15

Evie versuchte, etwas zu essen, und löffelte die porridgeartige Pampe, die Martha gekocht hatte. Ihr Magen war allerdings nicht interessiert an Essen. Er war viel zu sehr damit beschäftigt, sich umzudrehen und sich zusammenzuziehen, immer wenn Raffy sie ansah oder wenn Linus ihrem Blick begegnete.

Doch obwohl sie nichts essen konnte, trotz Raffys Versuchen, sie dazu anzuhalten, wünschte sie sich, die Mahlzeit würde nie enden, Linus und Angel und Martha und auch George und Al, wie die beiden schweigsamen Männer hießen, würden nie zu Bett gehen und einschlafen, damit sie nicht dazu gezwungen wäre, sich entscheiden zu müssen. Mit Raffy zu fliehen oder ihn von der Flucht abzubringen. Ihn zu verraten oder zuzulassen, dass er in den Tod ging – ihrer beider Tod.

Linus stand als Erster auf. »Na dann, ich geh ins Bett«, verkündete er. »Ich schlage vor, dass wir uns alle gut ausschlafen.« Hatte er Evie direkt angesehen, als er das sagte? Sie war sich nicht sicher. Sie hatte das Gefühl gehabt, als würden seine Augen sich in ihre Seele bohren.

Angel ging kurz darauf. Martha räumte erst auf, unterstützt von Evie, die sich unbedingt irgendwie beschäftigen musste. Dann grunzten George und Al Gute Nacht und folgten ihr ins Zelt. Raffy stand auf.

»Schlafenszeit«, sagte er laut und gähnte. »Ich bin müde.«

Evie nickte. Er wollte, dass sie die Scharade mitspielte, aber sie konnte nicht. Stattdessen folgte sie ihm schweigend. Sie stieg über Al und George hinweg, die sich mit ihren Schlafsäcken am Zelteingang eingerichtet hatten, zu dem für sie und Raffy freigehaltenen Platz.

Dann warteten sie.

Sie warteten eine Stunde, bis ringsum nur noch tiefe Atemzüge und leises Schnarchen zu hören waren. Dann griff Raffy zu Evie hinüber und rüttelte sie kurz an der Schulter. Evie hatte sich die ganze Zeit nicht einmal getraut zu blinzeln und setzte sich sofort auf. Ihr Herz klopfte heftig.

Vorsichtig stemmte sich Raffy hoch und arbeitete sich in der Hocke langsam Richtung Zeltöffnung. Evie folgte ihm. Sie wagte kaum zu atmen oder darüber nachzudenken, was sie gerade taten und was ihnen bevorstand. Vorsichtig, ganz sachte tasteten sie sich weiter über die Schlafenden hinweg, durch die warme, stickige Luft im Zelt. Raffy stieg über Al hinweg und machte sich ans Öffnen der Verschlüsse. Da waren drei Lagen Stoff mit verschiedenen Reißverschlüssen und Vorhängeschlössern, wie bei den anderen Zelten auch. Um die wilden Tiere fernzuhalten, hatte Martha erklärt, als Evie ihr beim Abbauen geholfen hatte. Ab jetzt würden sie beide diesen Schutz nicht mehr haben.

Aber sie hätte Raffy, sagte sie sich. Sie würden zusammen sein und frei, wie sie es sich immer erträumt hatten.

Evie wollte einen möglichst großen Bogen um Linus machen und war deshalb anders gegangen als Raffy, auf Zehenspitzen hinter Marthas Schlafstelle vorbei. Nun bewegte sie sich angstvoll auf George zu. George war groß und breit und seine Gestalt nahm einen großen Bereich im Zelt ein. Sie konnte nicht über ihn hinwegsteigen. Da war nichts zu machen, ihre Beine waren nicht lang genug. Sie musste springen. Raffy blickte auf und erkannte ihre verzwickte Lage. Er drehte sich um und suchte nach einer anderen Möglichkeit für sie. Sie konnte nur genau so wieder zurück zu ihrem Schlafplatz und von dort Raffys Weg folgen. Sie atmete tief durch und sprang. Raffy riss die Augen auf vor Schreck und beide hielten den Atem an. Sie kam auf dem Boden auf, stieß leicht gegen die Zeltwand, aber niemand wachte auf. Sie lächelte. Das war ein gutes Zeichen. Es würde gut gehen.

Raffy öffnete die restlichen Verschlüsse. »Machst du es dann von außen wieder zu?«, flüsterte Evie. Er schüttelte den Kopf.

»Keine Zeit.«

»Aber dann sind sie einem Angriff schutzlos ausgesetzt«, erwiderte Evie, die schon wieder von Schuldgefühlen geplagt wurde. »Wir müssen es tun.«

»Es wird schon gut gehen«, antwortete Raffy. »Immerhin liegen sie im Zelt, oder? Sind doch selber schuld, wenn sie uns gefangen nehmen. Und als Angel mich geschlagen hat, da haben sie sich auch keine Sorgen gemacht um uns, oder?«

Evie schüttelte den Kopf. Wahrscheinlich hatte er recht. Sie gab ihm die Hand und er drückte sie aufmunternd. Dann schlich sie vorsichtig hinter ihm hinaus in die kühle Nachtluft. Der Boden unter ihren Füßen war feucht – es musste inzwischen geregnet haben, aber das Land hatte das ganze Wasser gierig aufgesogen, nur ein feuchter Dunst war geblieben.

»Da lang«, befahl Raffy und zeigte in die Richtung, aus der sie gekommen waren. »Wir müssen so weit wie möglich weg vom Base Camp.«

»Aber da geht es zurück zur Stadt«, erwiderte Evie. »Gehen wir lieber nach Norden, wie Lucas gesagt hat.«

»Und da sind wir direkt Linus in die Arme gelaufen«, fauchte Raffy gepresst.

Evie starrte ihn an. »Das konnte Lucas nicht wissen«, entgegnete sie.

»Und wenn doch? Was, wenn er wollte, dass Linus die Drecksarbeit für ihn erledigt«, sagte Raffy schneidend.

»Und was für eine Arbeit sollte das sein?«

Die beiden erstarrten, als sie die Stimme hörten, die sie nur zu gut kannten. »Glaubst du, dein Bruder hat dich verraten?«

Im Mondschein konnte Evie sehen, wie wütend und verzweifelt Raffy war. Es war ihre Schuld. Sie hätte nicht widersprechen sollen; sie wären jetzt schon längst weg. Hatte sie es mit Absicht getan? Glaubte Raffy das? Wenn ja, dann zeigte er es zumindest nicht, er sah sie nicht einmal an. Sein Blick war auf Linus gerichtet, seine ganze Energie konzentrierte sich auf ihn. Seine Muskeln waren zum Zerreißen gespannt, bereit zum Losschlagen.

»Lass uns gehen«, sagte er heiser. »Ihr braucht uns nicht. Und wir brauchen euren Schutz nicht. Wir können selbst auf uns aufpassen. Lass uns gehen.«

Linus überlegte einen Augenblick lang. »Ihr wollt wirklich gehen?«, fragte er. »Euch allein durchschlagen? Evie, willst du das auch?«

Evie zögerte so lange, dass Raffy sich schließlich umdrehte und sie anstarrte. »Ja«, sagte sie. »Ich will es auch.«

Linus nickte langsam. »Ich verstehe.« Dann zuckte er mit den Schultern.

»Dann können wir also gehen?«, fragte Raffy, einen Funken Hoffnung in der Stimme. »Ihr lasst uns ziehen?«

Linus’ Augen glänzten im Mondschein. Er sah weise aus, dachte Evie bei sich, aber traurig. Seine Augen funkelten zwar, aber nicht vor Freude. Da war etwas anderes und sie erkannte es. Es war Schmerz. Dann schüttelte er langsam den Kopf.

»Angel?«, rief er leise. Sofort erschien sein Gefolgsmann. Raffy versuchte loszurennen und schrie Evie zu, mit ihm zu kommen, aber es hatte keinen Sinn. Angel ergriff zuerst Raffy, übergab ihn Linus und packte dann Evie. Sie sah, wie Linus Raffys Gesicht auf den Boden drückte, während er ihm einen Strick um die Handgelenke band. Dann fesselte Angel Evies Hände.

»Ihr geht nirgendwohin, außer mit uns«, sagte Linus ruhig. »Wenn ihr noch einmal versucht, das Lager zu verlassen, seid ihr tot.«

»Warum?« Raffy tobte und wehrte sich, aber Angel hielt ihn fest. Evie blieb ganz ruhig stehen. Sie wusste, wann ein Kampf nicht zu gewinnen war. »Warum lasst ihr uns nicht gehen?«

Linus zuckte mit den Schultern. »Weil ich deinem Vater vor langer Zeit ein Versprechen gegeben habe«, sagte er. »Und ein Versprechen breche ich nicht. Sie sind das letzte Bollwerk der Zivilisation; wenn wir sie nicht halten, sind wir verloren.«

»Mein … Vater?«, fragte Raffy, und seine Worte waren kaum zu hören. »Wie meinst du das? Du kennst meinen Vater nicht. Du …«

»Du weißt nicht, was ich weiß«, sagte Linus unbewegt. »So, ich gehe jetzt wieder schlafen und ihr auch. Versucht, ein bisschen zu schlafen. Wir haben morgen ein ziemliches Stück zu gehen. Und stört uns nicht wieder.«

Bevor Raffy noch auf Antworten dringen konnte, verschwand Linus wieder im Zelt. Angel gab ihnen ein Zeichen, sie sollten ebenfalls wieder hineingehen. Also stolperten sie zurück zu ihren Schlafsäcken und ließen sich zu Boden sinken. Sie sprachen kein Wort, aber Evie schob sich ein Stückchen weiter vor, bis ihre Stirn an Raffys Rücken lag. So konnte er sie spüren und wusste, dass sie da war, dass sie ihn verstand oder dass sie es zumindest versuchte. Und Raffy rutschte rückwärts, bis er mit dem Rücken an ihrem Bauch lag, sodass er sie wärmte wie eine Decke. Und so, mit aneinandergeschmiegten Körpern, blieben sie liegen, bis der Morgen kam.

»Los. Schnell.« Evie schreckte aus dem Schlaf hoch, als George sie durch die Schlafsäcke mit dem Fuß anstieß. Er sah, dass sie die Augen geöffnet hatte, und trat zurück. »Linus sagt, wir brechen in fünf Minuten auf.« Er zuckte die Achseln und ging wieder. Augenblicklich stemmte Raffy sich hoch. Er sah aus, als hätte er nicht geschlafen, obwohl seine tiefen gleichmäßigen Atemzüge Evie die ganze Nacht über begleitet hatten. Er hatte dunkle Ringe um die Augen, die noch dunkler und gequälter wirkten als sonst.

Er sprach nicht über Linus oder über das, was dieser in der Nacht gesagt hatte. Er stand nur auf und packte die Schlafsäcke zusammen. Bis sie zum Aufbruch bereit waren, hatten die anderen das Zelt um sie herum schon abgebaut. Martha gab jedem noch einen Ranken Brot und etwas Wasser, dann mussten sie aufbrechen. Raffy und Evie hatten kein einziges Wort gewechselt. Immer wieder blickte Evie zu ihm hin, doch sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Raffy verfolgte Linus mit den Augen wie ein Falke, mal verstohlen, dann wieder ganz offen, während sie sich durch öde Landstriche langsam auf den Ort zubewegten, vor dem er sich fürchtete und vor dem er doch hatte fliehen wollen.

Zu Mittag, als die Sonne am heißesten brannte, machten sie unter einer kleinen Baumgruppe für eine knappe Stunde Rast. Dann ging es weiter, Martha mit Linus an der Spitze, Angel am Schluss, und George und Al direkt vor Evie und Raffy.

Es war schon kurz vor Sonnenuntergang, als Evie in der Ferne etwas entdeckte. Einen Hügel, einen großen Hügel, der nicht mit Bäumen bestanden war, sondern mit … Sie kniff die Augen zusammen und zupfte Raffy am Ärmel. Mit Zelten. Mit Gerüsten. Raffy folgte ihrem Blick und blieb unvermittelt stehen, sodass Angel von hinten in ihn hineinlief. Der Mann fluchte, dann sah er, worauf Raffy starrte, und grinste. »Daheim«, rief er aus. »Endlich daheim.«

Er trieb Raffy an, weiterzugehen, und dieser setzte sich nach einer kurzen Pause wieder in Bewegung. Evie warf ihm ständig besorgte Blicke zu, aber je näher sie kamen, desto weniger erregt schien Raffy zu sein.

»Es gibt keine Mauer«, bemerkte er stirnrunzelnd, als sie sich Base Camp näherten. Es war ein passender Name, fand Evie – denn es war keine Stadt; die Aufbauten waren alle nur provisorisch. Und es lag ein Stück hügelaufwärts.

»Wir brauchen keine Mauer.« Linus wandte sich um und sah Raffy und Evie zum ersten Mal an diesem Tag mit seinem nun schon vertrauten Grinsen an. »Die natürliche Lage und die Wachtürme sind unser Schutz und wir sperren unsere Leute nicht ein. Das ist nicht unsere Art.«

Schweigend marschierten sie am ersten Wachturm vorbei und in das Lager. Überall liefen Menschen in Overalls herum, mit ernsten Gesichtern, auf denen sich ein Grinsen ausbreitete, als sie Linus erkannten. Sie hatten seltsame Begrüßungsrituale, die Evie noch nie gesehen hatte, sie klatschten die Hände zusammen und schlugen sich gegenseitig auf den Rücken. Sie wappnete sich, aber niemand klatschte gegen ihre Hand oder schlug ihr auf den Rücken; das taten sie nur bei Linus, Angel, George und Al. Martha hingegen umarmten sie, wirbelten sie herum und küssten sie auf den Kopf. Evie und Raffy wurden nur vorsichtig beäugt.

»Was ist das für ein Ort«, flüsterte Raffy.

»Dieser Ort?« Linus stand plötzlich hinter ihnen. »Mein Sohn, das ist das Hauptquartier der Armee. Wir machen uns bereit zur Schlacht und wir sind bald so weit. Ich habe das Gefühl, es könnte sogar schon ziemlich bald sein.«

Insgesamt waren in dem Lager ungefähr hundert Leute und alle machten sich irgendwie nützlich. Während in der Stadt die Viertel nach Berufsgruppen aufgeteilt waren, getrennt nach Geschlechtern – Männer als Steinmetze, Frauen in der Bäckerei –, war hier alles bunt zusammengewürfelt, und wo Evie auch hinschaute, unterhielten sich die Menschen, lachten, stritten. Manche sangen bei der Arbeit, Männer und Frauen machten Späße, erzählten sich Witze und neckten sich.

Und es gab keine Rangabzeichen.

Evie starrte wie gebannt, während sie einen Rundgang machte; Linus bemerkte es. »Nicht das, was du erwartet hast?«, fragte er.

Evie wurde rot. »Sie haben uns erzählt, dass alle außerhalb der Stadt Wilde sind«, sagte sie leise. »Dass die Menschen böse sind. Aber sie sind nicht böse, oder?«

»Nein, Evie, das sind sie nicht«, sagte Linus. Er legte die Arme um sie und Raffy. »Kommt mit. Ich möchte euch etwas zeigen.«

Er führte sie zwischen zwei großen Zelten hindurch auf einen Weg zu einem Zelt mit verstärkten Wänden und einem Wächter, der ein Gewehr trug.

»Die Stadt hat euch über viele Dinge belogen. Wahrscheinlich über die meisten«, sagte Linus.

»Der ganze Ort ist eine einzige Lüge, wenn du mich fragst«, antwortete Raffy düster.

Linus lächelte. »Du hast recht. Natürlich hast du recht. Aber …« Er sah sie prüfend an. »Aber das ist das Schlimmste. Das finde ich jedenfalls. Die Leute. In dem Zelt.«

»Da sind Leute in dem Zelt?«, fragte Evie unsicher. »Gefangene?«

»Keine Gefangenen.« Linus schüttelte den Kopf. »Zumindest nicht durch unser Zutun. Aber seht selbst.«

Evie näherte sich dem Zelt. Durch schmale Plastikfenster erkannte sie Gesichter, seltsame, schwermütige Gesichter. Eine Frau sah sie, stürzte heran und drückte das Gesicht so heftig gegen die Scheibe, dass ihre Züge entsetzlich verzerrt wurden. Evie unterdrückte einen Schrei, als sich immer mehr Leute dazudrängten, mit verdrehten Augen und mit Mündern, aus denen Speichel lief. Sie schrien, stöhnten und auch Evie schrie. Sie wollte weglaufen, aber Linus hielt sie fest.

»Weißt du, was das für Leute sind?«, fragte er.

Evie nickte. Sie kannte dieses Geräusch. Dieses Geräusch war das Zeichen, dass alles vorbei war. Dieses Geräusch hatte sie viele Male gehört und sich unter der Bettdecke verkrochen, wenn ihr Vater aus dem Haus gegangen war, um die Stadt zu schützen – um sie zu schützen. Auch Raffy erkannte das Geräusch. Er starrte Linus verständnislos an.

»Das sind die Opferlämmer der Stadt«, sagte er, führte sie ein Stück weg vom Zelt und sagte mit ernster Miene: »Sie haben irreparable Hirnschäden. Sie sind Opfer eurer großartigen Stadt und deren großartigen Errungenschaften.«

»Hirnschäden? Aber …« Evie runzelte die Stirn. »Aber das stimmt nicht. Sie sind … Sie sind …«

»Natürlich«, sagte Linus mit einem Lächeln, das seine Augen nicht erreichte. »Ihr kennt diese Menschen als die Bösen.«


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