8

Der Bruder stand, als Lucas an die Tür klopfte. Er stand gern, wenn er wichtige Neuigkeiten mitzuteilen hatte. Er hatte das Gefühl, dass ihm das etwas Feierliches gab. Er sah dann so aus und, als ob er die Nachricht sehr ernst nehmen würde. Das hieß auch, dass derjenige, dem er die Nachricht übermittelte, schnell wieder draußen war, weil er keinen Stuhl zum Festhalten hatte.

»Lucas.« Lucas’ Miene war unergründlich, als er durch den Raum ging, so wie immer. Aber vielleicht war sie ja doch zu ergründen. Vielleicht gab es da einfach keine Gefühle, die man hätte ergründen können.

»Bruder.« Lucas suchte nicht den Raum ab nach einem Stuhl, wie die anderen es oft taten, sondern ging quer durch den Raum auf den Bruder zu, in aufrechter Haltung, so wie immer, und mit Augen, die an einen strahlenden Sommerhimmel erinnerten, nur ohne die Wärme, die die Sonne verlieh. Der Bruder fand diese Augen fast beunruhigend, aber er würde sie nicht anders wollen. Lucas war loyal, ergeben und er stellte keine Fragen. Ein Musterbürger. Der beste Mann, den er hatte.

»Ich habe deinen Bericht gelesen«, begann der Bruder. »Ich verstehe, warum du glaubst, dass Raphael nicht fähig ist, ein Kommunikationsprogramm in das System einzuschleusen. Dass er den seltsamen Code nur gefunden und es gemeldet hat und dass seine Interpretation des Codes an sich ein fragwürdiges Verdienst ist und wahrscheinlich eher ein Produkt seiner überbordenden Fantasie. Ich sehe auch, dass du selbst den Code analysiert und herausgefunden hast, dass es nichts weiter war als ein Systemfehler.«

»Das ist richtig, Bruder.«

»Und du bist dir da absolut sicher?«

Lucas blickte etwas verwundert drein. »Bruder, bei allem Respekt, wenn es im System einen derartigen Code gäbe, dann wüsste ich das. Raphael hat da irgendeinen fehlerhaften Code entdeckt, einen Fehler, der vor vielen Jahren passiert ist und der nie aufgefallen ist, weil er nichts gemacht hat, weil da nichts ist. Inzwischen ist er gelöscht worden. Das, was Raphael gefunden hat, und das, was er gesagt hat, dass er gefunden hat, das sind zwei verschiedene Dinge. Mein Bruder war schon immer ein Fantast. Er flüchtet sich in eine Traumwelt. In diesem Fall hat er diese Traumwelt und die Realität verwechselt. Das ist alles. Ich gebe Euch mein Wort, Bruder.«

Er war wie ein Soldat, dachte der Bruder bei sich. Vielleicht war die Technikabteilung doch nicht der richtige Platz für ihn. Vielleicht passte er besser in die Polizeigarde, denen er etwas von seiner Zielstrebigkeit und seinem Pflichtbewusstsein beibringen könnte. Aber nein. Lucas kannte sich besser aus im System als irgendjemand sonst; sein Verständnis von Technik und von Computerprogrammen war ohne Beispiel. Jeder konnte die Polizeigarde anführen, aber nur Lucas konnte das System leiten.

»Ich verstehe.« Er atmete tief aus, ging an seinen Schreibtisch und nahm Lucas’ Bericht in die Hand. »Das Problem ist nur: Das alles wirft weitere allgemeine Fragen auf über die Eignung deines Bruders.« Er sah irgendetwas aufflackern in Lucas’ Gesicht, aber es verschwand zu schnell, als dass er es hätte analysieren oder deuten können. »Ich glaube, dass Raphael gestört ist«, fuhr er fort und senkte den Blick, sodass er ganz vage auf die Höhe von Lucas’ Kinn schaute. »Mehr als gestört. Ich glaube, wir haben alles für ihn getan, was wir können, und ihn so lange in Schach gehalten, wie es zu verantworten ist.«

»Und wo ist Euer Beweis dafür?«, fragte Lucas unvermittelt. Der Bruder zuckte ganz leicht zusammen. War da ein rebellischer Unterton in Lucas’ Stimme oder war das wirklich nur eine Frage zur Klärung? Er schüttelte sich. Er projizierte seine eigenen Ängste auf Lucas und sah Wut, wo keine war. Lucas wusste doch gar nicht, was es hieß, Wut zu empfinden. Lucas war fast so etwas wie ein Sohn für ihn, und dennoch hatte er das Gefühl, dass er ihn weniger kannte als jeden anderen, mit dem er Zeit verbrachte.

»Ich weiß es«, antwortete er traurig und erschöpft, »oder sagen wir eher, das System weiß es. Ich hatte gehofft …« Er sah wieder auf Lucas und spürte, wie er fast zurückprallte angesichts des Fehlens irgendeiner Gefühlsregung im Gesicht des jungen Mannes. »Ein Bericht ist erstellt worden, der besagt, dass Raffy uns verlassen wird.«

»Wird er zum K erklärt?«

»So hat das System es entschieden«, antwortete der Bruder ernst und legte die Hände wie zum Gebet aneinander – eine Angewohnheit, die er nicht abstellen konnte.

»Dann bekommt er heute Nacht eine zweite Neutaufe?«

»Ja, sie holen ihn heute Nacht … zur Sicherheit aller«, sagte der Bruder und suchte in Lucas’ Gesicht nach einem Anzeichen von Trauer oder von Wut – etwas, das er nachempfinden konnte. Aber natürlich war da nichts.

»Sehr gut. Wenn das System entschieden hat«, sagte Lucas. »Ist das alles?«

»Das ist alles«, antwortete der Bruder und fragte sich, warum ihm das Fehlen jeglicher Reaktion bei Lucas einen solchen Stich versetzte.

Lucas ging zur Tür, öffnete sie, doch dann zögerte er. »Bruder?« Der zögerliche Tonfall des jungen Mannes überraschte den Bruder ziemlich.

»Ja, Lucas?«

»Könnte ich noch einen Abend mit Raphael verbringen? Und auch meine Mutter?«

Der Bruder starrte ihn an. Es ging ihm also doch nah. »Bittest du mich, die Umsetzung der Entscheidung des Systems hinauszuschieben?«, fragte er.

Lucas nickte langsam. »Ich weiß, es ist allerhand, darum zu bitten«, sagte er, und seine Stimme klang etwas rau. »Aber es würde ihr sehr viel bedeuten. Meiner Mutter.« Der Bruder schaute ihn vorsichtig an. Es war tatsächlich allerhand, darum zu bitten. Und endlich konnte der Bruder ein paar Wolken am strahlend blauen Himmel entdecken und aus irgendeinem Grund heiterte ihn das auf. Lucas war doch ein Mensch. Er war doch echt.

»Dann also morgen«, sagte er.

»Danke.« Ein Lächeln. Vielleicht das erste Lächeln, das je Lucas’ Augen erreicht hatte. Dann war er fort.

Langsam ging der Bruder zu seinem Schreibtisch hinüber, zog Raphaels Wechselakte hervor und legte sie in die Schublade.

Evie wusste, dass Raffy nicht bei der Arbeit war. Zum einen, weil sie früh dort war und sich so lange draußen herumgetrieben hatte, bis sie sah, dass Lucas allein kam, zum anderen, weil sie es einfach wusste. Und sie wusste auch, dass er nicht krank war. Sie hatte gehört, wie die Leute sich zuflüsterten, dass er unter Bewachung stand, und dass sein Bruder den Auftrag hatte, herauszufinden, was er wusste. Den Rest füllte sie mit Einbildung, mit Angst und mit Abscheu gegenüber Lucas und mit der Wut auf ihn und der Enttäuschung über ihn, über jeden.

Denn in Wirklichkeit war es ihre Schuld. Sie hätte früher Schluss machen müssen. Sie hätte stärker sein müssen. Und jetzt war Raffy … ja, was eigentlich? Irgendwo weggesperrt? Gefoltert von Lucas, weil er sie besucht hatte? Weil Lucas ihm gefolgt war? Weil Lucas sich nichts machte aus Gefühlen oder aus Familienbanden oder so etwas? Weil er grausam war und wütend und eifersüchtig?

Auf dem Heimweg kam sie an Raffys Haus vorbei, und sie war versucht, an die Tür zu klopfen und nach ihm zu fragen, doch sie wusste, dass das sinnlos war. Sie konnte genauso wenig an diese Tür klopfen, wie sie entscheiden konnte, Lucas nicht zu heiraten, nicht zur Arbeit zu gehen oder die Gesetze der Stadt nicht zu befolgen. Sie musste tun, was man von ihr erwartete, weil das alle taten. Ohne Widerrede. Ob die anderen Leute, die hier lebten, diese Regeln genauso frustrierend fanden, ob sie sich danach sehnten, sie zu brechen und sich den Versuchungen der Begierde und der Wut hinzugeben? Waren die As einfach von Natur aus gut oder hatten sie sich einfach nur besser im Griff? Hatte auch Lucas manchmal Triebe, die er im Zaum halten musste? Evie lachte dumpf auf. Lucas hatte bestimmt niemals irgendwelche Triebe oder Gefühle gehabt, da war sie sich sicher.

Als sie nach Hause kam, wartete ihre Mutter schon in der Küche auf sie, vor sich auf dem Tisch die Nähmaschine und daneben einen Stapel halb fertiger Kleider.

»Evie«, rief sie und seufzte. »Da bist du ja endlich. Belle war heute nicht da wegen Grippe. Du musst mir helfen, damit wir ihren Teil fertigkriegen.«

Evie starrte auf den Haufen. Früher, bevor sie in der Behörde angefangen hatte, war sie ihrer Mutter regelmäßig beim Nähen von Kleidung oder Bettzeug zur Hand gegangen – ein oder zwei Stunden jeden Tag nach der Schule, bevor sie zusammen das Abendessen gemacht hatten. Seit sie selbst zehn Stunden am Tag arbeitete, hatte die Mutter nicht mehr gefragt. Sie schien keine Arbeit mehr mit nach Hause zu nehmen.

»Also gut«, sagte sie und legte ihre Tasche weg. Schließlich war das Einzige, was sie an diesem Abend geplant hatte, wütend auf Lucas zu sein und sich Sorgen um Raffy zu machen.

»Gut«, meinte Delphine. »Ich koche und du nähst. Genau wie früher.«

Evie wusch sich die Hände, setzte sich an den Tisch und machte sich wieder mit der Nähmaschine ihrer Mutter vertraut. Manches hatte sie längst vergessen, aber nach einigen Probenähten ging es schon besser. Beim ersten Mal drückte sie zu heftig auf das Pedal, sie war zu schnell, und ihre Naht wurde schief, aber bald kam sie wieder in den Rhythmus und begann, das sanfte, beruhigende Surren zu genießen, während sie sich nur darauf konzentrieren musste, eine gerade Linie beizubehalten.

»Dein Vater hat mir erzählt, Lucas hätte sich gestern Abend mit dir unterhalten«, sagte ihre Mutter nach ein paar Minuten Schweigen.

Evie antwortete nicht. Sie hatte es genossen, einmal ein paar Minuten nicht an Lucas zu denken.

»Du hast Glück, dass dir so ein guter Mann den Hof macht«, fuhr ihre Mutter unbekümmert fort. »Ich hoffe, du weißt das zu schätzen und gibst ihm das Gefühl, dass er die richtige Wahl getroffen hat … dass du gut genug für ihn bist.«

Evie hielt inne mit Nähen und blickte zu ihrer Mutter auf. »Du machst dir anscheinend keine Gedanken darüber, ob er auch gut genug für mich ist.«

Delphine verdrehte die Augen. »Evie, so etwas sagt man nicht einmal im Spaß. Mit Lucas hast du es jedenfalls sehr gut getroffen. Sehr gut.«

»Das sagst du mir andauernd«, erwiderte Evie und schob ihren Stuhl zurück. Mit einem Mal fühlte sie sich beengt; vor ein paar Sekunden noch war es so gemütlich in der Küche gewesen, und jetzt glaubte Evie, sie müsste ersticken.

»Ich sage das andauernd, weil ich mir nicht sicher bin, ob du es zu schätzen weißt«, antwortete die Mutter knapp. »Ich weiß nicht, ob du überhaupt irgendetwas zu schätzen weißt. Du hast Glück, dass du überhaupt hier bist, Evie. Wirklich Glück.« Sie schlug etwas mit dem Schneebesen in einer Rührschüssel und bewegte die Hand nun schneller. Evie fragte sich, was wohl wäre, wenn die Schüssel samt Inhalt quer durch die Küche fliegen würde. Aber dann wurde ihr bewusst, dass sie sich das nicht fragte, sondern dass sie hoffte, dass es passieren würde.

Weil sie böse war. Sie nahm das zur Kenntnis ohne irgendeine Gefühlsregung; es beunruhigte sie nicht einmal mehr. Es war einfach eine Tatsache. Eine Tatsache, die sie akzeptiert hatte.

»Ich finde, du solltest Lucas schätzen, weil er ein guter Mann ist. Weil er ein A ist«, sagte Delphine rundheraus.

Sie stellte die Schüssel auf die Anrichte, kam an den Tisch und setzte sich Evie gegenüber hin.

»Ich finde, du solltest es würdigen, dass dir eine gute Heirat bevorsteht. Mit einem guten Mann mit guten Aussichten. Nicht wie bei …«

Sie beendete den Satz nicht, aber Evie wusste, was ihre Mutter hatte sagen wollen.

»Nicht wie bei dir?« Sie stand auf, und sie spürte, wie die Wut in ihr hochstieg. Sie hatte es satt, ihre Gefühle zu kontrollieren. Sie konnte es nicht mehr. »Vater liebt dich. Er ist ein guter Mann. Ein wirklich guter Mann. Sein Arbeitszimmer ist voller Medaillen und Pokale, er ist beliebt und geachtet. Und er ist Schlüsselhüter. Aber das reicht dir nicht. Ich wünschte, du würdest Lucas heiraten. Ich glaube, ihr habt einander verdient!« Sie ließ die Näharbeit halb fertig liegen und floh hinauf in ihr Zimmer, ohne auf die Rufe ihrer Mutter zu achten, und auch nicht auf die Drohungen und schließlich auf das Ultimatum, sie bekäme kein Abendessen, ja überhaupt nichts zu essen, bis sie sich entschuldigte.

Sie hatte sowieso keinen Hunger.

Und sie würde sich auf keinen Fall entschuldigen.

Es war schon spät, aber Evie konnte nicht schlafen. Stattdessen saß sie auf dem Bett und versuchte, ihren bohrenden Hunger nicht zu beachten, sich über so banale, unwichtige Dinge zu erheben, wo es doch so viele andere Dinge gab, die sie verstehen und über die sie sich Gedanken machen musste. Raffy, Lucas, ihre eigene Zukunft.

Und doch war da etwas anderes ganz vorn in ihrem Kopf, nagte an ihr und ließ ihr keine Ruhe. Etwas, das ihre Mutter gesagt hatte. Du hast Glück, dass du überhaupt hier bist.

Aber wo sollte sie denn sonst sein?

Evie sah aus dem Fenster. Es war dunkel und still. Sie sah Häuser, Hunderte Häuser, genau wie ihres, in denen Licht brannte. Da drin saßen Familien, genau wie ihre eigene, um den Tisch, spielten Karten oder lasen in den Betrachtungen. Gute Menschen. Arbeitsame Menschen. Sie zog die Vorhänge zu. Wie breit war die Grenze zwischen Gut und Böse? Wie nah waren gute Menschen daran, sie zu überschreiten? War es wie eine dünne Linie auf dem Boden, über die man leicht stolpern konnte, wenn man nicht aufpasste, oder war es eher wie ein Fluss, den man nur bewusst überqueren konnte? Sie hatte willentlich einen Fluss überquert, das wusste sie, und Raffy hatte sie dabei geführt.

Die Tür ging auf und Evie blickte ängstlich hoch. Es war ihr Vater. Das Mondlicht tanzte auf seinem Gesicht und zeichnete die dunklen Schatten um seine Augen nach. Er setzte sich ans Fußende des Bettes. »Entschuldige, dass ich dich so spät noch störe.«

»Ist schon in Ordnung«, sagte sie unsicher und schaute auf die Uhr auf ihrem Nachttisch, und ihr Magen zog sich zusammen, als sie sah, dass es fast Mitternacht war. Normalerweise schliefen ihre Eltern spätestens um zehn. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Es tut mir leid, was ich zu Mutter gesagt habe. Ich habe es nicht so gemeint.«

»Du hast dich mit deiner Mutter gestritten?«, fragte ihr Vater bekümmert.

»Ja. Ich … Ich dachte, du bist deswegen gekommen«, sagte Evie und runzelte die Stirn.

»Nein. Ich komme gerade von einer Besprechung mit den Schlüsselhütern. In der Stadt ist jemand Böses aufgespürt worden, Evie. Es soll eine zweite Neutaufe geben.«

Evie spürte, wie ihr der Schweiß ausbrach. Redete er von ihr? War er gekommen, um ihr zu sagen, dass sie zur K erklärt worden war? Nein, bitte nicht! Sie würde sich ändern. Sie würde … Sie bemerkte, dass er sie erwartungsvoll ansah, und fasste sich.

»Ja, Vater«, flüsterte sie.

»Evie, da ist noch etwas.«

Eine Vorahnung zog sich über Evie zusammen wie eine dunkle Wolke; es war der Ausdruck auf dem Gesicht ihres Vaters. Sein Zögern, die Weigerung, ihr in die Augen zu schauen. Es ging doch um sie. Sie kamen, um sie zu holen. Sie war die K. Sie begann zu zittern.

»Evie, ich fürchte, der Böse ist … Raphael.«

Evie blickte entsetzt hoch. »Raffy? Nein!« Sie zitterte noch heftiger.

»Das System hat entschieden«, meinte ihr Vater sanft. »Es steht uns nicht zu, darüber zu urteilen. Aber ich weiß, dass du und er …«

Er holte tief Atem. »Ihr wart einmal Freunde. Du heiratest seinen Bruder. Aber ich bin sicher, dass es keine negativen Auswirkungen auf Lucas hat. Er ist ein guter Mann. Ich will nicht, dass du dir Sorgen machst.«

»Du willst nicht, dass ich mir Sorgen mache?«, keuchte Evie. »Raffy ist nicht böse … Ganz bestimmt nicht. Er …«

»Der Bruder hat mir selbst gesagt, dass Lucas die entscheidenden Informationen für das System beschafft hat«, erklärte der Vater und legte ihr die Hand auf die Schulter. »Und dass er dem Bösen so nah gekommen ist, wird an meiner Meinung über ihn nicht das Geringste ändern. Also, schlaf jetzt, Evie. Morgen wird ein anstrengender Tag.«

Evie konnte nicht sprechen. Schweigend sah sie ihrem Vater nach, wartete, bis seine Schritte im Schlafzimmer der Eltern verklangen und die Tür dort geschlossen wurde.

Ihr Verstand arbeitete wie wild. Sie stand auf, blickte sich verzweifelt im Zimmer um und begann, sich anzuziehen. Sie musste zu Raffy, musste ihn warnen. Sie wusste nicht, wie, aber sie musste es irgendwie schaffen. Wenn er eine zweite Neutaufe erhielt, dann würde sie ihn nie wiedersehen, und das konnte sie nicht ertragen. Sie würden weglaufen, weit weg von diesem schrecklichen Ort, von dieser Stadt, die behauptete, sie sei voller Güte, ohne zu wissen, was Güte überhaupt war – wie sollte sie auch, wenn ein Mann wie Lucas, der seinen eigenen Bruder verriet, als Inbegriff des Guten galt? Lucas war der, der böse war. Er war mehr als böse. Er war …

Sie hörte ein Geräusch. Es klopfte ans Fenster. Ein Gefühl der Erleichterung durchströmte sie! Das war Raffy. Er war entkommen. Er war hier. Er war in Sicherheit. Sie zog die Vorhänge auf und zog am Griff, um das Fenster zu öffnen. Ihre Nackenhaare stellten sich auf: Denn es war nicht Raffy, den sie sah. Es waren zwei blaue Augen. Zwei abscheuliche, gefühllose Augen, die sie anblickten, und ihr erster Impuls war, das Fenster wieder zu schließen, Lucas auszusperren, ihn von der Mauer zu stoßen, die er heraufgeklettert war. Aber er war schneller, er packte sie an den Handgelenken, stieß sie zurück, schwang die Beine über das Sims und landete vor ihr.

»Evie«, meinte er und zog eine Braue hoch. »Gehst du noch weg?«


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