10.

Es war reiner Zufall, daß sie diese Höhle gefunden hatten. Vom See her war der Eingang beinahe unsichtbar; nicht mehr als ein länglicher, gezackter Schatten, eine Kerbe im Eis, vielleicht vom Wind oder einer Laune der Natur geschaffen. Als der Dronte das Feuer auf den See eröffnet hatte, waren Gowenna, Vela und die Männer, die sie begleitet hatten, in panischer Furcht den Eishang hinauf gelaufen; auf der Suche nach einer Spalte oder einem Eisüberhang, irgend etwas, das sie vor den Geschossen des Dronte, die wie brennende Sterne vom Himmel regneten und das Eis zum Verdampfen und den See zum Kochen brachten, schützen konnte. Sie hatten die Höhle gefunden; keinen Fluchtweg, aber eine natürliche Festung, in der sie selbst vor der Gewalt seines Höllenfeuers sicher sein würden.

Skar senkte den Kopf, um nicht gegen die niedrige Kante zu stoßen. Der Eingang war nicht mehr als ein schmaler Spalt, kaum mannshoch und so eng, daß er seitwärts gehen mußte, um überhaupt hindurchzukommen. Von der Decke hingen spitze, glitzernde Eisdolche, und der Boden war mit einem Netzwerk von Sprüngen und Rissen durchzogen, wo das Eis - selbst hier oben noch - unter dem Angriff des Dronte geborsten war. Die Hitze seiner Brandgeschosse allein hätte nicht ausgereicht, eine solche Verheerung anzurichten. Trotz allem war der Dronte nicht mehr als ein Zwerg gegen die gigantische weiße Pracht der Eislandschaft, und die Wunden, die er ihr zufügen konnte, waren nicht viel mehr als Nadelstiche. Aber die Hitze hatte das Eis zum Schmelzen gebracht und das vielleicht in Jahrmillionen gewachsene Gleichgewicht des weißen Giganten gestört. Das Eis war geborsten; in gewaltige, tonnenschwere Blöcke zerfallen, die durch ihr eigenes Gewicht aufeinander liegenblieben. Und der Feuerorkan, mit dem der Dronte den See überzog, hatte selbst hier oben seine Spuren hinterlassen; das Eis wirkte milchig und war von großen, nebeligen Schleiern durchzogen, und die Decke war auf der ganzen Länge des Ganges gerissen und hielt nur noch durch den Druck ihres eigenen Gewichtes. Skar betrachtete den Riß mit gemischten Gefühlen. Das Eis über seinem Kopf war mehr als zehn Meter stark; eine Decke, massiver als die zyklopischen Mauern Elays. Und trotzdem hatte bereits ein flüchtiger Hauch der Brandgeschosse des Dronte gereicht, sie reißen zu lassen. Er war plötzlich gar nicht mehr so überzeugt, daß sie hier oben wirklich sicher waren, wenn der schwarze Mörder zu neuem Leben erwachte und das Feuer auf den Berg eröffnete. Aber es war das beste, was sie hatten. Oben auf dem Eis waren sie vollkommen schutzlos. Er seufzte, fuhr mit den Fingerspitzen über das Eis der Wand, als könne er so seine Festigkeit prüfen, und ging schließlich weiter.

»Wartet hier, Herr«, sagte der Matrose, der ihn heraufgeführt hatte. Helth selbst war unten auf dem Schiff zurückgeblieben, um die Entladearbeiten weiter zu beaufsichtigen. Skar war froh, daß der Vede ihm wenigstens auf diese Weise half. Gowennas Worte waren ihm schmerzhaft zu Bewußtsein gekommen, als er die bis unter die Decke vollgestopften Laderäume sah. Sie hatte vollkommen recht - er war so lange Kommandant der SHAROKAAN und dieser Männer, wie Helth es zuließ. Der Vede hatte es nicht einmal nötig, sich ihm offen zu widersetzen. Es hätte vollends gereicht, wenn er ihm seine Hilfe versagt hätte. Skar war kein Seemann, und die wenigen Tage auf dem Schiff hatten ihm schmerzhaft vor Augen geführt, wie wenig er von der Seefahrt und der Führung eines Schiffes verstand. Ohne eine helfende Hand an seiner Seite war er verloren.

Er nickte wortlos und blieb unter dem Eingang stehen, während der Freisegler weiterging, um den Navigator zu suchen.

Das Innere der Höhle war vom tanzenden Licht brennender Fackeln erhellt. Es war merklich wärmer als draußen auf dem Strand, und dort, wo Fackeln und Kohlebecken aufgestellt waren, begann das Eis bereits zu schmelzen und sich in kleinen, schimmernden Rinnsalen zu sammeln. Der Boden der Eishöhle fiel zur Mitte leicht ab, und Skar sah, daß sich an der tiefsten Stelle bereits ein kleiner See aus Schmelzwasser angesammelt hatte. Sein Wasser begann wieder zu gefrieren und zu blattdünnen Schwestern der mächtigen weißen Schollen draußen auf dem See zu erstarren, aber es floß rascher nach, als es gefrieren konnte, und die dünne weiße Haut riß immer wieder auf. Wenn das Eis weiter im gleichen Maße schmolz, dann würden sie bald bis zu den Knöcheln im Wasser stehen. Aber sie brauchten die Wärme, wenn sie auch nur die erste Nacht überstehen wollten.

Skar verschob auch die Lösung dieses Problems - wie so vieler anderer - auf später. Er trat vom Eingang zurück, um einer weiteren Gruppe Matrosen, die schwerbeladen und zitternd vor Kälte hinter ihm durch den Eingang drängten, Platz zu machen, lehnte sich mit verschränkten Armen gegen das Eis und sah sich neugierig um. Er war zum ersten Mal hier oben, und die Höhle war größer, als er erwartet hatte - ein mächtiger gewölbter Dom, dessen Decke von gigantischen Stalagmiten aus Eis wie von bizarren Stützpfeilern getragen wurde. Trotzdem herrschte eine bedrückende Enge. An die dreißig Männer drängten sich auf dem schimmernden Eis, errichteten provisorische Lagerstellen oder waren damit beschäftigt, in dem Durcheinander von Fässern, Kisten und Bündeln wenigstens den Anschein von Ordnung zu schaffen. Und fast die gleiche Anzahl von Männern war noch draußen auf dem Schiff. Es würde sehr eng werden, wenn sie die gesamte Mannschaft hierher evakuieren mußten. Obwohl die Höhle groß war, drängten sich die Männer auf einem relativ kleinen Teil des Innenraumes zusammen; wie eine Herde verängstigter Tiere, die sich schutzsuchend aneinanderschmiegte.

Er entdeckte Dels hochgewachsene, in schwarzes Horn gepanzerte Gestalt im Hintergrund der Höhle, löste sich mit einem Stirnrunzeln von seinem Platz und ging auf ihn zu, so rasch es das Gedränge zuließ. »Was tust du hier oben?« begann er übergangslos. »Ich dachte, du wärest noch unten auf dem Schiff.«

Del sah von dem Bündel auf, mit dem er beschäftigt gewesen war, schüttelte den Kopf und grinste. »Wie du siehst, bin ich es nicht mehr.«

Skar setzte zu einer wütenden Antwort an, riß sich aber im letzten Moment zusammen und schluckte seinen Ärger hinunter. Er war gereizt, und es hatte wenig Sinn, wenn er sich jetzt zu allem Überfluß auch noch mit Del stritt.

»Vela?«

Del deutete mit einer Kopfbewegung auf eine zusammengekauerte, in graues Tuch gekleidete Gestalt ein Stück hinter sich und stand auf. Sein Gesicht wurde übergangslos ernst. »Ich hatte meine Gründe, schon jetzt hier heraufzukommen, Skar«, sagte er. »Und es ist gut, daß du da bist. Ich hätte dich so oder so rufen lassen. Ich muß mit dir reden.«

Skar deutete auf die Errish. Sie schien zu schlafen. Ihre linke Hand lag in einer unbewußten beschützenden Geste auf ihrem Leib, die andere hatte sich in einen Zipfel ihres Gewandes gekrallt. Ihre Lippen bebten. Wenn sie schlief, dann war es kein guter Schlaf. »Ihretwegen?« Del nickte. »Auch. Du weißt, daß Gowenna ihr etwas ins Essen mischt.«

Skar nickte. Es war kein Geheimnis - die Ehrwürdige Mutter von Elay selbst hatte Gowenna den Beutel mit dem weißen Pulver gegeben, das sie ihr unter die Mahlzeiten mischte; eine Droge, die sie ruhig und ungefährlich halten würde, bis sie am Ziel ihrer Reise angekommen waren. »Und?«

»Du solltest es ihr verbieten«, sagte Del. »Sag ihr, daß sie damit aufhören soll.«

»Ich kann ihr nichts verbieten«, sagte Skar mit einem entschiedenen Kopfschütteln, »das weißt du. Vela ist ihre Gefangene. Wir sind nur als bessere Leibwächter hier.«

Del stieß ein ungeduldiges Knurren aus. »Unsinn«, sagte er. »Rayan hat dir das Kommando über Schiff und Mannschaft gegeben. Wenn du es ihr befiehlst, dann muß sie gehorchen.«

»Vielleicht«, sagte Skar. »Vielleicht würde sie es tun, wenn ich es befehlen würde. Aber warum?«

»Warum?« Del schürzte wütend die Lippen. »Sieh sie dir doch an, Skar. Niemand hat eine solche Behandlung verdient.«

»Sie -«

»Ich weiß, was sie getan hat«, fiel ihm Del wütend ins Wort. »Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr. Kein Mensch sollte so behandelt werden, wie Gowenna es mit ihr tut, ganz gleich, was er verbrochen hat. Ich habe nichts gegen Bestrafung, aber das ist Quälerei. Es ist unwürdig.«

Skar sah alarmiert auf. In Dels Stimme war plötzlich ein neuer, fremder Klang, etwas, das ihn gleichermaßen erschreckte wie überraschte. War es wirklich nur normales menschliches Mitgefühl, was er in Dels Stimme hörte? dachte er erschrocken. Oder war es mehr? Ließ der Zauber der Sumpfleute nach?

»Und ich glaube, es schadet dem Kind«, fügte Del nach sekundenlangem Schweigen hinzu.

Skar ging wortlos an dem jungen Satai vorbei, kniete neben Vela nieder und blickte ihr ins Gesicht. Sie schlief nicht, das sah er jetzt, sondern war bei Bewußtsein - oder das, was in ihrem Zustand dem des Wachseins nahe kommen mochte. Trotz der Kälte war ihre Stirn mit einem Netz feiner, glitzernder Schweißperlen bedeckt. Zögernd streckte er die Hand aus und berührte ihre Wange. Ihre Haut fühlte sich trocken und fiebrig an.

Vela zuckte unter seiner Berührung zusammen und öffnete die Augen. Aber ihr Blick war leer; die Pupillen verschleiert und matt, beinahe gebrochen, als blicke er in die Augen einer Toten. Skar erschrak. »Du hast recht«, murmelte er. »Ich werde ihr sagen, daß sie die Droge wegläßt.«

Del schüttelte den Kopf. »Das ist es nicht allein«, sagte er. »Sieh sie dir doch an, Skar. Sie braucht einen Arzt. Haben wir einen Heilkundigen an Bord?«

Skar lächelte humorlos. »Ja«, sagte er. »Gowenna. Und sie selbst.« Del ließ sich neben ihm in die Hocke sinken, legte die Hand unter Velas Kinn und hob ihren Kopf an. Ihre Lippen zuckten stärker, aber sie gab keinen Laut von sich. Ein rascher, krampfartiger Schauer lief durch ihren Körper. »Sie wird das Kind verlieren, wenn wir hier nicht schnellstens wegkommen«, murmelte er.

Vielleicht wäre es das beste so, dachte Skar. Aber laut sagte er nur: »Ich weiß.«

Zwischen Dels Brauen entstand eine tiefe Falte. »Ich weiß?« wiederholte er. »Und das ist alles?«

»Ich kann es nicht ändern«, antwortete Skar scharf. Seine Unsicherheit schlug urplötzlich in Zorn um. »Vielleicht gehst du hinunter und bittest den Dronte, uns freies Geleit zu gewähren. Er macht es sicher, wenn du ihm erzählst, daß wir eine Schwangere an Bord haben.« Zu seiner eigenen Überraschung blieb Del ruhig. »Es ist immerhin dein Kind, Skar«, sagte er.

Skar stand auf und drehte sich mit einer abrupten Bewegung um. »Dein Kind!« sagte er wütend. »Jetzt fang nicht bitte auch noch damit an. Mein Kind, mein Kind - ich kann es nicht mehr hören, Del. Ihr macht es euch alle ein bißchen sehr einfach, nicht? Dein Kind!« Wieso sollte er verantwortlich für dieses Kind sein, nur weil er zufällig der Vater war? Es war nicht sein Kind. Er hatte es nicht gewollt und hätte im Gegenteil mit aller Macht verhindert, daß es jemals gezeugt wurde, wäre er dazu in der Lage gewesen. Nein, dieses Kind war nicht von ihm. Wenn es überhaupt jemandes Kind war, dann das seines Dunklen Bruders.

Del sog scharf die Luft ein, schwieg aber seltsamerweise. In seinen Augen glomm ein Ausdruck auf, der Skar beinahe erschreckte. Kein Zorn - das hätte er verstanden. Furcht? War es jetzt soweit, daß selbst Del Angst vor ihm hatte?

»Ich werde nach Gowenna schicken«, fuhr er fort, ehe Del Gelegenheit hatte, auf seinen plötzlichen Ausbruch zu reagieren. »Ich rede mit ihr. Sie wird sich um sie kümmern.«

Del lachte leise. »O ja«, sagte er spöttisch. »Davon bin ich überzeugt. So, wie sie sich bisher um sie gekümmert hat.« Plötzlich bebte seine Stimme vor Zorn. »Begreifst du eigentlich nicht, was sie tut, Skar? Es geht mich nichts an, was zwischen dir und Vela war, und ich werde bestimmt nicht auch noch anfangen, dir Vorwürfe zu machen, wenn du solche Angst davor hast. Aber was Gowenna mit ihr macht, geht zu weit. Wenn dir dieses Kind schon egal ist, dann denke wenigstens an den Eid, den du geschworen hast - daß du Leben schützen und Unrecht verhindern wirst, selbst wenn es dein eigenes Leben kostet, Skar. Gowenna bringt sie um, ganz langsam und ohne daß wir es bisher gemerkt haben. Wenn du sie weiter gewähren läßt, dann wirst du einen leeren Körper zum Berg der Götter bringen.«

»Und was soll ich tun?« fragte Skar bitter. »Gowenna ist die einzige an Bord, die etwas von der Heilkunst versteht. Wir werden ihr vertrauen müssen, ob wir wollen oder nicht. Oder möchtest du vielleicht Hebamme spielen, wenn das Kind kommt?«

Er sprach schnell und eine Spur zu laut, um sich nicht anmerken zu lassen, wie sehr ihn Dels Worte getroffen hatten. Allein den Gedanken, daß Del ihn eines Tages an seinen Satai-Eid erinnern würde, hätte er noch vor wenigen Monaten für lächerlich gehalten. Und das Schlimme war, daß er vollkommen recht hatte.

Del schwieg einen Moment. »Ich stimme dir zu«, murmelte er. »Aber ich werde auf sie achtgeben.«

Skar nickte. Er war es müde, zu streiten. Und irgend etwas sagte ihm, daß sie - ganz egal, was sie auch tun würden - Gowennas Pläne doch nicht durchkreuzen konnten. Es war dieses Gefühl der Hilflosigkeit, das so schmerzte. Gowenna hatte niemals vorgehabt, Vela wirklich lebend zum Berg der Götter zu bringen. Und sie gab sich nicht einmal besondere Mühe, wenigstens so zu tun. Warum begriff Del das nicht? War er so blind, nicht zu sehen, was Gowenna wirklich vorhatte? Aber vielleicht wollte er es auch nur nicht sehen. Vielleicht war er auf seine Weise ebenso müde wie er, Skar. Manchmal vergaß er, daß er nicht der einzige war, der gegen Vela gekämpft hatte, und daß Del an der Niederlage der Errish mindestens ebenso teilhatte wie er. Und vielleicht hatte er den höheren Preis gezahlt.

Er wandte sich um, blieb einen Moment mit geschlossenen Augen stehen und sog hörbar die Luft ein. »Ich werde mit ihr reden«, sagte er noch einmal. »Sobald ich wieder unten auf dem Schiff bin.«

»Tu das«, stimmte Del zu. »Und sag ihr, daß ich von jetzt an doppelt auf Vela achtgeben werde.«

Skar schüttelte den Kopf, bedachte Del mit einem letzten, beinahe traurigen Blick und wandte sich endgültig ab. Ein paar Männer beobachteten ihn. Niemand sah ihn direkt an, nicht, wenn er es bemerken konnte, und die meisten gaben sich alle Mühe, so zu tun, als hätten sie von der kurzen Szene nichts mitbekommen, aber er spürte ihre Blicke mit fast schmerzlicher Deutlichkeit. Del und er hatten zum Schluß laut genug gesprochen, daß beinahe jeder in der Höhle ihre Worte mitbekommen haben mußte. Es war nicht gut, wenn er sich in aller Öffentlichkeit mit Del stritt; nicht für seine Position und nicht für die Moral der Männer. Rayan hatte ihm das Kommando vor allem aus dem Grund gegeben, weil er stark war, und weil sie in einer Lage waren, aus der sie wahrscheinlich auch nur ein starker Mann herausbringen konnte.

Ein Mann, der zum Beispiel stark genug war, den Freiseglern alles zu nehmen, um ihr Leben zu retten, dachte er bitter. Stärke. Was war das schon? Er hatte es so oft gehört, hatte so oft gespürt, wie sehr ihn die anderen um seine Kraft beneideten, und er war so wenigen begegnet, die wirklich wußten, welchen Preis man manchmal für diese Stärke zahlen mußte.

Vielleicht war er diesmal zu hoch, dachte er. Vielleicht würde er diesmal verlieren.

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