20

Augen und Nase verklebt von Dreck und Staub. Sie ringt nach Atem. Eine Hand schließt sich um die ihre, zieht sie weiter, beruhigt sie. Aus Versehen bleibt sie an einem Stein hängen und fällt hin. Sie knallt mit dem Gesicht auf den Boden. Sie hebt den Kopf und fährt sich über die Stirn. An ihrem Handrücken ist Blut. Ihre Lippen beben, aber noch bevor die Tränen kommen, wird sie hochgehoben. Ihre Arme legen sich um einen vertrauten Nacken und es geht weiter.

Sein rhythmisch schwingender Gang beruhigt sie. Sie fühlt sich geborgen. Sein Körper ist warm. Sie schmiegt sich an ihn. Sie kann ihn riechen – Schweiß, Hunger, Entschlossenheit. Liebe. »Wir sind bald da«, murmelt er ihr ins Ohr. »Wir sind bald da, mein Liebling.«

»Warte nur«, hört sie ihn noch sagen, bevor sie einnickt. »Wir gehen in das Land der Fülle. Und des Friedens. Wir werden sehr glücklich sein, Evangeline. Du wirst schon sehen …«

Eine Erscheinung. Licht. Männer kommen auf sie zu. Sie sind in Sicherheit. Sie haben es geschafft. Ihre Eltern lächeln. Ihre Augen leuchten auf. Sie drücken ihre Hand. »Wir sind da, Evie. Wir sind endlich da. Wir haben dir doch gesagt, dass wir es finden würden …«

Dann kommt einer der Männer auf sie zu und versucht, sie mitzunehmen. Ihr Vater versucht, sie festzuhalten. »Was tut ihr da? Sie ist unsere Tochter. Sie gehört zu uns. Wir gehören zusammen. Wir sind …«

Der Mann achtet nicht darauf, er sieht ihre Eltern gar nicht, hört nicht die Schreie ihrer Mutter. Er nimmt Evie und marschiert mit ihr davon. Sie kann immer noch die panischen Fragen ihrer Eltern hören, wo man sie hinbringt, wann sie sie wiedersehen werden. Sie rufen ihren Namen; rufen, dass sie bald wieder zusammen sind.

Der Mann lächelt sie an. »Vergiss sie«, sagt er. »Es lohnt sich nicht, sich noch Gedanken über sie zu machen. Komm mit …«

Sie ist in einem Zimmer. Es ist kalt und es ist dunkel. Sie spürt fremde Arme um sich. Ihre Kehle ist ganz heiser vom Schreien und jetzt schweigt sie. Sie spürt, wie ihr Kopf nach vorn sinkt, spürt, wie ihr die Augen zufallen. Sie will schlafen. Doch sie zwingt sich, die Augen wieder zu öffnen. Sie darf jetzt nicht schlafen, sie weiß es. Der Mann hat es ihr gesagt; der Mann, der lächelt, aber mit einem gefährlichen Ausdruck in den Augen. Er hat ihr gesagt, dass ihre Eltern nicht existieren; dass die Leute, mit denen sie so lange unterwegs war, die Leute, deren Hoffnung und deren Schilderungen von ihrer Rettung ihr Stärke gegeben haben, wenn sie sich schwach fühlte, die ihr die Kraft gegeben haben, weiterzugehen, wenn sie sich nur noch hinlegen und sich zusammenrollen wollte, nicht mehr hier sind. Er sagt, sie sind gegangen. Sie haben sie verlassen, so wie sie es von Anfang an vorgehabt hätten.

Die Menschen starren sie an. Sie sieht auf ihre Füße; das hat sie sich angewöhnt. Nur Blickkontakt aufnehmen, wenn man weiß, was vor sich geht, wenn man sich sicher fühlt. Sie hat schon viel Gewalt mitansehen müssen in ihrem Leben; vor ihren Augen sind Menschen getötet worden, sie hat Wilde gesehen, die das Fleisch von Toten gegessen haben. Ihre Eltern haben ihr gesagt, dass die Welt ein sehr schöner Ort sein kann, aber sie ist sehr verständig für ihr Alter. Sie weiß, dass das nicht stimmt.

»Delphine, Ralph. Wollt ihr sie richtig kennenlernen?« Ein Paar kommt auf sie zu.

»Evangeline?« Der Mann spricht als Erster. Er geht vor ihr in die Hocke. »Evangeline, ich bin so froh, dass du hier bist. Ich bin dein Vater. Und das hier ist deine Mutter. Wir haben auf dich gewartet.«

Evie ist erschrocken. Sie war auf vieles gefasst, aber nicht auf das. Sie bricht ihre Regel und sieht auf. Sieht ihnen in die Augen.

»Mein Vater«, sagt sie. »Mein Vater ist …« Sie weiß nicht, wie sie den Satz beenden soll, sie weiß nicht, wo ihr Vater ist.

»Ich bin dein Vater, Evangeline«, sagt der Mann sanft, aber bestimmt. »Der Mann, mit dem du gekommen bist, um den kümmert man sich. Er braucht unsere Hilfe, und du willst doch, dass wir ihm helfen, oder? Du willst, dass wir allen Menschen helfen, die mit dir gekommen sind.«

Sie nickt. Der Mann bietet ihr etwas zu essen und Wasser zu trinken an; hungrig greift sie zu.

»Ist sie krank? Fehlt ihr etwas?« Dieses Mal spricht die Frau; ihre Augen betrachten sie forschend und machen Evie verlegen.

»Sie ist nicht krank, Delphine. Sie ist drei Jahre alt. Ist sie nicht die Tochter, die ihr euch immer gewünscht habt?« Der erste Mann starrt Evie an. »Du bist doch die Tochter, die diese Dame sich immer gewünscht hat, nicht? Du wirst ihr und der Stadt doch bestimmt eine gute, brave Tochter sein? Willst du das?«

Evie nickt.

»Ich werde eine gute Tochter sein«, sagt sie mit leiser, belegter Stimme.

»Das wirst du, wenn du erst die Neutaufe erhalten hast«, erwidert die Frau.

»Gleich morgen wird sie sie erhalten«, beruhigt sie der erste Mann. »Zusammen mit den anderen.«

»Sie ist perfekt«, sagt der Mann, der sich ihr Vater nennt. »Komm, Delphine. Die anderen warten schon. Nehmen wir sie mit. Nehmen wir sie mit nach Hause.«

Die Frau sieht noch einmal an ihr hinunter. »In Ordnung.« Sie nickt. »Wird schon werden.«

Sie streckt Evie die Hand hin und die ergreift sie.

»Du heißt Evangeline?«, fragt ihr neuer Vater sie. Evie nickt. »Ich glaube, wir nennen sie Evie.«

»Meine Eltern nennen mich auch Evie«, flüstert sie.

Sofort bleibt die Frau stehen, packt sie an den Schultern und zischt: »Wir sind deine Eltern. Du hast keine anderen Eltern, verstanden? Nur böse Kinder reden von anderen Eltern. Nur niederträchtige, schreckliche Kinder, die man bestraft für ihre Niedertracht. Wir sind deine Eltern. Vergiss die Leute, mit denen du gekommen bist, genau wie sie dich vergessen haben. Hast du verstanden? Hast du verstanden?«

Evie nickt. Sie hat verstanden. Als sie aufwacht, versteht sie mit einem Mal alles.

Sie marschierten schweigend, Linus mit Martha voraus, dann Raffy und Evie und drei andere Männer. Die Versehrten wurden von Angel und fünf Leuten mit einem Transporter hingebracht und sollten knapp außer Sichtweite der Stadt mit Linus und den anderen zusammentreffen.

Der Plan war denkbar einfach: die Versehrten durch das Osttor in die Stadt einschleusen; dann brauchte man nur auf den allgemeinen Tumult zu warten und sich inzwischen heimlich zum Westtor schleichen, wo Lucas schon bereitstand. Von dort ginge es direkt zum Regierungsgebäude, wo Linus und Raffy sich daranmachen wollten, das System wieder so einzurichten, wie es immer gedacht war. Inzwischen sollten Evie und Martha Rangänderungsbescheide versenden, die alle zu As machten und die erklärten, dass die Einteilung völliger Unsinn sei und dass es vorbei war, dass eine neue Zeit anbrechen würde. Lucas und Angel sollten den Bruder gefangen nehmen und ihn zwingen, die Bescheide zu versenden; und sie sollten sicherstellen, dass seine Herrschaft endete, sobald alle die Wahrheit erfahren hatten.

Und dann …

Dann konnten Evie und Raffy selbst entscheiden, was sie tun wollten, hatte Linus versprochen. Sie, Raffy und Lucas, hatte er sich verbessert, was Evie wieder die Röte in die Wangen trieb. Sie könnten in der Stadt bleiben, sagte er. Sie könnten zum Base Camp zurückkehren. Oder sie konnten sich einer der anderen Gemeinschaften anschließen, einer der anderen Städte, von denen er ihnen erzählt hatte. Evie hatte ihn gefragt, ob er denn zum Base Camp zurückkehren werde, aber er hatte nicht geantwortet; er hatte nur gelächelt, und sein Gesicht hatte dabei noch faltiger ausgesehen als sonst, und seine blauen Augen hatten geblitzt, als hätte sie einen Witz gemacht, nur dass Evie den Witz nicht verstand und nicht wusste, was daran so lustig sein sollte.

»Glauben Sie, dass man das Böse überhaupt endgültig aus der Welt schaffen kann?«, hatte sie ihn gefragt. »Ich meine, wenn das mit der Neutaufe tatsächlich funktioniert hätte?«

Linus sah sie an, lächelte zwar noch, doch seine Augen wurden traurig. »Ich bin mir nicht sicher, ob es das Böse überhaupt gibt«, meinte er gedankenvoll. »Ich glaube, die Menschen sind zu schrecklichen Dingen fähig, wenn man sie dazu zwingt, sie übergeht oder sie wütend macht, wenn sie hoffnungslos, hilflos oder verzweifelt genug sind.«

Dann hatte er ihr direkt in die Augen gesehen. »Aber du, Evie, du bist ganz bestimmt nicht böse. Verstehst du? Egal was man dir gesagt hat: Du. Bist. Nicht. Böse. Und Raffy auch nicht. Das darfst du nicht vergessen. Daran musst du festhalten. Versprichst du mir das?«

Evie hatte genickt und sie hatte ihm glauben wollen, aber ganz sicher war sie sich nicht gewesen. Denn sie spürte noch immer diese Wut in sich, und sie hatte schreckliche Gedanken, die sie nicht unterdrücken konnte – die sie nicht unterdrücken wollte. Aber davon erzählte sie Linus nichts. Sie brachte nur ein leichtes Lächeln zustande, dann ging sie zu Raffy hinüber, weil es Zeit war …

Lucas starrte auf den Monitor mit der Nachricht von Linus, holte tief Atem und versuchte, seine Angst, seine Begeisterung im Zaum zu halten. Es war so weit. Nach dieser langen Zeit war es endlich so weit. Er blickte um sich. Er wusste, dass niemand ihn beobachtete, dass niemand ihn verdächtigte, aber seine Reflexe waren in höchster Alarmbereitschaft. Wie immer. Fast sein ganzes Leben lang. Bald würde er frei sein. Wirklich frei. Das Versprechen, das er seinem Vater gegeben hatte, wäre eingelöst, und er könnte wieder leben.

Sorgfältig schloss er die Nachricht, beendete das Programm und entfernte alle Spuren aus dem System. Dann stand er auf, er schwankte kurz, und seine Beine hätten fast nachgegeben, weil ihn die Bedeutung des Augenblicks mit voller Wucht traf. Aber er gewann seine Haltung und seine Selbstsicherheit schnell wieder. Das war nicht der Moment, um Gefühle an die Oberfläche dringen zu lassen; das würde später kommen. Jetzt musste er sich mit voller Konzentration der Sache widmen. Da war einiges zu tun. Der Schlüssel zum Westtor war bereits sichergestellt. Er hatte Greer, dem Schlüsselhüter, unter dem Vorwand eines Gesprächs über Sicherheitsfragen einen Besuch abgestattet und den Schlüssel ohne Probleme aus dem Haus geschmuggelt. Nun musste er ihn allerdings genau zum richtigen Zeitpunkt zum Tor bringen und er musste sich die Zeit haargenau einteilen. Außerdem musste er Linus und Raffy, Evie und Martha Zugang zu den Regierungsgebäuden verschaffen.

Evie.

Er schüttelte sich. Er war bereit. Alles war bereit.

Er ging zur Tür, warf noch einen Blick zurück und öffnete sie. Seine Gesichtszüge fielen in sich zusammen.

»Lucas«, begrüßte ihn der Bruder. Er stand gleich hinter der Tür, neben ihm Sam, Lucas’ Stellvertreter, um dessen Mundwinkel ein Ausdruck von leisem Triumph spielte. Hinter ihnen hatten sich Leute von der Polizeigarde aufgebaut, die Lucas nicht respektvoll und ehrerbietig begegneten wie gewohnt, sondern die ihn feindselig anstarrten. »Musst du irgendwohin? Ich hatte auf eine kleine Unterredung gehofft.«

Lucas fing Sams Blick auf, doch der sah schnell weg. Und da wusste Lucas Bescheid.

»Könnte ich vorher noch meinen Computer herunterfahren?«, fragte er.

Der Bruder schüttelte den Kopf. »Ich glaube, das wird nicht nötig sein.« Sein Blick verhärtete sich. »Ich glaube, es wäre das Beste, wenn du gleich mitkommst.«

Die Wachen traten vor. Lucas schloss eine Sekunde lang die Augen, gönnte sich nur einen ganz kurzen Augenblick, dann straffte er sich und nickte.

»Natürlich«, sagte er förmlich. Sein Blick wurde eisig. Die Maske, sein ständiger Begleiter, verbarg sein Gesicht wieder. »Was immer du sagst, Bruder.«

Sie marschierten in sengender Hitze. Die Sonne brannte so erbarmungslos auf sie herunter, dass ihre Hüte dem nichts entgegenzusetzen hatten.

»Trinkt«, mahnte Linus alle halbe Stunde. »Trinkt regelmäßig. Wir haben noch einen langen Weg vor uns.«

Nach vier Stunden machten sie Rast – es gab belegte Brote und harte Kekse, die Evie schwer im Magen lagen.

»Wir ruhen uns zwanzig Minuten aus«, erklärte Linus. »Dann müssen wir weiter, sonst schaffen wir es nicht vor Sonnenuntergang bis zur Stadt.«

Raffy und Evie suchten sich etwas Schatten unter einem schütteren Baum und lehnten sich erschöpft an den Stamm. Mehr als einen Tag lang hatten sie kaum miteinander gesprochen, sondern eher nebeneinander hergelebt. Für Evie war das eine Art Buße gewesen, die sie angenommen und fast zu schätzen gelernt hatte. Denn alles war besser, als allein zu sein. Außerdem war sie überzeugt, dass sie es verdient hatte.

»Angst?«, fragte Raffy.

Evie drehte sich neugierig zu ihm hin. Sie hatte alle möglichen Empfindungen, aber Angst? Auf den Gedanken war sie noch nicht gekommen.

»Ich habe keine Angst«, antwortete sie. »Ich bin bloß …« Sie suchte nach dem passenden Wort, doch sie bekam es nicht zu fassen. Es gab kein Wort, das alles enthielt, was sie fühlte – Beklemmung, Erregung, Drang, Wut, Entschlossenheit. Und dann wurde ihr bewusst, dass sie doch Angst hatte. Sie hatte Angst, zu versagen. »Vielleicht ein bisschen«, räumte sie ein.

»Ich auch«, gab Raffy mit leiser Stimme zu.

»Okay«, rief Linus und kam herüber. »Wir müssen wieder los. Bei euch alles okay? Braucht ihr etwas?«

»Alles bestens«, meinte Raffy, stand auf und streckte Evie, so als sei es ihm eben erst eingefallen, ungeschickt die Hand hin.

»Bestens«, pflichtete sie bei, stemmte sich selbst vom Boden hoch und nahm gleichzeitig die angebotene Hilfe an, um Raffy nicht zu verletzen und um das ersehnte Aufglimmen von Wärme zwischen ihnen nicht gleich wieder zu ersticken.

»Gut«, meinte Linus. »Wir halten nicht mehr, bis wir vor der Stadt mit Angel und den Versehrten zusammentreffen.«

Lucas wurde aus dem Systemgebäude und über einen Verbindungsgang, der eigens für Verräter und Häftlinge eingerichtet worden war, zum Krankenhaus geführt.

»Könnte mir jemand sagen, was hier vor sich geht?«, fragte er schließlich, als man ihn in einem Raum auf einen Stuhl gesetzt und mit den Händen auf dem Rücken angekettet hatte.

»Was hier vor sich geht? Oh, Lucas. Ich glaube, du weißt sehr wohl, was hier vor sich geht. Deine Pläne sind vereitelt. Das geht hier vor. Du bist aufgeflogen, du Verräter. Die ganzen Jahre über habe ich mich auf dich verlassen, habe dir vertraut, und die ganze Zeit hast du geplant, mich zu verraten. Nun, du bist nicht der Einzige, der ein falsches Spiel spielen kann. Auch ich kann spionieren, beobachten und überwachen. Ich bin sogar ziemlich gut darin, wie dir hätte klar sein sollen, bevor du dich mit mir angelegt hast. Das ist es, was hier vor sich geht. Morgen wirst du zum K erklärt. Der Rangwechsel wird gerade vollzogen. Und wenn deine Freunde hier auftauchen, dann wird eine Armee von Polizeikräften sie empfangen und bis auf den letzten Mann vernichten, bevor sie auch nur einen Fuß in die Stadt setzen. Es tut mir außerordentlich leid, Lucas, dass du das Böse in dich eingelassen hast. Und es tut mir leid, dass es so weit gekommen ist. Deswegen wollen wir dir die Neutaufe gewähren, denn jeder verdient eine zweite Chance, Lucas. Sogar du.«

»Die Neutaufe?« Lucas starrte ihn erschrocken an. »Aber wenn ich ein K bin, dann solltest du …«

»Dich aussetzen und von den Bösen zerfleischen lassen? Oh, Lucas, da bist du wieder mal irgendwelchem Klatsch aufgesessen.« Der Bruder lächelte und trieb sein Spiel mit ihm. »Jeder weiß doch, dass Ks neukonditioniert werden. Wir sind schließlich eine barmherzige Gemeinschaft. Wir schützen unsere Schäfchen. Außerdem bist du viel zu sehr durchsetzt vom Bösen. Einen solchen Grad an Bösem kann ich nicht dulden, nicht einmal außerhalb unserer Mauern.«

Lucas zerrte an den Ketten. »Das kannst du nicht tun«, rief er. »Sam! Tu etwas! Du kennst mich doch. Du weißt, dass ich nicht böse bin. Hilf mir. Hol mich hier raus.«

Sam sah ihm nicht in die Augen. Stattdessen ging er zur Tür. Er glaubte dem Bruder, das wurde Lucas mit einem Schlag klar. Er glaubte, dass Lucas böse war, dass Ks neukonditioniert wurden, dass alle die Neutaufe erhielten – er glaubte alles, was man ihm gesagt hatte. Genau wie Lucas, bevor sein Vater ihm die Wahrheit erzählt hatte. »Soll ich die Polizeigarde informieren?«, fragte Sam den Bruder.

»Ja, es bleibt bei Sonnenuntergang«, sagte der Bruder. »So habt ihr es doch in eurer letzten Botschaft vereinbart, nicht wahr?« Er lächelte Lucas an.

Lucas schloss die Augen.

»Also bei Sonnenuntergang«, sagte Sam und verließ den Raum.

»Nun, ich würde zwar gern noch bleiben und etwas plaudern, aber ich habe noch ein paar Dinge zu erledigen«, erklärte der Bruder. »Wachen, behaltet ihn hier. Lasst ihn nicht aus den Augen, verstanden? Dieser Mann ist sehr gefährlich und sehr böse. Hört nicht auf das, was er sagt, denn er wird alles daransetzen, um auch euch zu verderben.«

Die Wachen nickten.

»Leb wohl, Lucas«, sagte der Bruder und rauschte zur Tür. »Leb wohl.«

»Okay. Wir warten hier.« Es wurde gerade dunkel. Die kühle Luft strich leicht über Evies Nacken, doch als sie haltmachten, stellten sich die feinen Härchen dort auf. Keiner redete; es gab nichts zu sagen. Jeder bündelte seine Aufmerksamkeit, konzentrierte sich. Linus ging unruhig auf und ab und machte die anderen damit nervös – als ob die Anspannung nicht schon groß genug gewesen wäre. Dann hörten sie es. Das Knirschen von Rädern im Staub. Ein Geräusch, das man selten hörte und das Evie und Raffy auch nicht recht einordnen konnten. Das Geräusch wurde immer lauter, je näher die Räder heranrollten, ein tiefes Summen, das irgendwie höher wurde, als es näher kam. Dann tauchte der Lastwagen vor ihnen auf, erhob sich riesig am Horizont. Doch als er dichter bei ihnen war, ertönte ein anderes Geräusch; ein Geräusch, bei dem alle aufhorchten, sich gegenseitig ansahen und dann schnell wegschauten. Ein Jammern, ein Weinen, wütendes Grunzen, Geräusche, die sofort zu erkennen waren und die bei Evie Entsetzen und Abscheu hervorriefen, dann Scham über ihre Reaktion auf ihre eigenen Leute, deren Leben durch die Grausamkeit der Stadt unwiederbringlich zerstört worden war.

Der Lastwagen hielt wenige Meter vor ihnen an; er war riesig, größer als alles, was Evie je auf Rädern, was sie je in Bewegung gesehen hatte. So groß wie ein Haus, dachte sie, oder zumindest so groß wie ein Zelt in Base Camp. Dann öffneten sich die Türen, Angel stieg aus und das Heulen, das Grunzen und das Stöhnen schwollen zu fast unerträglicher Lautstärke an. Die Gesichter der Versehrten waren durch die Scheiben deutlich zu erkennen. Evies Augen füllten sich mit Tränen. Sie konnte nichts dagegen tun. Linus kam zu ihr. »Sie sind nicht mehr die, die sie vorher waren«, sagte er mit sanfter Stimme, so leise, dass niemand sonst es hören konnte. »Das darfst du nicht vergessen. Und wenn sie noch die wären die sie früher waren, dann würden sie mit uns kämpfen bis zum Ende.«

Evie nickte und spürte, wie Raffys Hand sich um die ihre schloss. Sie erwiderte den Druck, so fest sie konnte, und hoffte, ihm mit dieser einen Geste alles, alles sagen zu können, aber dann ließ er wieder los, und alles war wieder kalt. Sie wollte die Versehrten nicht ansehen, aber sie konnte nicht anders. Sie musste sie sehen, jeden von ihnen, mit den starren Augen, den zuckenden Körpern, dem markerschütternden Schreien und Stöhnen. Die Bösen. Die Gefürchteten. Doch sie schienen sich selbst mehr zu fürchten, als Evie es je bei irgendjemandem erlebt hatte. Mehr als Raffys Vater an dem Tag, als er abgeholt wurde. Sie beobachtete sie, doch sie wandte sich ab, als Linus das Signal zum Losmarschieren gab. Aber auch während sie ging, sah sie noch immer das Bild vor ihrem geistigen Auge. Sah noch immer die Menschen, die sie zur Stadt getragen hatten in dem Glauben, dass sie dort eine zweite Chance bekamen. Die Menschen, die an den Großen Anführer geglaubt hatten, die sich dargeboten hatten wie Opferlämmer. Sie waren die wahren Killables. Sie waren Ausschuss gewesen. Einmal benutzt, dann immer wieder, um dem Bruder und dem Großen Anführer für deren abscheuliche Zwecke zu dienen.

Und nun wurden sie ein weiteres Mal benutzt. Für Evies Zwecke. Und für die von Linus.

»Alles in Ordnung?«, fragte Raffy besorgt. Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht«, erwiderte sie, und abermals stiegen ihr die Tränen in die Augen. »Ich kann die Versehrten nicht in den Tod gehen lassen.«

»In den Tod?«, fragte Linus leicht bestürzt.

»Sie sind Lockvögel. Die Polizeigarde wird sie töten, das weißt du genau.«

»Davon weiß ich nichts«, entgegnete Linus, und sein Gesicht war plötzlich sehr ernst. »Glaubst du, ich würde zulassen, dass die Polizeigarde Hand an sie legt? Nein, Evie. Sie haben genug gelitten. Sie werden nur ein bisschen Verwirrung stiften und sich schadlos halten für das, was sie durchgemacht haben. So wie wir alle.«

»Wirklich?«

»Vertrau mir, Evie«, sagte Linus und zwinkerte ihr zu. Er wartete, bis sie nickte. Dann drehte er sich um und rief: »Okay, wir gehen weiter.«


Загрузка...