er verstand. Aber Lucas sagte nichts.

»Nicht unmöglich«, sagte Raffy, und seine Augen verengten sich. »Alles ist möglich, richtig, Lucas?«

Lucas schwieg. Mit schuldbewusster Miene zog er Raffys Stricke zu sich hin und band sie zuerst um seine Fußgelenke, dann um seine Handgelenke. Evie sah im Mondlicht die goldene Uhr aufblitzen und erschauerte.

»Du …« Bestürzt starrte sie Lucas an und schüttelte ungläubig den Kopf, als Raffy die Enden der Seile fest verknotete. Lucas zuckte zusammen, doch er sagte nichts. »Hast du deinen Vater wirklich an die Polizeigarde verraten?«

»Natürlich hat er das. Das ist doch typisch Lucas. Dich hat er vielleicht hereingelegt, aber mich nicht.« Raffy hob den Rucksack auf und warf seinem Bruder einen verächtlichen Blick zu. »Komm, Evie. Mal sehen, wie weit wir kommen, bis er sie hinter uns herhetzt. Ich bin gespannt, wie lange er diesmal braucht, um seine Familie zu verraten.«

Evie nickte zögernd; sie verstand es nicht und wollte es auch nicht verstehen. Lucas sah weg. Sie sagte seinen Namen, aber er blickte gerade so lange zu ihr hin, um ihnen zu bedeuten, dass sie gehen sollten.

»Leb wohl«, formte sie stumm mit den Lippen und folgte Raffy aus dem Zimmer. Lucas hatte er nicht gesehen; er starrte an die Wand vor ihm, und Evie war sich nicht sicher, aber sie glaubte, dass die Wärme wieder aus seinen Augen wich und dass sie ganz langsam wieder zu kaltem Stahl wurden.

Sie gingen durch die Hintertür und schlichen durch den Garten weiter zu dem Weg, der dahinter lag. Sie redeten nicht. An jeder Ecke blieben sie stehen und spähten auf den Weg oder auf die Straße vor ihnen, bevor sie mit gesenktem Kopf weitergingen. Der Rucksack sah riesig aus, und Evie fragte mehrmals, ob er nicht zu schwer sei und ob sie ihm helfen sollte. Doch Raffy knurrte nur als Antwort. Allmählich ließen sie die Stadt hinter sich, und statt durch dicht besiedelte Straßen liefen sie nun an Maisfeldern und Weizenfeldern vorbei, an den Weiden für die wenigen Rinderherden, die im Freien grasen durften. Mit jedem Schritt spürte Evie, wie ihr kälter wurde – so als würde sie sich von einem behaglichen Feuer entfernen. Aber das Feuer war nicht dazu da, um sie zu wärmen, sagte sie sich immer wieder; das Feuer würde Raffy verzehren, wenn sie blieben. Und sie auch. Also hielt sie den Kopf gesenkt und hastete hinter Raffy her. Sie verdrängte die Ängste und die Sorgen und sagte sich immer wieder, sie habe keine Wahl und das vom Bösen bewohnte Land war für sie immer noch sicherer als die Welt innerhalb der Mauern der Stadt.

Dann blieb Raffy stehen und sie blickten sich erstaunt um. Sie waren im Sumpfland, wo der Boden so vollgesogen war mit Wasser, dass es sich anfühlte, als würden ihre Schuhe einsinken, das Land, das ihr Vater ihr gezeigt und vor dem er sie gewarnt hatte, jemals einen Fuß hineinzusetzen, weil es sie sonst verschlingen würde, genau wie der Sumpf alle Bösen verschlang, die versuchten, in die Stadt einzudringen.

Evie atmete tief durch und zog Raffy den Rucksack von den Schultern; schweigend zogen sie die Overalls und die Stiefel an.

»Wohin jetzt?«, fragte Raffy mit sarkastischem Ton. Er hatte ihr noch immer nicht verziehen, dass sie sich in Lucas’ Plan hatte einbinden lassen. Hatte sie es sich selbst verziehen? Immerhin hatte sie Lucas geküsst. Er hatte ihr in die Augen gesehen, und sie hatte etwas gefühlt, etwas, das sie nicht hätte fühlen sollen.

»Da muss ein Häuschen sein. Eine Hütte«, flüsterte sie. Sie suchte den Horizont ab, und sie spürte, wie ihr Magen sich zusammenzog, als sie sie entdeckte. Sie war erleichtert, aber auch erschrocken, weil es sie wirklich gab und sie schon so nah waren. »Da drüben.« Sie deutete auf das baufällige Häuschen; es war genau so, wie Lucas es beschrieben hatte. »Da ist ein Wächter drin mit Wachhunden. Dahinter ist ein Pfad, der zum Osttor führt.«

»Ein Pfad? Durch das Sumpfland?« Raffy zog die Brauen hoch.

Evie zuckte mit den Schultern als Antwort. »Das hat Lucas gesagt.«

»Ach so, ja wenn Lucas das gesagt hat, dann muss es ja stimmen«, erwiderte Raffy scharf. »Wie lange habt ihr beide das alles eigentlich schon geplant? Und seit wann seid ihr beide so gute Freunde? Ach, das habe ich ganz vergessen. Ihr seid ja verlobt. Wirklich schade, dass du jetzt mit mir weggehst. Oder ist das noch ein Teil des Plans, von dem du mir nichts erzählt hast? Der Teil, wo du mich draußen vor dem Tor sitzen lässt und wieder zurückgehst, damit du glücklich und zufrieden mit Lucas leben kannst, so wie du es immer gewollt hast?«

Evie starrte ihn an und ihre Unterlippe zitterte. »Das ist nicht wahr«, flüsterte sie verzweifelt. »Tu das nicht, Raffy. Nicht jetzt. Wir müssen es hinausschaffen, bevor sie merken, dass du verschwunden bist.«

Raffy blickte sie finster an und zuckte die Schultern. »Na schön. Dann gehen wir also zu dem Haus?« Er marschierte los.

Evie folgte ihm. »Wir müssen aufpassen wegen den Hunden!«, rief sie, aber Raffy hörte nicht hin; er ging mit großen Schritten voraus, und sie musste laufen, um mit ihm mitzuhalten.

Bald erreichten sie das Haus. Raffy ging außen herum und blieb dann wieder bei Evie stehen. »Ein Pfad? Da ist kein Pfad. Da ist bloß Morast. Wir sitzen in der Falle. Traust du Lucas jetzt immer noch?«

Evie schluckte unbehaglich. Raffy hatte recht – da war nichts zu sehen von einem Weg, nur Marschland. Schon sanken ihre Stiefel langsam ein; wenn sie weitergingen, würden sie vom Boden verschluckt. War es eigentlich das, was Lucas gewollt hatte? Nein. Nein, sie war sich ganz sicher. Lucas war ein guter Mensch. Es musste einfach so sein …

Da ertönte ein Bellen und sie erstarrten. »Jetzt kriegen uns also die Hunde«, sagte Raffy bitter. »Ich habe es dir doch gesagt. Ich habe es dir gesagt.«

Doch Evie hörte nicht hin. Außer sich vor Angst, rannte sie hin und her und suchte nach dem Pfad. Er musste hier sein. Sie wusste es. Sie versuchte, sich zu erinnern, was Lucas gesagt hatte. Gleich hinter dem Haus. Gleich … Sie blickte zu der Hütte und erkannte mit einem Mal ihren Fehler. Sie standen an der Seite der Hütte. Sie waren von dort aus, wo sie die Hütte gesehen hatten, zur Rückseite gerannt, aber das Dach neigte sich zur Seite; sie suchten an der falschen Stelle.

»Hier entlang«, zischte sie und zog Raffy am Arm. Sie wollte laufen, aber der Boden war zu schwer; für ein paar Schritte brauchte man eine halbe Ewigkeit. Das Bellen wurde lauter; in der Hütte ging das Licht an.

Sie kamen zur Rückseite der Hütte und Evie starrte und starrte, sie wollte den Pfad unbedingt finden, aber da schienen überall Pfade zu sein, die nur Schatten auf dem Boden waren. Und dann plötzlich sah sie ihn im Mondlicht. Ein leicht erhöhter Bereich aus Stein oder etwas Ähnlichem zog sich von der Rückseite der Hütte ins Moor. Er verhinderte, dass die Hütte im Sumpf versank, er würde sie aus dem Sumpf hinausführen.

»Hier«, flüsterte sie und wies Raffy die Richtung und ging darauf zu, so schnell sie konnte. Als sie dort war, stellte sie sich darauf und lächelte Raffy hoffnungsvoll zu. Dann marschierte sie los. Der Weg war etwa zwei Schritt breit, so breit, dass man rennen konnte. Sie ging schneller, wandte sich um und trieb Raffy zur Eile an, da schwang die Hintertür der Hütte auf und ein Hund stürzte heraus. Mit gewaltigen Reißzähnen und tödlichem Knurren jagte er auf sie zu. Evie blieb wie angewurzelt stehen. Das flachere Sumpfgelände lag schon hinter ihnen. Wenn sie vom Weg abkamen oder neben den Pfad traten, würden sie ertrinken. Aber der Hund war schon auf dem Pfad, rannte auf sie zu. Es gab kein Entrinnen. Sie straffte sich, biss die Zähne zusammen und ballte die Hände zu Fäusten, doch auf einmal schien vor ihr alles viel langsamer abzulaufen. Sie sah, wie Raffy sich auf den Hund stürzte und ihn vom Pfad hinunter ins Moor abdrängte. Das Tier riss das Maul auf und wollte Raffy anspringen, doch der Boden unter seinen Hinterläufen gab nach und es sank ein – genau wie Raffy. Ihre Blicke trafen sich, und er begann, mit den Armen zu rudern. »Ich komme schon klar«, rief er. »Geh schon. Lauf, was du kannst!«

Doch Evie ging nicht. Sie rannte ein Stück zurück, riss sich den Overall herunter, hielt einen Ärmel fest und warf den Rest so aus, dass Raffy das andere Ende fassen konnte. Doch es war noch ein ganzes Stück von ihm entfernt. Entschlossen arbeitete er sich darauf zu, aber mit jedem Schritt sank er tiefer ein.

»Raffy«, schrie Evie. »Raffy!«

Er schnappte nach dem Hosenbein, noch einmal, beim dritten Mal konnte er es mit der Hand packen. Evie legte sich flach auf den Weg, krallte sich mit beiden Händen in das Ölzeug und zog mit aller Kraft. Zwei Mal verschwand Raffys Kopf im Moorwasser, zwei Mal schrie sie seinen Namen, und zwei Mal sah sie ihn wieder auftauchen, die Augen angstvoll geweitet, die Zähne zusammengebissen. Dann endlich bekam er festen Grund unter die Füße und zog sich auf den Pfad hinauf, von Kopf bis Fuß bedeckt von dem ekelhaft stinkenden Morast.

Wieder öffnete sich die Tür der Hütte. Diesmal erschien ein grauhaariger Mann, der etwas in der Hand hielt. Ein Gewehr. Evie kannte das aus der Schule, wo man ihnen in Büchern und auf Bildern gezeigt hatte, welches Ausmaß das Böse vor der Errichtung der Stadt gehabt hatte. Man hatte ihnen gesagt, in der Stadt gebe es keine Gewehre. Und trotzdem …

»Los jetzt«, sagte Raffy, der das Gewehr auch gesehen hatte, und zog Evie mit. »Schnell!«

Sie rannten los. Ein Geräusch, lauter als alles, was Evie je gehört hatte, lauter als Blitz und Donner, ertönte, und sie fielen hin.

»Alles okay?«, flüsterte Raffy.

»Ja«, antwortete sie.

»Bleib liegen. Wir kriechen weiter, bis wir außer Sicht sind.«

Evie nickte und folgte Raffy. Sie krochen auf dem Bauch weiter, während hinter ihnen Schüsse peitschten; endlich schien der Mann aufzugeben und sie standen auf und rannten um ihr Leben.

»Das Tor!«, keuchte Raffy nach ein paar Minuten, die ihnen eher vorgekommen waren wie eine Stunde. »Da ist es. Lucas hatte recht.«

Evie sah es vor sich auftauchen wie einen Engel, so als würden all ihre Wünsche auf einmal in Erfüllung gehen. Ein riesiges Tor aus Metall, oben und unten mit Stacheln bewehrt, die waagerecht herausragten. Linkerhand war ein Schloss. Behutsam holte sie den Schlüssel hervor und gab ihn Raffy.

»Mach du es«, sagte sie, denn sie traute sich nicht.

Raffy nahm den Schlüssel, steckte ihn ins Schloss und drehte ihn herum. Evie wusste nicht, was sie erwartet hatte – noch mehr Schüsse vielleicht oder dass eine Armee aufmarschierte. Irgendetwas. Stattdessen ging das Tor leise auf; auf der anderen Seite lag eine graue, öde Ebene.

»Bist du wirklich sicher, dass du die Stadt verlassen willst?«, fragte Raffy. Sie sah ihn an – seine verklebten Haare, das verschmierte Gesicht, seinen schlotternden Körper und seine seelenvollen Augen. Und mit einem Mal hatte sie keine Angst mehr, denn wovor sollte sie sich jetzt noch fürchten? Sie ließen einen Ort hinter sich, der für Raffy den Tod bedeutet hätte, einen Ort, der sie in allem belogen hatte.

»Ich bin ganz sicher«, flüsterte sie.

Raffy lächelte und um seine Augen bildeten sich Fältchen. Er nahm sie bei der Hand und sie schritten zusammen durch das Tor. Dann schlossen sie es hinter sich wieder.

»Und jetzt?«, fragte Raffy, lehnte sich an das Tor und betrachtete prüfend die Landschaft vor ihnen.

»Jetzt laufen wir«, sagte Evie. »Jetzt laufen wir und bleiben nicht stehen.«


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