1

Augen und Nase verklebt von Dreck und Staub. Sie ringt nach Atem. Eine Hand schließt sich um die ihre, zieht sie weiter, beruhigt sie. Aus Versehen bleibt sie an einem Stein hängen und fällt hin; sie knallt mit dem Gesicht auf den Boden. Sie hebt den Kopf und fährt sich über die Stirn – an ihrem Handrücken ist Blut. Ihre Lippen beben, aber noch bevor die Tränen kommen, wird sie hochgehoben. Ihre Arme legen sich um einen vertrauten Nacken und es geht weiter.

Sein rhythmisch schwingender Gang beruhigt sie. Sie fühlt sich geborgen. Sein Körper ist warm. Sie schmiegt sich an ihn. Sie kann ihn riechen – Schweiß, Hunger, Entschlossenheit, Liebe. »Wir sind bald da«, murmelt er ihr ins Ohr. »Wir sind bald da, mein Liebling.«

Sie schließt die Augen, und als sie sie wieder öffnet, ist sie woanders, an einem sonnigen Ort mit grünem Gras, und im hellen Licht muss sie die Augen zusammenkneifen. Ein Gesicht beugt sich über sie. Sie lächelt und streckt die Hand aus. »Wir haben es geschafft, mein Liebling«, murmelt er. »Wir sind da …«

Evie öffnete die Augen und setzte sich kerzengerade auf. Sie hatte wieder einen Albtraum gehabt – er war so lebendig gewesen, dass sie sich kurz umblicken und sich vergewissern musste, dass sie allein war und im Bett lag. Natürlich lag sie im Bett.

Schnell kniete sie sich davor hin und flüsterte: »Ich reinige meinen Geist von schlimmen Gedanken. Ich reinige mein Gehirn vom Bösen. Ich schaue auf das Gute, ich stärke meine Seele, ich kämpfe gegen die Dämonen, die mich Tag und Nacht umkreisen. Ich bin stark. Ich bin gut. Ich bin in Sicherheit. Ich bin beschützt und Beschützerin zugleich.«

Fünf Mal sprach sie dieses Mantra. Sie verdrängte die Tatsache, dass ihre Laken schweißnass waren, und ging in das kleine Badezimmer nebenan, das einzige im ganzen Haus – wozu sollte mehr als eines auch gut sein? –, duschte kalt und wusch sich, wusch den Geruch des Mannes ab, der sie gehalten hatte. Dessen Gesicht sie nie sah, obwohl sie wusste, wer es war. Jede Nacht ging sie zu Bett und sagte sich, dass sie ihn nicht mehr sehen würde; und jede Nacht scheiterte sie mit ihrem Vorsatz, erwachte am Morgen voller Angst und sehnte sich danach, sich von alldem reinzuwaschen, um wieder so zu sein wie alle anderen, wieder gut zu sein – nicht geplagt von Albträumen, die sie ausgrenzten als fremd und gefährlich.

Dabei fühlten sie sich überhaupt nicht an wie Albträume. Nicht dunkel oder schaurig waren sie, sondern warm und voller Freude.

Aber das machte es nur noch schlimmer.

Sie war verderbt. Davon war sie überzeugt. Der Mann stand für das Böse in ihr. Er führte sie in Versuchung, das Gute zurückzuweisen; ihre Mutter hatte ihr das gesagt. Er war böse, und dass sie sich nach ihm sehnte, war ein Zeichen dafür, dass sie schwach war. Sie war eine Versagerin, verderbt und gefährlich. Doch sie konnte dagegen ankämpfen, wenn sie es wirklich wollte. Das hatte ihre Mutter gesagt – aber immer mit dem vorwurfsvollen Unterton, dass sie sich nicht genügend bemühte, dass sie selbst schuld war an diesen Träumen und dass sie diesen Weg höchstwahrscheinlich selbst gewählt hatte.

Deshalb war Evie erleichtert, dass ihre Mutter schon eifrig in der Küche werkelte, als sie am Morgen in die Küche kam. Auf dem Herd blubberte der Haferbrei und ihre Mutter schrubbte die Arbeitsflächen. Geschäftigkeit, Sauberkeit im Denken und im Handeln; Keuschheit, Barmherzigkeit und Ordnung – das war der Pfad der Tugend, so musste man sein Leben führen. Ihre Mutter war der Inbegriff von Tugend und wurde vom Bruder oft genug dafür gepriesen. Eine gute Frau, sagte er dann mit einem Seitenblick auf Evie und schüttelte kaum merklich den Kopf.

Mit einem Nicken zu Evies Platz stellte die Mutter eine dampfende Schale auf den Tisch und machte sich sofort wieder an die Arbeit. »Es ist gleich sieben«, sagte sie unvermittelt. »Du musst dich beeilen.« Sie ging wieder zum Herd, dann drehte sich noch einmal um. »Du … hast im Schlaf wieder laut geschrien.« Ihre Stimme war plötzlich ganz kalt.

Evies Herz hämmerte heftig. Ihre Mutter hatte sie gehört. Sie wusste es.

Ihre Blicke trafen sich, und mit einem Mal hatte Evie das seltsame, aber ganz starke Bedürfnis, ihre Ängste zu teilen und ihrer Mutter alles zu erzählen, sich von ihr trösten und beruhigen zu lassen. Wenn sie die Arme um Evie legte, dann wäre es vielleicht wie in diesem Kokon, der sie im Traum so wunderbar berauschend und vollkommen umhüllt hatte. Aber das würde nie geschehen. Ihre Mutter würde sie nie verstehen, sie nie beruhigen. Sie würde ihr Urteil fällen und ihrer Tochter die Schuld geben. Und das völlig zu Recht.

»Ich …«, stotterte Evie. »Ich …«

»Du musst das abstellen, Evie«, sagte ihre Mutter barsch. »Du musst gegen deine schlechten Neigungen ankämpfen. Vergiss nicht, dass du trotz allem einen guten Job und die Aussicht auf eine vorteilhafte Heirat hast. Wie willst du heiraten, wenn du im Schlaf schreist? Werden die Leute noch Achtung vor dir haben, wenn das herauskommt? Was werden sie von uns denken? Was werden sie sagen?«

»Dabei lese ich doch ständig die Betrachtungen«, erwiderte Evie gequält. Sie biss sich auf die Unterlippe und fuhr mit der Hand unwillkürlich den Umriss der kleinen Narbe an ihrer rechten Schläfe nach, als müsste sie sich vergewissern.

Ihre Mutter nickte und verzog das Gesicht. Mit einem langen Seufzer meinte sie: »Die Betrachtungen zu lesen, reicht nicht. Du hast diese Träume, weil du sie zulässt.« Ihre Augen wurden schmal. »Weil du sie hereinlässt. Daran sieht man, wie schwach du bist. Einbildungskraft birgt die Veranlagung zum Lügen, Evie, eine Neigung, die Welt nicht so sehen zu wollen, wie sie ist. Du solltest dich wirklich vorsehen. Aber jetzt iss erst einmal deinen Haferbrei. Kein Grund, wertvolle Nahrung zu verschwenden.«

Evie nahm einen Löffel voll, aber der Brei kam ihr vor wie Pappe, ein Fremdkörper in ihrem Mund. Ihre Mutter hatte recht, obwohl sie eigentlich so gut wie nichts wusste. Ja, sie war schwach. Sie war abartig. Sie kaute auf dem Haferbrei herum und versuchte, ihn hinunterzuschlucken, aber es ging nicht. Es war, als würde ihr Magen ihn zurückweisen, als wüsste er, dass sie es nicht verdiente.

Auch ihrem Magen gelang es nicht, die Regeln der Stadt ordentlich zu befolgen, dachte sie bedrückt. Regeln für ein gutes Leben. Regeln, denen sich alle vorbehaltlos unterwarfen. Verschwende keine Nahrung. Lass keine Gefühle in deinem Herzen zu, denn sie sind das Tor zum Bösen. Streng dich an, halte dich an die Regeln, gehorche deinen Eltern, stell keine Fragen, hör auf den Bruder und beherzige seine Lehren, akzeptiere deinen Rang, aber strebe danach, ihn zu verbessern, hüte dich vor dem Bösen, denn es ist schädlich und hinterhältig, es ruht nie, und wenn es erst von dir Besitz ergreift, lässt es dich nie wieder los … Für die anderen war das alles so einfach, so klar, aber Evie empfand die Regeln wie eine Zwangsjacke, die ihren Geist und ihren Körper in eine unnatürliche Haltung zwang. Und sie konnte sich das nur damit erklären, dass das Böse bereits von ihr Besitz ergriffen hatte, und dass das Böse in ihr die Regeln ablehnte, obwohl sie doch zu ihrem eigenen Schutz und zum Schutz aller aufgestellt worden waren.

Verzagt legte sie den Löffel hin und schob die Schale von sich. Ihre Mutter warf ihr einen langen, eindringlichen Blick zu und meinte schließlich mit einem Achselzucken: »Du gehst jetzt besser los, damit du nicht zu spät zur Arbeit kommst.«

Evie schlich aus der Küche, putzte sich die Zähne und zog einen dünnen Mantel über. Wie immer ging sie zu Fuß zur Arbeit. Sie würde noch härter arbeiten, nahm sie sich vor und schritt energisch aus. Zerstörerische Gedanken würde sie nicht mehr zulassen. Sie würde ein besserer Mensch werden. Sie würde die Regeln der Stadt befolgen, auch wenn sie sich davon gegängelt fühlte. Sie würde sich danach richten, gerade weil sie einengend waren, weil sie das Böse in sich bekämpfen, ein für alle Mal ausmerzen musste. Weil die Stadt das Einzige war, was sie vor der Selbstzerstörung bewahrte, vor dem Bösen, das diese zerbrechliche Gemeinschaft und alle ihre Bewohner zu vernichten trachtete.

Evie und alle anderen lebten in dieser Stadt – jedenfalls die Guten. Die hohen Mauern schützten sie vor den Bösen, die draußen auf Raubzug gingen, die sie alle umbringen und die Welt in Angst und Schrecken versetzen wollten, wie sie es auch vorher schon getan hatten.

Es waren die Bösen gewesen oder deren Vorfahren, die vor Jahren die Welt fast zerstört hatten. Die die Schreckenszeit entfesselt hatten. Bevor die Stadt entstand, war die Welt voll von Bösen gewesen, von Menschen ohne jede Liebe und Güte. Nicht alle Menschen waren dazu bestimmt, böse zu sein; nur einige waren gefühllos durch ihre verdrehten Gehirne, eigennützig oder gewalttätig. Andere wiederum ließen sich leicht beeinflussen, und die Geisteskranken waren sehr überzeugend, krempelten deren Verstand um und brachten sie dazu, schreckliche Dinge zu tun, während sie dachten, sie wären gut.

Die Schreckenszeit hatte als kleiner Kampf begonnen, sich dann aber zu einem gewaltigen Krieg ausgeweitet, der jahrelang getobt hatte. Millionen Menschen waren auf schreckliche Weise umgekommen, nur weil man sich nicht hatte einigen können. Ein Gutes jedoch war aus dem Schrecken entstanden: die Stadt. Wie Phönix aus der Asche, bemerkte der Große Anführer in seinen Betrachtungen. Außerhalb der Stadtmauer herrschte aber noch immer das Böse, und die Menschen lebten in einem ständigen Kampf um alles – Nahrung und Unterschlupf. Dort gab es keine Ordnung, keine Zivilisation. Dort gab es keinen Frieden.

Aber Evie brauchte sich keine Sorgen um die Welt dort draußen zu machen, weil sie zu den Glücklichen gehörte, die innerhalb der Stadtmauer lebte.

Die Stadt war der einzige gute, sichere Ort auf der Welt und deshalb stand er ständig unter Belagerung. Deshalb durften die Bürger nie vergessen, wie privilegiert sie waren, und mussten alles tun für die Sicherheit der Stadt. Sie mussten tugendhaft leben, um den Schutz der Stadt zu verdienen.

Denn schon ein einziger fauliger Apfel konnte den ganzen Korb verderben.

Der Weg zur Arbeit führte an einer langen breiten Straße entlang. Vor der Schreckenszeit war dies der Finanzdistrikt der Stadt London gewesen. Hier war das Böse gediehen und alles hatte sich einzig und allein um das Anhäufen und Vermehren von Geld gedreht.

In der Stadt gab es kein Geld mehr; die Arbeiter bekamen Wertmarken für alles, was sie brauchten.

Das Geld und seine Diener waren verschwunden, aber die Straße war geblieben, samt einigen Gebäuden. Auch das Krankenhaus gehörte dazu, aber nun diente es dem Großen Anführer als Hauptquartier. Dorthin war er in den letzten Stunden der Schreckenszeit geflohen, und dort hatte er andere davon überzeugt, sich ihm anzuschließen, an ihn zu glauben und nach einer anderen Lebensform zu suchen. Nach einem guten, friedlichen Leben.

Der Regierungsblock Nummer 3, in dem Evie beschäftigt war, gliederte sich in fünf Abteilungen: Technik, Archiv, Rangänderung, Aufklärung und Forschung. Evie gehörte zur Abteilung 3 für Rangänderung und arbeitete in einem stickigen Großraumbüro in einem neu erbauten grauen Gebäude im Stadtzentrum, nur ein paar Minuten entfernt vom Stadtplatz mit dem prächtigen Standbild des Großen Anführers. Fast alle Regierungsgebäude waren neu erbaut, an Orten, die nach der Schreckenszeit vom Schutt der alten Bebauung geräumt worden waren. Für den Großen Anführer war es ein neuer Anfang gewesen – eine Möglichkeit, wie die Stadt sich von allen vorherigen Städten, von deren Verderbtheit und deren Sonderlingen unterscheiden konnte. Aber nicht alles war neu. Die Mittel waren knapp, und Häuser, die noch sicher standen, hatte man ins Stadtbild eingegliedert und die Spuren der vorigen Bewohner getilgt. Nun waren sie ein anerkannter Teil dieser neuen, sicheren Heimat – genau wie die Bürger, die eine zweite Chance bekommen hatten, ein neues Leben und eine bessere Zukunft.

Schon während sie sich dem Gebäude näherte, schlüpfte Evie aus dem Mantel, damit sie ihn schnell und ohne sich aufzuhalten in ihren Spind hängen und in ihre Abteilung hinaufgehen konnte. Herumtrödeln wurde nicht geduldet in der Stadt; nur ein tätiger und konzentrierter Geist war ein guter Geist, hieß es in den Betrachtungen. Herumstehen und Plaudern dagegen waren der ideale Nährboden für das Böse, für die Versuchung.

Doch als sie die Stufen zum Eingang erreichte, hielt sie inne und errötete. Da stand Lucas.

»Evie.« Er lächelte förmlich. Sein blondes Haar schimmerte fast weiß in der Morgensonne, und seine klaren blauen Augen strahlten so durchdringend und doch so gefühllos, dass Evie manchmal gute Lust hatte, ihn zu schlagen, nur um zu sehen, ob diese Augen überhaupt weinen konnten. Daran konnte man natürlich sehen, was für ein schrecklicher Mensch sie war. Nur ein schrecklicher Mensch würde solche Gedanken haben gegenüber dem Mann, den er heiraten würde. »Guten Morgen. Wie geht es dir heute?«

Er kam auf sie zu, die Hand zu einem förmlichen Gruß ausgestreckt, wobei seine goldene Uhr funkelte. Sie gab ihm die Hand, zwang sich zu einem Lächeln und rief sich in Erinnerung, wie glücklich sie sich schätzen konnte, dass Lucas sie erwählt hatte. Eine Ehe wurde von beiden Partnern und von beiden Familien angebahnt. Doch es war kein Geheimnis, dass Leute wie Lucas ziemlich freie Wahl hatten. Evie war sich noch immer nicht sicher, wie er ausgerechnet auf sie gekommen war. »Gut«, antwortete sie. »Und dir?«

»Sehr gut.« Er lächelte. Dann hob er etwas ungeschickt die Braue. »Na, dann gehen wir mal lieber an die Arbeit.«

»Allerdings.« Evie nickte und versuchte, sich ihre gemeinsame Zukunft als Ehepaar vorzustellen, das im selben Bett schlief und sich zwanglos unterhielt statt in diesem unangenehmen Wechselspiel von gestelzten Sätzen und noch peinlicherem Schweigen. Aber sie konnte es nicht vor sich sehen, konnte sich nicht vorstellen, wie es sein würde.

Er wandte sich um, und sie sah ihm nach, wie er auf seinen Bruder zuging, der am anderen Ende der Treppe auf ihn wartete. Wo Lucas war, war auch Raffy nicht weit, und der war so verschieden von seinem Bruder, dass er sein Negativ hätte sein können: dunkle zerzauste Haare, dunkle Augen mit stechendem Blick.

Es hieß, Lucas käme nach der Mutter, Raffy dagegen sei ganz der Vater – und zwar mehr als nur dem Aussehen nach. Es hieß, dass Lucas seinem Bruder deswegen nicht von der Seite wich; er wollte ihn im Auge behalten und ihn kontrollieren. Er traute ihm nicht.

Genau genommen traute wohl niemand Raffy so recht.

Wortlos beobachtete Evie, wie Lucas mit Raffy in Richtung Eingang ging. Sie waren schon fast durch die Tür, als Raffy sich noch einmal umwandte, und ihre Blicke trafen sich für nicht einmal eine Sekunde. Lucas sah ihn fragend an, aber Raffy hatte sich schon wieder weggedreht, und beide verschwanden. Lucas ging bestimmt in den ersten Stock, wo sich die Büros der Abteilungsleiter befanden. Raffy arbeitete im dritten Stock in einer der Männerabteilungen. Evie musste bis zum vierten Stock hinauf, zu den Frauenabteilungen.

Mit acht Jahren wurden Jungen und Mädchen getrennt und blieben getrennt, bis sie erwachsen waren, damit keine unreinen Gedanken aufkommen konnten. Sie wurden getrennt aufgezogen und arbeiteten getrennt, wenn sie mit vierzehn die Schule verließen. Für die Suche nach dem passenden Ehepartner veranstalteten die Eltern besondere Treffen. Evie war auf dem Weg zur Treppe und fragte sich nicht zum ersten Mal, warum die Trennung der Geschlechter bei ihr ganz offensichtlich nicht die gewünschte Wirkung gehabt hatte. Dabei waren diese Zusammenkünfte keineswegs zwanglos; mindestens ein Elternpaar war immer dabei. Eines Tages jedenfalls war Lucas zu Besuch gekommen, und Evie vermutete, dass ihr Vater – wohl unter dem Einfluss der Mutter – im Hintergrund die Strippen gezogen hatte. Eine Verbindung mit Lucas war jedenfalls mehr, als sie zu hoffen gewagt hatten. Evie fragte sich, ob sie oder ihre Eltern überraschter gewesen waren, als Lucas die Verbindung besiegelt und um ihre Hand angehalten hatte. Doch auch danach sprach er kaum mit ihr, und es kam ihr fast so vor, als würde das alles jemand anderem passieren.

Manchmal wünschte Evie sich das sogar.

Aber nur wenn sie die bösen Gedanken in ihren Kopf hineinließ. So etwas auch nur zu denken, war schon unverzeihlich.

Warum konnte sie nicht dankbar sein für das, was sie hatte, wie alle anderen auch? Die Antwort lag auf der Hand: weil ihre Mutter recht hatte. Weil sie der faulige Apfel im Korb war.

»Morgen!« Christine, die bei der Arbeit neben ihr saß, war schon da und lächelte Evie an. »Und? Wie geht’s?«

»Wirklich gut. Und dir?«

»Super!« Christine lächelte und blickte wieder auf ihren Computerbildschirm.

Christine war für Evie am ehesten das, was man eine Freundin nennen konnte. Sie redeten allerdings nicht viel miteinander – ein paar Worte am Wochenanfang, ein Lächeln am Morgen. Das lag nicht daran, dass Evie keine Freunde haben wollte. Sie fand es nur so schwierig, Freundschaften zu schließen, wo sie doch den Kopf voller Geheimnisse und Sehnsüchte hatte und niemals davon erzählen konnte, niemandem. Und jetzt wo sie arbeiteten, war dazu ohnehin praktisch keine Gelegenheit mehr. Unterhaltungen während der Arbeitszeit wurden nicht gern gesehen, und nach Dienstschluss mussten sie beide nach Hause, um ihren Müttern zu helfen, um sich mit dem zukünftigen Partner zu treffen, oder, wie Christine, mit einem Kandidaten, der ihren Eltern annehmbar erschien. Da hatte Evie es einfacher gefunden, überhaupt nichts zu erzählen, unauffällig und verschlossen zu bleiben. Das war nicht schwer. Aus Freundschaften entstanden nur allzu leicht Verpflichtungen, die dem Wohl der Stadt zuwiderliefen. Freundschaften konnten sehr schnell unangenehm werden, wenn sich etwas änderte. Der Rang beispielsweise.

Auf dem Weg zu ihrem Schreibtisch im Großraumbüro nahm Evie vorn zehn Akten vom Tisch der Aufseherin. Immer zehn auf einmal; waren diese bearbeitet, dann kamen die nächsten zehn, bis keine Akten mehr da waren – oder bis die Arbeitszeit um war. So sagten jedenfalls die Abteilungsleiter, aber meist war der Tag um, bevor die Akten ausgingen, und meist arbeiteten sie alle etwas länger, bis das Pensum geschafft war.

Das Regierungsgebäude, in dem Evie arbeitete, hieß bei allen nur das Systemgebäude; das System regelte alles innerhalb der Stadtmauern und erhielt die Ordnung aufrecht.

Evie arbeitete als Rangwechslerin; es war ihre erste Arbeitsstelle, und seit dem Schulabschluss war sie nun drei Jahre hier. Ihre Lehrerin hatte ihnen damals in der Schule alle möglichen Berufe und Ausbildungsmöglichkeiten vorgestellt: Schneider, Schreiner, Gärtner, Bauer, Bauarbeiter, Techniker, Elektriker … die Liste war endlos, und viele Beschäftigungen waren verlockend für sie gewesen. Gärtnerin beispielsweise – tagtäglich die Hände in der Erde, um aus kleinen Samen Nahrung entstehen zu lassen, die Frucht bis zur Ernte zu pflegen.

Evies Mutter war Näherin; hätte Evie sich für diese Ausbildung entschieden, dann wäre sie bei ihrer Mutter in die Lehre gegangen, hätte sich mit Nadeln gepiekst und mit ihren ungeschickten Fingern vergeblich versucht, die feinen Muster zu kopieren, die ihrer Mutter so trefflich gelangen. Eigentlich stand einem die Berufswahl frei, aber Töchter folgten den Müttern, Söhne den Vätern im Beruf. So war es üblich. Es sei denn, man war sehr gut in der Schule. Es sei denn, man war so gut, dass man eine Stelle bei der Stadt bekam.

Und so hatte Evie sich für einen Verwaltungsjob in einem Büro entschieden. So etwas wurde als großer Erfolg angesehen, denn dazu musste man alle möglichen Tests und Befragungen überstehen. Doch noch wichtiger für Evie war, dass ihre Mutter daraufhin den Plan aufgab, eine Näherin aus ihr zu machen, und nicht mehr dachte, dass Evie die Familie irgendwie im Stich gelassen hatte. Und war sie erst einmal verheiratet, dann konnten ihre Eltern sich beruhigt zurücklehnen.

Sie hatten ihre Sache gut gemacht. Evie war im Grunde zu einem untadeligen Mitglied der Gesellschaft herangewachsen. Sie hatte gute Noten gehabt; sie konnte die Betrachtungen alle auswendig aufsagen. Sie war eine B, ein guter Rang. Sie war nie in ernsthafte Schwierigkeiten gekommen. Ihr angehender Ehepartner war Lucas, ein angesehener Abteilungsleiter. Sie hatte ihre Sache gut gemacht. Ihre Eltern hatten ihre Sache gut gemacht.

Sie blickte auf die Berichte. Der erste war ein Wechsel von B nach C. Da ging das Leben zwar nicht in die Brüche, aber froh war man nicht über eine solche Nachricht. Evie sah es vor sich, wie der Brief ankam, mit dem offiziellen Stempel und dem rosafarbenen Band, das der Empfänger nun statt des blauen »B«-Bandes am Revers tragen musste. Sie konnte das Getuschel der Nachbarn hören, die den Hals reckten, um etwas zu sehen, konnte die Scham des betroffenen Mannes – einem Mr Alan Height – fühlen, der sich vor seiner Familie zu rechtfertigen suchte und das Haus am nächsten Morgen mit eingezogenen Schultern verlassen würde. Mittels des Rangs wachte das System über jeden, über die ganze Stadt. Es gab die Ränge A bis D. Die As waren die Besten – wirklich gute Menschen mit reinem Gewissen, die nie an sich selbst dachten, mutig, ehrbar und gerecht. Die Bs waren die Zweitbesten; auch sie waren gut, wenn auch nicht ganz so wie die As. Es waren vertrauenswürdige Mitbürger und sie hatten gute Arbeitsstellen in der Verwaltung. Cs waren im Großen und Ganzen in Ordnung; die meisten Leute gehörten diesem Rang an, sie waren aber nicht gefeit gegen Versuchungen, zeigten mitunter schlechte Neigungen und waren leicht zu beeinflussen. Cs mussten sich in Acht nehmen. Während der Schreckenszeit hatten sie die meisten Gräueltaten verübt, die meisten Bomben geworfen und die schlimmsten Grausamkeiten verübt. Sie waren nicht wirklich schlecht, aber sie waren den Einflüsterungen der Bösen erlegen. Natürlich hatte es damals noch keine Ränge gegeben. Man dachte, Menschen seien einfach Menschen. Und wer anderer Meinung war, der hatte das nicht ausgesprochen, aus Sorge, jemanden zu kränken. Es war aber keineswegs kränkend, Menschen vor ihrer eigenen Schwäche zu warnen. Es war nicht kränkend, sie darauf aufmerksam zu machen, sich um sie zu kümmern, sie zu überwachen und für ihre Sicherheit zu sorgen. Und dazu waren die Ränge da. Körperliche Unterschiede waren ja leicht auszumachen – wer war kräftig und wer war schwach, wer musste sich vor der Sonne schützen, wer aß zu viel und musste sich mehr bewegen. Keiner zweifelte daran, dass die Menschen äußerlich verschieden waren. Aber innerlich? Auch innerlich unterschieden sie sich. Man musste das nur erkennen können und auf die richtigen Anzeichen achten.

Evie machte sich daran, die Rangänderung vorzunehmen. Sie gab die nötigen Codes ein, prüfte und vergewisserte sich noch einmal, dass alles seine Richtigkeit hatte. Mitgefühl für den Betroffenen war bedeutungslos und unsinnig, das wusste sie. Wie in Betrachtung Nummer 26 erklärt wurde, war eine Rangänderung weder ein glücklicher noch ein trauriger Vorfall, sondern eine selbst herbeigeführte Tatsache. Aber Evie konnte einfach nicht anders; sie konnte den Gesichtsausdruck ihrer Nachbarin Mrs Chiltern nicht vergessen, als diese von C auf D herabgestuft wurde. Die Scham darüber hatte sie auch dann nicht abgelegt, als sie schon längst wieder in Rang C aufgestiegen war. Sie hatte sich nie mehr mit Evie über den Gartenzaun hinweg unterhalten oder war zum Tee vorbeigekommen. Sie war nicht willkommen – das hatten Evies Eltern ganz deutlich gezeigt – und selbst im anderen Fall wäre sie nicht gekommen. D war gleichbedeutend mit abartig. D war gefährlich. Was Mrs Chiltern sich hatte zuschulden kommen lassen, hatte Evie nie erfahren, aber das spielte auch keine Rolle. Das System wusste Bescheid und das genügte.

Das System wusste alles.

Evie war inzwischen fast fertig mit Mr Heights Rangänderung. Herabstufungen waren stets leichter zu bewerkstelligen als Aufwertungen; weniger Prüfungen und nochmalige Überprüfungen, weniger Codes, die immer wieder eingegeben werden mussten, damit die Änderungen alle korrekt waren. Jeden Tag bewertete das System alle Einwohner der Stadt. Jede Woche waren Hunderte von Rangänderungen nötig, um Ausgleich zu schaffen, um die Gesellschaft zu regulieren, das Gute zu belohnen und die Ordnung aufrechtzuerhalten. Ordnung bedeutete Frieden, durch das Gute wurde das Böse ferngehalten, denn die Stadt gründete auf Gemeinschaft, auf Gesellschaft, auf der Gruppe und nicht auf dem Einzelnen.

Den Rang bekam aber nicht die mehrere Tausend Einwohner zählende Gemeinschaft, sondern der Einzelne, dachte Evie oft bei sich. Jeder Einzelne musste dem Ehemann oder der Ehefrau die schlechte Nachricht beibringen, der Einzelne wurde auf der Straße gemieden, wenn er im Rang gefallen war.

Doch solche Gedanken waren nicht erlaubt. Etwas in der Stadt infrage zu stellen, hieß, dass man es besser wüsste als der Große Anführer. Und deutlicher konnte sich Selbstsucht wirklich nicht ausdrücken.

Sorgfältig tippte Evie die Zahlenreihen ein und wickelte die Rangänderung ab. Als sie fertig war, zeichnete sie das Deckblatt der Akte mit dem Systemcode ab. Sie dachte zu viel nach, das war ihr Problem. Selbst im Schlaf arbeitete ihr Gehirn weiter, anstatt sich auszuruhen, zu vertrauen und die Dinge hinzunehmen. Wenn sie zu viel nachdachte, dann war sie ebenso schlecht wie diejenigen, die am Großen Anführer gezweifelt hatten, die die Schreckenszeit heraufbeschworen hatten, die draußen vor der Stadt lebten und alle Bewohner vernichten wollten.

»Evangeline, starren Sie schon wieder Löcher in die Luft?« Erschrocken blickte Evie auf. Die Aufseherin Mrs Johnson sah sie durchdringend an. Evie errötete.

»Nein«, meinte sie fahrig. »Ich meine … Entschuldigung.«

Mrs Johnson runzelte die Stirn und Evie nahm sich die zweite Akte vor. Wieder von C nach D. Sie zwang ihre Augen geradeaus auf den Bildschirm, weg von der unmittelbaren Zukunft der betroffenen Person, und fing an zu tippen.


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