20.

Del kam ihm auf halber Strecke entgegen, blieb jedoch im vorderen Teil der Höhle, dicht hinter der gezackten Öffnung, die Skar in die Eiswand gebrochen hatte. Das Eis wuchs jetzt nicht mehr nach; die Wand war wieder eine Wand, nicht mehr, der Zauber erloschen. Wer immer diese verwunschene Insel beherrschte, ging sparsam mit seinen Kräften um.

»Nun?« fragte Skar übergangslos. »Was gibt es?«

Del deutete mit einer Kopfbewegung hinter sich. Die Männer hatten begonnen, ihre Decken und Bündel wieder zusammenzuschnüren und alles für den Weitermarsch vorzubereiten. Ihre Bewegungen waren sehr langsam. »Gowenna«, sagte Del knapp. »Sie spricht. Und ich dachte mir, du solltest hören, was sie sagt.«

Skar wollte an ihm vorbeigehen, aber Del hielt ihn zurück und fügte mit gesenkter Stimme hinzu: »Paß auf Helth auf, Skar. Ich glaube, er führt irgend etwas im Schilde.«

»Was meinst du damit?« fragte Skar ebenso leise. »Hat er irgend etwas gesagt?«

»Er redet ununterbrochen«, antwortete Del. »Aber was er sagt, gefällt mir nicht.« Seine Stimme hatte jenen hellen, gehetzten Flüsterton, den man fast ebensoweit wie ein normal gesprochenes Wort verstehen konnte, und sein übertrieben geheimnisvolles Verhalten erschien Skar sinnlos, beinahe albern. Aber für einen ganz kurzen Moment erinnerte es ihn auch an den Del, den er früher gekannt hatte.

»Dann behalte ihn im Auge.«

Del nickte, ließ seinen Arm los und deutete mit einer Kopfbewegung auf Gowennas Lager, ein flaches Bündel aus Decken und zusammengewickelten Kleidungsstücken im windgeschützten toten Winkel neben dem Eingang. Helth hockte auf Armeslänge neben ihr und starrte ins Leere. Sein Gesicht war ausdruckslos, aber seine Haltung wirkte verkrampft. Skar begriff, weshalb Del so besorgt war. Helth wartete. Er wußte nicht, worauf, aber er wartete.

Skar verscheuchte den Gedanken und ging rasch auf Gowenna zu. Sie hatten sie zugedeckt, so gut es ging, aber sie zitterte trotzdem vor Kälte, und als Skar neben ihr niederkniete und nach ihrer Hand griff, fühlte sich ihre Haut kalt wie Eis an. Skar vermied es absichtlich, Gowenna direkt anzusehen. Sie hatten nicht einmal genug Wasser gehabt, das eingetrocknete Blut vollends aus ihrem Gesicht zu waschen, und die braunrote Kruste war mit dem Narbengewebe auf ihren Zügen zu einer grausigen Maske verschmolzen. Noch vor wenigen Tagen hätte der Anblick Skar nichts ausgemacht. Aber sein Panzer war durchbrochen, endgültig, und er war jetzt verwundbarer als zuvor.

»Kannst du mich verstehen?« fragte er leise. Er hob nun doch den Blick, bemühte sich aber angestrengt, nur ihre unversehrte rechte Gesichtshälfte anzusehen. Natürlich gelang es ihm nicht.

»Wie rührend«, sagte Helth leise. Skar ignorierte ihn.

Gowennas Lippen bebten; zuerst glaubte er, vor Schmerzen, dann wurde ihm klar, daß sie zu sprechen versuchte. Er setzte sich bequemer hin, beugte sich vor und brachte sein Ohr ganz dicht an ihren Mund. Ihr Atem streifte sein Gesicht. Er roch schlecht: heiß, nach Fieber und Krankheit und Schwäche. Skar unterdrückte den Widerwillen, der in ihm aufstieg.

»Vela«, stöhnte Gowenna. »Du mußt... Vela finden, Skar. Sie... Das... das Kind. Es darf... darf nicht...« Ihre Worte wurden unverständlich. Ihre Finger, die gerade noch schwach und eisig wie die einer Toten in Skars Hand gelegen hatten, verkrampften sich plötzlich, so daß die Nägel tief in seine Haut schnitten. Skar setzte sich wieder auf, löste ihre Hand mit sanfter Gewalt aus der seinen und berührte ihre Stirn. Sie hatte Fieber und er konnte selbst durch den Verband hindurch spüren, wie ihr Puls jagte.

»Ich begreife es nicht«, murmelte Del. Es fiel Skar schwer, seinen Blick von Gowennas verschleierten, fiebrigen Augen zu lösen und den Kopf zu heben.

»Die Wunde ist nicht so schlimm, wie es im ersten Moment aussah«, beantwortete Del seine unausgesprochene Frage. »Sie hat viel Blut verloren, aber...« Er schüttelte den Kopf, ließ sich im Schneidersitz auf der anderen Seite des Lagers nieder - wie durch Zufall so, daß er genau zwischen ihr und Helth war, ohne dem Veden dabei allerdings den Rücken zuzukehren - und deutete mit einer Geste auf Gowennas bandagierte Schläfe. »Du kennst sie besser als ich, Skar. Sie hat eine Konstitution wie ein Mann. Der Schlag allein ist nicht schuld an ihrem Zustand.«

Skar sah wieder auf Gowennas Gesicht herab. Ihre Augen waren jetzt weit geöffnet und starrten ihn an. Aber sie sah nicht ihn, sondern irgend etwas anderes. Skar hatte nie einen Ausdruck so tiefer, so abgrundtiefer schrecklicher Furcht im Blick eines Menschen gesehen. »Woher willst du das wissen ?« fragte er halblaut. »Du bist kein Heiler. Der einzige Heiler, den wir hatten, ist sie selbst.«

»Warum hilft sie sich denn nicht selbst?« fragte Helth böse.

Skar sog hörbar die Luft ein. Er sah, wie sich Helth ein ganz kleines bißchen mehr spannte, fing einen warnenden Blick von Del auf und deutete ein Kopfschütteln an. Helth wollte sie provizieren, und nicht das erste Mal.

»Ich habe eine Menge gelernt, während ich bei den Sumpfleuten war«, antwortete Del, als hätte er Helth' Worte nicht gehört. »Nicht soviel wie sie oder Vela, aber genug.« Er schüttelte wieder den Kopf, um seine Worte zu bekräftigen. »Es ist nicht allein die Wunde, Skar. Wäre sie es, dann hätte sie niemals die Kraft gehabt, allein hierher zurückzukommen. Ein Mensch in diesem Zustand kriecht nicht eine Meile über Felsen und Eis.«

»Vielleicht hatte sie Helfer«, giftete Helth. »Zwei sogar.« Del drehte sich nun doch zu ihm um. »Halt endlich den Mund, Helth«, gebot er. »Ich lasse dich rufen, wenn ich deinen Rat brauche.«

»Du wirst sehr laut rufen müssen, Satai«, antwortete Helth gereizt. »Ich werde nämlich bald nicht mehr dasein. Und die Männer auch nicht.«

Del verdrehte in komisch gespielter Verzweiflung die Augen. »Jetzt fang nicht schon wieder an«, sagte er. »Ich dachte, wir hätten über dieses Thema bereits geredet.«

Helth sprang auf und stemmte herausfordernd die Fäuste in die Hüften. »Das haben wir nicht, Satai«, zischte er. »Ich habe euch gesagt, daß ich diesen Wahnsinnsmarsch nicht mitmachen werde, aber die Antwort darauf seid ihr mir bis jetzt schuldig geblieben.«

»Oh, wenn es das ist...« Del lächelte, erhob sich erst auf die Knie, stützte die Hände auf seinen Oberschenkel ab und stemmte sich ganz langsam in die Höhe. Skar konnte direkt sehen, wie er die Bewegung genoß. Als er sich ganz aufgerichtet hatte, überragte er den Veden um mehr als Haupteslänge. »Die Antwort ist nein, Helth«, erklärte er betont. »Keiner von uns wird zurückgehen. Skar nicht, ich nicht, deine Männer nicht, und auch du nicht.«

Gowenna regte sich. Für einen Moment wurde ihr Blick klar, aber der Schrecken, der sich darin spiegelte, war kaum kleiner als der, den das Fieber hineingezwungen hatte. »Skar«, stöhnte sie. »Du mußt... sie finden, bevor das Kind geboren wird. Es darf -«

»Und sie?« fragte Helth so laut, daß Skar unwillkürlich aufsah und sich spannte. »Was ist mit ihr?«

Del zuckte mit den Achseln und wich einen halben Schritt zurück. »Was soll mit ihr sein?« bemerkte er gleichmütig. »Wir nehmen sie mit.«

Helth lachte. Es hörte sich an wie ein Schrei. »Mitnehmen?! Du solltest dieser Hexe die Kehle durchschneiden, nach allem, was sie tat. Sie hat einen meiner Männer getötet, und -«

»Das behauptest du«, unterbrach ihn Skar. »Bisher wissen wir nicht, wer es war.«

Helth drehte mit einem wütenden Ruck den Kopf und starrte zu ihm herab. »Wer soll es sonst gewesen sein?«

Skar ließ behutsam Gowennas Hand los und stand ebenfalls auf. »Warten wir, bis sie wach ist«, schlug er vor. »Vielleicht erfahren wir es dann.«

Helth wurde mit jeder Sekunde nervöser. In seinen Augen erschien ein warnendes Flackern. Ein Blick, den Skar nur zu gut kannte. Er sah, wie sich seine Muskeln unter dem dünnen Zeremonienmantel spannten. »Warten!« keuchte er. »Wo willst du warten? Hier vielleicht? Es kann Tage dauern, bis sie erwacht, und vielleicht geschieht das auch nie. Wie lange willst du in diesem Grab bleiben, Skar - bis sie stark genug ist, aus eigener Kraft zu laufen?« Er lachte schrill. »Sie wird nicht mitkommen. Ich verlange, daß du sie zurückläßt, Satai!«

»Ach«, begehrte Del auf. »Mit welchem Recht, Vede?«

»Mit dem gleichen Recht, mit dem wir ein halbes Dutzend meiner Männer sterbend auf dem Eis zurückgelassen haben«, zischte Helth. »Sie ist nichts Besseres als einer von ihnen - im Gegenteil. Ohne sie wären wir nicht hier.«

»Natürlich nicht«, antwortete Del gleichmütig. »Und wäre Rayan nicht zufällig dein Vater, wärest du uns niemals begegnet - vielleicht wäre das besser gewesen.« Er lächelte, aber es geriet eher wie ein Zähnefletschen, und Helth wich unwillkürlich einen halben Schritt vor ihm zurück. »Ich habe keine Lust, mit dir zu streiten, Helth«, fuhr er fort. »Pack deine Sachen zusammen, oder laß sie meinetwegen hier und erfriere draußen auf dem Eis - aber wir werden gehen. Wir alle.«

»Und wenn ich mich weigere?«

»Das wirst du nicht, Helth«, sagte Del eisig. »Ich habe dich lieber vor mir als im Rücken, weißt du? Du wirst mitkommen.«

Skars Bewegung kam beinahe zu spät. Obwohl er gewußt hatte, was passieren würde, und obwohl er - spätestens seit dem Kampf im Krater - wußte, wie schnell der Vede war, kam Helth' Angriff beinahe zu schnell, als daß er noch darauf reagieren konnte. Der Vede trat mit einem krächzenden Schrei vor, drehte den Oberkörper zur Seite und griff nach seiner Waffe. Die Klinge glitt scharrend aus der metallbesetzten Scheide. Der Stahl blitzte auf; blutrot im flackernden Licht der Pechfackeln, traf er Skars Arm, riß eine dünne Linie aus flammendem Schmerz durch seine Haut und sprang wie eine zustoßende Schlange nach seinem Gesicht, verfehlte es und stach, in der gleichen, fließenden Bewegung, nach Del, machte dessen instinktive Ausweichbewegung mit und züngelte nach seiner Kehle. Del riß im letzten Moment die Arme hoch, fing den Hieb auf und schmetterte Helth' Klinge mit einem wuchtigen Schlag nach unten; hart, aber nicht hart genug. Das Schwert schrammte über seine Brust, zerfetzte sein Hemd und hinterließ einen langen, blutigen Kratzer auf seiner Haut, alles in einer einzigen, unglaublich schnellen Aktion. Helth taumelte, fing sich wieder und wirbelte erneut herum, aber diesmal war er nicht schnell genug. Skar täuschte einen Fußtritt an, ließ sich zur Seite fallen und trat nun wirklich zu. Helth sprang zurück, holte zu einem weiteren Hieb aus und schrie überrascht, als Del von hinten nach seinem Arm griff und ihn verdrehte. Helth' Handgelenk knirschte hörbar. Die Waffe polterte zu Boden. Helth trat nach Dels Knie, traf es und schickte den Satai mit einem blitzschnellen Ellbogenstoß in den Leib zu Boden. »Feiglinge!« keuchte er. Sein Atem ging schwer, als hätten sie stundenlang gerungen. »Zu zweit greift ihr einen Mann an - ist das die Ritterlichkeit, für die die Satai berühmt sind?«

»Ich glaube, du verwechselst hier etwas«, sagte Del. Er war wieder auf die Füße gekommen und einen halben Schritt zur Wand zurückgewichen. Seine Mundwinkel zuckten. Mit der Linken faßte er an die Stelle, wo ihn Helth' Ellbogen getroffen hatte. »Ich habe eher den Eindruck, daß du es bist, der uns angreift. Ich kann mich natürlich täuschen«, fügte er spöttisch hinzu. »Aber wenn es das ist, wovor du Angst hast - bitte.« Er trat weiter zurück, lehnte sich gegen die Wand und verschränkte die Arme vor der Brust.

Helth schien verwirrt. Sein Blick irrte unstet zwischen Skar und Del hin und her; für einen Moment schien er nicht zu wissen, was er tun sollte. Es war Del gewesen, dem der Angriff galt, und er hatte wohl instinktiv damit gerechnet, daß er sich nun auch zum Kampf stellen würde. Dann huschte ein grimmiges Lächeln über seine Züge. »Wie ihr meint«, preßte er hervor. »Ich wollte schon lange wissen, wer nun wirklich besser ist - ein Satai oder ein Vede.«

»Ich nicht«, murmelte Skar. »Es gibt Fragen, die besser unbeantwortet bleiben, Junge.« Aber wenn Helth seine Worte überhaupt hörte, so ignorierte er sie.

Langsam kam der Vede näher, umkreiste Skar zur Hälfte, bis er zwischen ihm und dem Ausgang stand, und spreizte die Beine. Sein Oberkörper beugte sich leicht vor. Die linke Hand lag, zur Faust geballt, auf seinem Hüftgelenk, der rechte Arm war ausgestreckt, die Hand aufwärts gerichtet, die letzten Glieder der Finger und der Daumen eingeknickt. So vollführte er langsame achtförmige Bewegungen vor seinem Körper. Sein Gesicht war angespannt, aber trotzdem ausdruckslos.

Skar blieb stehen, wie er war. Er wußte um die Gefährlichkeit der Kampftechnik, die Helth so offensichtlich beherrschte und noch offensichtlicher zur Schau stellte. Er beherrschte sie ebenfalls - und noch ein paar andere dazu. Aber er hielt nicht viel von Grundstellungen und ausgeklügelten Posen. Sie mochten ihren Zweck haben, aber sie verrieten zuviel von dem, was man vorhatte, und die meisten besaßen ihre Schwächen, die für einen geschickten Gegner einer offenen Einladung gleichkamen. Und er hatte die Erfahrung gemacht, daß durch eine simple Ohrfeige - mit aller Kraft geführt - schon so mancher hochtrainierte Kämpfer aus dem Konzept gebracht worden war.

»Laß es, Helth«, riet er ihm noch einmal. »Keiner von uns sollte seine noch verbliebene Kraft für diesen überflüssigen Kampf vergeuden.«

Helth griff an. Ein kurzer, abgehackter Schrei kam über seine Lippen. Seine rechte Hand stieß vor, täuschte einen geraden Stoß nach Skars Kopf an; gleichzeitig vollführte der Vede eine blitzschnelle halbe Drehung, riß das Knie hoch und versuchte ihn in den Leib zu treten. Skar ignorierte seinen Fauststoß, schlug seinen Fuß zur Seite und trat ihm beinahe gleichzeitig gegen das Knie. Helth taumelte zurück, fand im letzten Augenblick sein Gleichgewicht wieder und wandelte den begonnenen Sturz in einen kraftvollen, aber schlecht gezielten Tritt um. Skar wich ihm mühelos aus.

»Du bist ein wenig zu hastig, Helth«, bemerkte Del. Seine Stimme klang belustigt. »Ich gebe zu, daß du Talent hast, aber du solltest noch ein paar Jahre üben, ehe du dich mit Männern schlägst.«

Helth schrie wutentbrannt auf und sprang mit weit ausgebreiteten Armen vor. Skar tat so, als würde er ausweichen, sprang dem Veden aber im Gegenteil entgegen, drehte sich im letzten Moment zur Seite und schmetterte ihm das Knie ins Gesicht. Helth keuchte. Seine Hände glitten kraftlos an Skars Körper ab. Er fiel, stemmte sich auf Hände und Knie hoch, griff nach seinem Mund und spuckte Blut und Stücke von abgebrochenen Zähnen aus. Seine Unterlippe war aufgeplatzt; Blut lief über sein Kinn. Für einen Moment wurde sein Blick glasig.

»Hör auf, Junge«, mahnte Skar sanft. »Ich will dich nicht verletzen.«

Helth stöhnte. Er stemmte sich hoch, wankte und griff haltsuchend nach der Wand. Aber er fing sich rasch wieder. Er war stärker, als Skar geglaubt hatte. »Dafür töte ich dich, Satai«, keuchte er. Wieder griff er an, und diesesmal änderte er seine Taktik. Rücksichtslos nahm er zwei, drei harte Schläge gegen Kopf und Brust hin, durchbrach Skars Deckung mit seinem ganzen Körpergewicht und rammte ihm die Schulter in die Brust. Skar wankte, und Helth hämmerte ihm den Ellbogen mit aller Gewalt in den Leib. Sein Arm zuckte in der gleichen Bewegung nach oben, die Knöchel seiner Faust krachten hart gegen Skars Wangenknochen und warfen seinen Kopf zurück. Seine andere Hand tastete nach Skars Hoden und versuchte, sie zu zerquetschen. Skar schrie auf, griff blindlings zu und brach Helth mit einem kurzen, harten Ruck zwei Finger. Der Vede heulte in einer Mischung aus Wut und Schmerz auf. Skar umschlang seinen Hals, riß ihn mit einer rücksichtslosen Bewegung auf die Füße und zwang ihn herum. Helth taumelte, verlor das Gleichgewicht und stürzte direkt auf Skars vorgestrecktes Knie. Pfeifend entwich die Luft aus seinen Lungen. Skar riß ihn abermals hoch, versetzte ihm zwei, drei Hiebe mit der flachen Hand ins Gesicht und legte von hinten den Arm um seinen Hals, als der Vede von der Wucht der Schläge herumgewirbelt wurde. Mit aller Gewalt schnürte er ihm die Luft ab, drückte aber nicht so fest zu, um ihm den Kehlkopf zu zerquetschen. Er wollte ihn nicht umbringen. Helth strampelte, riß verzweifelt die Arme hoch und tastete nach Skars Gesicht. Seine Finger fanden seine Augen und drückten zu. Gleichzeitig ließ er sich nach vorne kippen und griff mit der anderen Hand nach Skars Schulter. Skar keuchte, ließ Helth' Hals los und stieß sich ab, als der Vede ihn über die Schulter nach vorne warf. Er flog fast dreimal so weit, wie Helth erwartet hatte, durch die Luft, rollte sich über die Schulter ab und kam mit einem wütenden Kampfschrei wieder auf die Füße. Sein Gesicht brannte. Er konnte nur noch undeutlich sehen, und seine Augen schmerzten, als wären sie mit glühenden Kohlen in Berührung gekommen. Wie durch einen wogenden Schleier sah er Helth auf sich zutaumeln, fing seinen Faustschlag mit dem Unterarm ab und schlug zurück. Er spürte, wie er traf, und er spürte, wie hart er getroffen hatte. Helth stieß ein würgendes Keuchen aus, taumelte fünf, sechs Schritte zurück und brach in einer grotesk langsamen Bewegung in die Knie.

Skar blieb einen Moment stehen, fuhr sich mit dem Handrücken über die Augen. Die roten Nebelschleier lichteten sich allmählich, und im gleichen Maße, in dem der irrsinnige Schmerz nachließ, verebbte auch die rasende Wut in ihm. Er durfte sich nicht hinreißen lassen. Unbeherrschtheit und Wut waren der erste Schritt zur Niederlage. Wäre Helth auch nur eine Winzigkeit besser, als er war, hätte ihm diese Sekunde blinden Zornes das Leben kosten können.

Langsam ging er auf den Veden zu. Helth stemmte sich mühsam hoch, hob die Hände und ballte sie zu Fäusten, aber es war keine Kraft mehr in der Bewegung. Er atmete nicht. Skar hatte blind zugeschlagen, aber wozu sein Verstand nicht mehr in der Lage gewesen war, hatten das seine Reflexe getan - sein Hieb hatte die empfindlichste Stelle unter dem Brustbein des Veden mit tödlicher Präzision getroffen und sein Atemzentrum gelähmt. Hätte Helth kein Kettenhemd getragen, wäre er jetzt tot. Gegen seinen Willen mußte Skar den jungen Veden beinahe bewundern.

Helth hob die Hände ein wenig höher. Er atmete immer noch nicht. »Gib auf, Junge«, riet Del sanft. »Ehe du ihn wirklich wütend machst.«

Helth taumelte. Seine Lippen zitterten. Er wankte, fing sich mit einer Kraft, die er eigentlich gar nicht mehr haben dürfte, noch einmal und machte einen Schritt auf Skar zu. Seine Faust schlug in einer geradezu lächerlich langsamen Bewegung nach Skars Gesicht. Skar packte sein Handgelenk, verdrehte es und versetzte ihm eine schallende Ohrfeige; gleichzeitig ließ er seinen Arm los. Helth taumelte zurück, fiel abermals auf die Knie und krümmte sich. Ein einzelner, schmerzerfüllter Atemzug schüttelte seinen Körper. Er krümmte sich weiter, übergab sich würgend und mehrmals hintereinander und rang qualvoll nach Luft. Skar riß ihn vom Boden hoch, schlug ihm noch einmal die flache Hand ins Gesicht und warf ihn gegen die Wand. Helth versuchte ungeschickt, seinen Sturz aufzufangen, schlug mit dem Kopf gegen einen Felszacken und sackte lautlos zu Boden.

»Packt... sie«, würgte er hervor. »Packt sie und... bringt sie um.« Es dauerte einen Moment, bis Skar begriff, was Helth' Worte bedeuteten. Aber selbst dann weigerte er sich, es zu glauben.

Del spannte sich. Seine Hand glitt zum Schwertgriff und zog die Waffe ein Stück weit aus dem Gürtel.

»Packt sie!« keuchte Helth noch einmal. Das Sprechen mußte ihm Schmerzen bereiten; sein Gesicht zuckte, und aus seinem Mund lief noch immer Blut. Aber er sprach laut genug, daß seine Worte selbst im hintersten Winkel der Höhle noch deutlich hörbar waren.

Skar drehte sich rasch, aber ohne Hast um. Die Freisegler waren herangekommen und hatten einen weiten, halboffenen Kreis um ihn, Del und den Veden gebildet. Keiner von ihnen hob auch nur einen Finger, um Helth' Befehl zu befolgen. Auf ihren Gesichtern war das gleiche Gefühl zu lesen, das auch in Skar emporstieg - Unglauben, Staunen; vielleicht Verwirrung und Furcht.

»Ihr sollt sie töten!« keuchte Helth. Er bäumte sich auf, suchte mit den Händen nach Halt an der Wand und sank mit einem schmerzerfüllten Wimmern zurück.

»Bemühe dich nicht«, sagte Skar leise. Seine Stimme zitterte, und er begann erst jetzt wirklich zu spüren, wie sehr ihn der kurze Kampf erschöpft hatte. Helth war ein härterer Gegner gewesen, als er geglaubt hatte. »Sie werden dir nicht gehorchen.«

Helth' Blick irrte unstet umher. Noch einmal versuchte er auf die Füße zu kommen, und diesmal gelang es ihm, sich in eine halbwegs sitzende Position hochzustemmen. Seine Augen waren geweitet. Irgend etwas flackerte darin, etwas, das Wahnsinn sein konnte, aber auch etwas anderes und Schlimmeres. »Warum... gehorcht ihr nicht?« würgte er stockend hervor. »Tötet sie beide! Ich befehle es!«

»Wenn du noch einen einzigen Laut von dir gibst, Helth«, drohte Del leise, »dann verspreche ich dir, daß ich dich windelweich schlage - vor deinen Männern.«

»Nicht«, sagte Skar. »Laß ihn, Del.« Er schüttelte den Kopf, blickte über die Reihe der stumm dastehenden Männer und, wieder an Helth gewandt, fuhr er ruhig fort: »Sie werden dir nicht folgen, Helth. Jetzt nicht mehr. Sie hätten es vielleicht getan, bevor du mich herausgefordert hast, aber jetzt werden sie es nicht mehr tun. Gib auf.«

Helth keuchte. Mit letzter Kraft stemmte er sich hoch, taumelte an Skar vorbei und packte den am nächsten stehenden Freisegler bei den Armen. »Ihr sollt gehorchen!« brüllte er. »Ich befehle es euch! Ich bin euer Kommandant! Der Erbe Rayans.«

»Nein«, widersprach ihm Del hart. »Das warst du vielleicht, Helth. Wenn du überhaupt ein Erbe hattest, dann hast du es gerade verspielt.«

Helth stöhnte. Seine letzte Kraft schwand. Plötzlich mußte er sich an den Schultern des Mannes, den er gerade noch geschüttelt hatte, festhalten. Er zitterte. Ein rascher, schmerzhafter Krampf durchfuhr seinen Körper. Der Matrose verzog angewidert das Gesicht, streifte seine Hände ab und machte einen Schritt zurück. Helth sank mit einem kraftlosen Wimmern auf die Knie.

»Gib auf, Helth«, forderte ihn Del nochmals auf. »Sie folgen keinem Wahnsinnigen.« Skar sah ihn warnend an, aber Del hatte ohnehin gesagt, was er hatte sagen wollen. Mit einem letzten, abfälligen Schnauben wandte er sich um und ging zu Gowennas Lager zurück. Auch die Freisegler begannen einer nach dem anderen, sich wieder ihren Schlafstellen zuzuwenden, nicht, weil es dort noch etwas für sie zu tun gab, sondern einzig, um Helth den Rücken zuzukehren. Der Kreis, den sie um den Kampfplatz gebildet hatten, brach auf. Helth blieb allein zurück, und wider besseres Wissen ließ sich Skar neben ihm auf ein Knie nieder und versuchte, ihm ins Gesicht zu sehen. Helth drehte den Kopf zur Seite.

»Du hast verloren, Junge«, sagte er sanft. »Aber auch ich habe nicht alle meine Gegner bezwungen. Es ist keine Schande, einen guten Kampf zu verlieren. Und du hast gut gekämpft.«

Seine Worte waren sinnlos. Er spürte es. Aber er war sie viel mehr sich selbst als dem Veden schuldig gewesen. Sein Sieg erfüllte ihn nicht mit Befriedigung oder gar Triumph. Helth hatte keine faire Chance gehabt. Nicht gegen ihn und nicht in der psychischen Verfassung, in der er gewesen war.

Er stand auf, berührte Helth an der Schulter und streckte ihm die Hand entgegen.

Der Schlag kam so überraschend, daß er erst begriff, was überhaupt geschehen war, als er auf dem Rücken lag und sein Kopf hart gegen den felsigen Boden schlug.

Helth kam mit einem Schrei, der kaum mehr menschlich klang, auf die Füße, sprang mit einem verzweifelten Satz über Skar hinweg und griff nach dem Schwert, das ihm Del entwunden hatte. Seine Finger schlossen sich um den lederbezogenen Griff der Waffe. Er rollte herum, taumelte auf die Füße und schlug blind nach Del, der ebenfalls aufgesprungen war und einen Schritt auf ihn zugemacht hatte. Die Klinge verfehlte sein Gesicht um Millimeter und riß einen dreieckigen Stoffetzen aus seinem Cape. Del prallte zurück, verlor auf dem spiegelglatten Boden das Gleichgewicht und fiel. Helth war mit einem gellenden Schrei über ihm, trat ihm mit aller Gewalt ins Gesicht und fuhr herum, als einer der Matrosen von hinten nach seinem Arm griff. Sein Schwert vollführte eine irrsinnig schnelle Kreisbewegung. Der Freisegler wankte zurück, griff mit beiden Händen nach seiner durchschnittenen Kehle und brach zusammen. Helth stieß wieder diesen unmenschlichen Wahnsinnsschrei aus, fuhr abermals herum und hetzte zum Ausgang.

Als Skar auf die Füße kam, hatte er bereits die Hälfte des niedrigen Felstunnels hinter sich gebracht und kroch hastig weiter.

Zwei Männer aus der Mannschaft zogen ihre Waffen und wollten ihm folgen. Skar hielt sie mit einer hastigen Geste zurück. »Er würde euch töten«, sagte er. Einer der Männer nickte; der andere machte einen weiteren Schritt hinter dem Veden her und blieb dann ebenfalls stehen.

Skar kniete neben dem gestürzten Matrosen nieder, aber er sah gleich, daß er ihm nicht mehr helfen konnte. Der Mann war bereits tot. Helth' Hieb hatte seine Kehle durchschnitten, so sauber, als hätte es ein geschickter Arzt mit einem Skalpell getan. Und der Schnitt war tief; sehr tief. Kopfschüttelnd stand er auf, ging zu Del und half ihm auf die Beine.

»Alles in Ordnung?« fragte er.

Del schüttelte den Kopf und nuschelte etwas, das sich wie ›ja‹ anhörte. Seine Unterlippe war geschwollen, und sein Gesicht begann sich da, wo ihn Helth' Fuß getroffen hatte, zu röten. »Immer auf den Kopf«, murrte er. »Als ob es keine anderen Stellen gäbe, wo man hinschlagen kann.«

Skar unterdrückte ein Grinsen, wurde aber sofort wieder ernst. »Laß mich dein Gesicht ansehen«, bat er.

Del drehte den Kopf weg und schlug seine Hand beiseite. »Sieh dich lieber selbst an, du großer Krieger«, sagte er giftig. »Du siehst eher aus, als hättest du einen Heilkundigen nötig.«

Skar hob unwillkürlich die Hand an sein Gesicht, führte die Bewegung aber nicht zu Ende. Jetzt, als die Anspannung des Kampfes allmählich von ihm abfiel, begann er jeden Hieb, den ihm Helth versetzt hatte, schmerzhaft zu registrieren. Sein Arm blutete noch immer, nicht stark, aber beständig, und sein rechtes Auge brannte wie Feuer. Als er über seine Wange tastete, spürte er Blut.

»Der Kleine hat dir ganz schön zu schaffen gemacht«, bemerkte Del schadenfroh. »Du wirst allmählich alt, scheint mir.«

Skar blieb ernst. »Ich fürchte«, sagte er, Dels Wortwahl bewußt aufgreifend, »daß uns der Kleine noch mehr zu schaffen machen wird.«

»Sollen wir ihm nach?«

Skar schüttelte den Kopf. »Das ist sinnlos. Wir werden keine Spuren finden. Aber wir müssen vorsichtig sein, wenn wir weitergehen.« Er seufzte. Er hatte die ganze Zeit geahnt, daß es so kommen würde. Aber er hatte gehofft, daß ihnen noch ein wenig Zeit blieb.

»Du glaubst, daß er uns auflauern wird?« fragte Del.

»Ich weiß überhaupt nicht, was ich glauben soll«, murmelte Skar. Er ließ sich neben Del auf das zerwühlte Lager sinken, nahm einen der grauen Stoffetzen auf und wischte sich Blut und Schweiß aus dem Gesicht. Zwei Männer knieten vor ihnen nieder und hoben den Toten auf, um ihn in den hinteren Teil der Höhle zu tragen. Skar betrachtete sie teilnahmslos. Stärker noch als zuvor fühlte er sich einsam, obwohl er von fast vierzig Männern umgeben war. Aber sie erschienen ihm weniger denn je wie Menschen, sondern eher wie graue Puppen, denen nur eine Statistenrolle in diesem grausamen Spiel zugefallen war. Ihm fiel plötzlich ein, daß er nicht einmal ihre Namen wußte. Nicht von einem. »Warum hat er diesen Kampf provoziert?« murmelte er. »Er mußte wissen, daß er ihn verliert. Es war so... so sinnlos.« Er sah auf. Als wäre es nötig gewesen, den Gedanken laut auszusprechen, spürte er erst jetzt, wie widersinnig Helth' Verhalten war. Er würde sterben, allein dort draußen. In den Kleidern, die er anhatte, würde er nicht einmal bis zum Sonnenuntergang durchhalten.

Del zuckte mit den Achseln. »Vielleicht hat er sich schlicht und einfach überschätzt«, sagte er.

»Kaum.« Skar knüllte den Stoffetzen zusammen, tupfte das Blut von seinem Arm und schloß die Finger zur Faust. Die Wunde begann stärker zu bluten. Er zog eine Grimasse, suchte einen einigermaßen sauberen Stoffstreifen und wickelte ihn ungeschickt um seinen Unterarm. Del sah ihm einen Moment kopfschüttelnd dabei zu, ehe er sich vorbeugte, den Verband wenig sanft herunternahm und sauberer und straffer wieder anlegte.

»Er wußte, daß er keine Chance gegen mich haben konnte.«

»Bist du es jetzt, der sich überschätzt?« fragte Del, ohne von seinem Arm aufzusehen.

»Und wenn schon nicht gegen mich, dann gegen dich, Del«, fuhr Skar unbeirrt fort. »Es war so sinnlos.«

»Vielleicht ist er schlicht und einfach verrückt geworden«, vermutete Del. »Wenigstens kam es mir so vor - diese Idee, zum See zurückzumarschieren und mit einer Handvoll halbtoter Männer den Dronte anzugreifen, war geradezu hirnrissig.«

»Nein«, widersprach Skar, sehr ernst und in einem Ton, der Del unwillkürlich innehalten und aufsehen ließ. »Verrückt ist er sicher nicht, Del. Und wenn, dann steckt ein System hinter diesem Wahn.«

»Also, ich kann beim besten Willen kein System darin erkennen, ohne Mantel in die Kälte hinauszurennen«, sagte Del. »Er wird erfrieren. Wenn nicht sofort, dann in der nächsten Nacht.«

Skar schwieg. Für einen Moment, für einen ganz kurzen, flüchtigen Moment, hatte er das Gefühl gehabt, die Lösung des Rätsels in Händen zu halten. Aber der Gedanke entschlüpfte ihm, bevor er danach greifen konnte. Es waren nur Kleinigkeiten, das spürte er. Winzige Details, die offen und sichtbar vor ihm lagen und die er nur richtig einzuordnen brauchte, um endlich Klarheit zu haben. Aber es gelang ihm nicht.

Del wurde plötzlich ernst. »Wir müssen los«, mahnte er.

»Ich weiß.«

»Dann weißt du hoffentlich auch, daß du zu den Männern reden mußt, Skar«, fuhr Del leise fort. Er wirkte mit einem Male besorgt. »Ob es dir paßt oder nicht - du hast jetzt die Verantwortung für sie.« Skar sah an Del vorbei zu den Männern hinüber. Schatten. Er sah Schatten, stumme, grau gewordene Gesichter und Augen, in denen die Angst ihre Spuren hinterlassen hatte. Er fand keine Beziehung zu ihnen, selbst der Gedanke, daß sie Menschen waren und jeder von ihnen ein Leben lebte, das so kompliziert und voller Höhen und Tiefen war wie sein eigenes, erschien ihm mit einem Mal lachhaft. Er hatte die Verantwortung für diese Männer nicht gewollt. Sie war ihm aufgezwungen worden, und er begann eigentlich erst jetzt zu spüren, wie schwer die Last ihn drückte, die ihm von Rayan aufgebürdet worden war. Sein Blick streifte Gowenna, und selbst sie erschien ihm plötzlich nur wie ein Schatten, ein schwaches Abbild ihrer selbst. Nicht echt. Alles um ihn herum war nicht echt.

»Ich bin kein großer Redner«, bekannte er halblaut. Die Worte kamen schleppend. Mit einem Male fühlte er sich müde. Unendlich müde. »Übernimm du das - bitte.«

Del zögerte. Er wollte etwas sagen, aber ein Blick in Skars Augen ließ ihn verstummen.

»Vergiß es«, murmelte Skar. »Ich werde es tun - nachher, bevor wir aufbrechen.«

»Und wohin?« fragte Del leise.

Skar ließ sich zurücksinken, lehnte den Kopf gegen die eisverkrustete Wand und schloß die Augen. Sofort stiegen Bilder in ihm empor, blitzartige Visionen, die nichts miteinander zu tun hatten, sich aber zu einem irrsinnigen, tobenden Tanz des Schreckens vermengten, so daß er die Lider hastig wieder hob. »Nach Westen«, sagte er. »Die Felsenkette führt zur Küste. Es gibt einen...« er zögerte, »eine Art natürliches Hafenbecken dort. Vielleicht finden wir eine Möglichkeit, von hier wegzukommen.«

Del blinzelte. »Woher weißt du das?«

»Von Gowenna«, antwortete Skar. »Sie hat es mir erzählt. Gestern morgen, bevor wir aus der Ruine aufgebrochen sind.«

»Go...« Del brach ab, schüttelte ein paarmal hintereinander verwirrt den Kopf und starrte erst ihn, dann Gowenna und dann wieder ihn an. Skar spürte, wie Zorn in dem jungen Satai hochstieg. »Sie hat es dir erzählt?« wiederholte er, als könne er nicht glauben, was er gerade gehört hatte. »Was hat sie dir noch erzählt?«

»Nichts«, murmelte Skar. »Nichts Wichtiges jedenfalls.«

»Nichts Wichtiges, so«, grollte Del. Er richtete sich ein wenig auf und straffte die Schultern. Obwohl er vor Skar auf den Knien hockte, überragte er ihn um mehr als Haupteslänge. »Aber der Herr hatte es nicht nötig, mich davon zu unterrichten, wie ?« warf er ihm zornig vor. »Manchmal frage ich mich wirklich, Skar, ob wir noch Freunde oder bereits Feinde sind. Was hat sie dir noch über dieses Land gesagt?«

»Nichts«, antwortete Skar ungeduldig. »Und ich glaube, selbst das wenige, was sie mir gesagt hat, wollte sie mir eigentlich nicht verraten. Diese verdammte Insel ist noch nie von Menschen betreten worden.«

»Unsinn!« Del schlug wütend mit der Faust auf den Boden. »Die Ruine draußen auf dem Eis ist nicht vom Himmel gefallen, und die Treppe dort hinten ist nicht von selbst gewachsen. Dieser verdammte Eisklotz ist alles andere als tot, Skar.«

»Vielleicht ist es gerade das, wovor ich Angst habe«, murmelte Skar, aber so leise, daß Del die Worte nicht verstehen konnte.

Del knotete die Enden des improvisierten Verbandes zusammen, überzeugte sich von seinem festen Sitz und ließ sich mit angezogenen Knien neben Skar auf das Lager zurücksinken. Er seufzte. Sein Gesicht wirkte mit einem Male alt und eingefallen, und wie Skar schien er die Erschöpfung erst jetzt richtig zu spüren. »Hast du dir schon einmal überlegt, daß Helth recht haben könnte?« fragte er.

»Womit?«

»Mit seinem Verdacht, Skar. Vielleicht...« Er stockte, sah wieder auf Gowennas Gesicht herab und starrte es endlose Sekunden lang an, als könne er dort die Antwort auf all ihre Fragen finden. »Vielleicht hat sie alles von Anfang an so geplant.«

Skar schüttelte den Kopf, sah Del aber nicht an. »Sie hat nicht die Kraft, so etwas zu tun«, entgegnete er mit einer Geste auf die Eiswand, die jetzt wieder hinter einem dunklen Vorhang aus Schatten und Nacht verschwunden war.

»Sie allein nicht«, stimmte Del zu. »Aber sie könnte Verbündete haben.«

»Aber natürlich. Den Dronte und die von den Toten auferstandenen Bewohner dieser Insel.«

Del zog eine Grimasse. »Für Sarkasmus bin ich hier zuständig«, sagte er. »Nicht du.« Er stand auf, reckte sich und tastete behutsam mit den Fingerspitzen über sein Gesicht. Es begann jetzt sichtlich anzuschwellen. Einer der Matrosen erhob sich, sprach mit leiser Stimme ein paar Worte zu ihm, die Skar nicht verstand und die ihn auch nicht interessierten, und wandte sich wieder ab.

Skar schloß die Augen. Wieder drohten Visionen aus seiner Seele aufzusteigen und seine Gedanken zu überschwemmen, Bilder, diesmal nicht Bilder des Dronte und ihrer verzweifelten Flucht, sondern etwas, das dem Ding auf der anderen Seite der Berge glich und doch wieder ganz anders war, aber diesmal drängte er sie zurück, schuf mit aller Gewalt eine tiefe, dunkle Leere in seinem Inneren und gab sich bewußt seiner Müdigkeit hin. Del sagte noch etwas, aber er verstand die Worte nicht mehr. Plötzlich schienen seine Sinne eingeengt; er roch, spürte und hörte noch alles, was um ihn herum vorging, deutlicher vielleicht als zuvor, aber seine Empfindungen waren auf einen kleinen, nur wenige Schritte messenden Bereich rings um ihn herum begrenzt. Er spürte Del neben sich, hörte Gowennas mühsame, aber regelmäßige Atemzüge und fühlte den eisigen Wind, der durch den Tunnel ins Innere der Höhle fauchte.

Dann verging auch dies. Übergangslos schlief er ein.

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