11.

Das Meer war glatt wie Glas. Es gab Wellen, aber sie schienen, obgleich sie so langsam und majestätisch wie seit Äonen heranrollten, trotzdem erstarrt, wie durch einen geheimnisvollen Zauber mitten in der Bewegung gefroren, die Schaumkronen zu glitzernden weißen Eiskappen und der Sprühnebel aus winzigen Tröpfchen irgendwo auf halbem Wege zwischen Himmel und Meer zu einem zeitlosen Schweben geworden, als gäbe es mit einem Mal zwei Arten von Bewegung, die sich gegenseitig weder beeinträchtigten noch beeinflußten. Grauer Nebel lag wie der Atem einer eisigen Gottheit über dem Meer und dem Eisstrand, bildete Formen und Umrisse, bizarre Gesichter und Gestalten, Hände, die mit kleinen gierigen Bewegungen über das Eis tasteten und wieder vergingen, wenn sie der Hauch des Windes streifte. Der Himmel war erloschen, ein einziger kalter Stern glitzerte im Zenit, aber auch er schien keine Wärme und nur wenig Licht auszustrahlen. Schließlich verglomm auch er, und undurchdringliche Dunkelheit breitete sich wie eine schwere schwarze Decke über Meer und Land aus.

Unweit des Strandes begannen sich auf der Wasseroberfläche flache kreisförmige Strudel zu bilden, breiteten sich nach allen Seiten aus, als werfe jemand unsichtbare Steine ins Wasser. Die kleinen dadurch entstandenen Wellen verschmolzen mit ihren großen Schwestern oder liefen ihnen davon, bis sie eingeholt wurden oder sich ihre Kraft auf dem glitzernden Strand brach. Blasen stiegen auf, vereinzelt und klein zuerst, dann mehr und größer, wie von einer schimmernden Haut überzogen, so daß ein deutliches Blubbern zu hören war, wenn sie platzten. Etwas Dunkles, Großes, Unförmiges und Unmögliches begann sich unter der Wasseroberfläche zu formen, ein absurdes Ding aus Schwärze und geballter Dunkelheit wuchs heran, tauchte langsam, aber unaufhaltsam weiter empor, wuchs...

Eine Hand berührte Skar unsanft an der Schulter und rüttelte ihn so lange, bis er mit einem Ruck hochfuhr. Für einen Moment hatte er Schwierigkeiten, zwischen Traum und Wirklichkeit zu unterscheiden. Er schlief nicht mehr, war aber auch noch nicht wach, und das Gesicht über ihm erschien ihm dunkel und groß und überaus häßlich...

Skar blinzelte schlaftrunken, versuchte die Hand abzustreifen und sah zum Eingang der Höhle hinüber. Hinter dem gezackten Spalt lag graue Dämmerung. Er konnte nicht lange geschlafen haben; eine Stunde, vielleicht zwei. Trotzdem fühlte er sich, nachdem er die letzten Spinnweben des Traumes abgeschüttelt hatte, das Gesicht vor ihm wieder ein Gesicht und der Laut in seinen Ohren vom Rauschen der Meeresbrandung zum Geräusch zahlreicher, eng zusammengedrängt schlafender Menschen geworden war, überraschend frisch und ausgeruht, und er war fast dankbar dafür, geweckt worden zu sein. Nicht nur wegen des üblen Traumes, der ihn verfolgt hatte. Es gab zu viel zu tun. Er hätte sich nicht einmal diese eine Stunde Schlaf gönnen dürfen, und er hatte auch nicht schlafen wollen, sondern sich nur einen Moment hingehockt und den Kopf gegen das kalte Eis der Wand gelehnt, um auszuruhen. Aber die Strapazen der vergangenen Tage forderten ihren Tribut.

»Herr?«

Skar bemerkte erst jetzt, daß ihn der Mann bereits zum dritten oder vierten Mal ansprach. Er fuhr sich müde mit der Hand über die Augen, unterdrückte ein Gähnen und wandte sich dem Matrosen zu. Sein Blick war verschleiert; das Gesicht des Mannes schien immer wieder mit den unsicheren Schemen im Inneren der Höhle zu verschmelzen, und seine Stimme hatte einen seltsamen, verzerrten Nachhall. Offenbar war er doch noch nicht vollkommen wach.

»Ja?«

»Helth schickt nach Euch«, sagte der Freisegler. Seine Stimme zitterte, aber Skar vermochte nicht zu sagen, ob vor Kälte oder aus einem anderen Grund. Das war auch etwas, was er klären mußte: Die Männer hatten trotz allem noch immer Angst vor ihm, und es war eine Angst, die nicht allein damit zu begründen war, daß er Satai war. Die Freisegler waren ja an die Gesellschaft der beiden Veden gewöhnt. Ein Mann, der ein Meister der Schwertkunst war, konnte also für sie nichts Erschreckendes haben.

»Er braucht Euch unten auf der SHAROKAAN.«

Skar wollte nach dem Grund fragen, beließ es aber dann bei einem wortlosen Nicken, stemmte sich langsam und ächzend wie ein alter Mann hoch und folgte dem Mann zum Ausgang. Die Besatzung hatte noch mehr Kisten und Fässer hinaufgeschafft, während er geschlafen hatte, und die Eishöhle schien bis auf den letzten verfügbaren Meter vollgestopft zu sein. Der See aus Schmelzwasser war größer geworden, wie Skar mit einem besorgten Blick feststellte, und die Hitze der Fackeln hatte bereits tiefe, nach oben spitz auslaufende Höhlungen in die Eiswände gebrannt. Del und Vela schliefen ein Stück abseits der anderen, eng aneinandergeschmiegt, um der Kälte wenigstens notdürftig zu trotzen und sich gegenseitig zu wärmen. Er ging vorsichtig und bemühte sich, kein unnötiges Geräusch zu machen, um die Männer nicht zu wecken. Sie lagen zum Teil da, als wären sie vor Erschöpfung zusammengebrochen und an Ort und Stelle eingeschlafen. Sie brauchten die wenigen Stunden Schlaf, die er ihnen gönnen konnte. Skar hatte sich an den Gedanken, jetzt Kommandant dieser Männer zu sein, noch immer nicht gewöhnt. Er war schon Führer größerer Gruppen gewesen, ganzer Heere, aber das war etwas anderes. Diese Männer würden ihm gehorchen bis in den Tod, und trotzdem war zwischen ihnen eine unüberbrückbare Kluft.

Kalter Wind schlug ihm entgegen, als er die Höhle verließ. Aber wenigstens hatte sich der Nebel verzogen. Skar zog fröstelnd den Mantel enger um die Schultern zusammen, trat einen Moment auf der Stelle und sah zur Kanaleinfahrt hinüber. Im blassen Sternenlicht wirkte der Einschnitt wie eine klaffende Wunde im schimmernden Weiß der Wand.

Als er weitergehen wollte, kamen ihm drei dunkle Gestalten entgegen, bucklige Schatten, die sich beim Näherkommen in Matrosen verwandelten, gebeugt und wankend unter der Last der Bündel, die sie sich aufgeladen hatten.

Die Sonne war bereits seit einiger Zeit untergegangen, aber über dem Meer und dem Eissee lag noch ein grauer Schimmer von Licht, den die hereinbrechende Nacht noch nicht vertrieben hatte, und unten auf der SHAROKAAN brannten unzählige Fackeln, so daß das Schiff wie eine flammende Insel aus Licht und Wärme am Ufer des Sees lag. Aber der Wind war kälter geworden, und es schien eine ganz sonderbare Art von Kälte zu sein, gegen die ihn seine wärmende Kleidung nicht zu schützen vermochte; nicht sonderlich intensiv, aber durchdringend.

Er blieb einen Moment lang stehen, zog den Umhang noch enger um die Schultern und rieb die Hände gegeneinander. Dann folgte er dem Matrosen den abschüssigen Hang zum Strand hinab.

Er brauchte lange, um die wenigen Dutzend Schritte zurückzulegen. Das Eis hatte durch das ständige Hin- und Herlaufen der Matrosen viel von seiner Glätte verloren, aber der Hang war noch immer gefährlich, und ein einziger falscher Schritt konnte einen Sturz ins Wasser und damit den Tod bedeuten. Er zitterte vor Kälte, als er die schmale Laufplanke der SHAROKAAN hinaufging.

Helth erwartete ihn am Bug. Der Vede wirkte erschöpft; unter seinen Augen lagen dunkle Ringe, und seine Bewegungen waren fahriger geworden. Er trug noch immer den gleichen Umhang, aber er hatte sein Haar gesäubert, und an seinen Händen klebte kein Blut mehr. »Was gibt es?« fragte Skar anstelle einer Begrüßung. Er gab sich keine Mühe, seine Stimme freundlich klingen zu lassen. Wie immer, wenn er zu früh und zu abrupt aus dem Schlaf gerissen wurde, war er übler Laune, und er hatte keine Lust, sich zu verstellen.

Helth blickte weiter starr zum Eiskanal hinüber. »Hast du mit Kehlher gesprochen?« fragte er.

Skar nickte. Kehlher war einer der vier Männer aus der Besatzung, die sich darauf verstanden, ihre Position anhand der Sterne zu bestimmen. Aber das Gespräch mit ihm war erfolglos verlaufen. Wie sich dabei herausstellte, hatten er und die anderen schon mehr als nur einmal ihre Position ermittelt, seit sie von dem Dronte von ihrem ursprünglichen Kurs gejagt wurden. Das Problem war nicht die Ermittlung des genauen Standorts. Kehlher hatte ihm auf fünfzehn Seemeilen genau sagen können, wie weit und in welcher Richtung sie von der Küste Elays entfernt waren. Aber wo sie tatsächlich waren, wußte niemand. Kein Schiff war jemals so weit wie die SHAROKAAN nach Norden gesegelt; und wenn, so war es nicht zurückgekehrt.

Helth wartete eine Weile vergeblich auf eine Antwort und deutete schließlich zum Eiskanal hinüber. Skar konnte nicht mehr als wogende Schatten und undeutliche, sich ständig verändernde Umrisse erkennen, die zum Großteil wohl nur seiner Phantasie entsprangen, und jedesmal, wenn er dort hinüberblickte, beschlich ihn erneut ein seltsam bekanntes Gefühl der Furcht, einer Furcht, die nicht allein auf die Anwesenheit des Dronte zurückzuführen war.

»Irgend etwas geht dort vor«, flüsterte Helth. Er sprach so leise, daß Skar Mühe hatte, seine Worte über dem Wimmern des Sturmes zu verstehen. »Ich weiß nicht, was, aber irgend etwas geschieht dort. Man... hört Geräusche.«

Skar lauschte sekundenlang, aber er vernahm nichts außer dem winselnden, auf- und abschwellenden Heulen des Windes.

»Ich höre nichts«, sagte er.

Helth nickte. »Im Augenblick ist es auch nicht. Aber es kommt wieder, verlaß dich darauf.«

Skar sah den jungen Veden fragend an. »Hast du mich deshalb rufen lassen?«

Helth schwieg einen Moment. Der Schatten von Freundlichkeit, der auf seinen Zügen gelegen hatte, verschwand. »Natürlich nicht«, fuhr er mit veränderter Stimme fort. »Ich wollte dir mitteilen, daß wir fertig sind. Was jetzt noch an Bord ist, kann zurückbleiben.«

Skar versuchte vergeblich, einen Unterton von Tadel oder Vorwurf in Helth' Stimme zu hören. Das einzige, was er spürte, war Erschöpfung, allenfalls noch eine Spur von Resignation. Was Helth ihm hatte sagen wollen, hatte er ihm gesagt. Er würde es nicht noch einmal tun. »Gut«, sagte er. »Dann sollten wir alle hinaufgehen und uns gründlich ausschlafen. Die Männer brauchen Ruhe. Und du auch.«

»Und morgen brechen wir auf?«

Skar zögerte sichtlich, ehe er nickte. Helth wußte so gut wie alle anderen, daß sie bei Sonnenaufgang losmarschieren würden. Wenn er trotzdem fragte, dann, um mit dieser Frage auf den eigentlichen Grund dieses Gespräches hinzuarbeiten. »Ja. Bei Sonnenaufgang. Wir gehen an der Küste entlang nach Osten. Auf diese Weise haben wir am ehesten eine, wenn auch geringe Chance, auf Land zu stoßen.« Helth nickte. »Hoffentlich«, murmelte er. »Immer vorausgesetzt, dieser Eisklotz ist nicht Teil einer Insel, sondern ein ans Eismeer reichender Ausläufer eines neuen, unentdeckten Kontinents. - Aber ich habe dich nicht deshalb gerufen, sondern um dir etwas zu zeigen. Komm.« Er fuhr mit einer übertrieben heftigen Bewegung herum und ging an Skar vorbei zum Heck des Schiffes. Skar folgte ihm neugierig. Die Pinasse war wieder zu Wasser gelassen worden. Aber sie war diesmal nicht mit Männern beladen, sondern mit Fässern; Dutzenden von bauchigen, von schweren Eisenringen zusammengehaltenen Fässern, die mit einem Netzwerk von Tauen und Stricken gesichert waren. Ein scharfer, stechender Geruch schlug Skar entgegen, als er sich über die Reling beugte, und er sah, daß das Boot knöcheltief mit einer öligen Flüssigkeit gefüllt war.

»Was bedeutet das?« fragte er. Der Tonfall seiner Worte ließ keinen Zweifel daran, daß er - ganz gleich, was Helth vorhatte - dagegen sein würde, aber der junge Vede ging nicht darauf ein.

»In zwei Stunden setzt die Ebbe ein«, sagte Helth. »Das Wasser fließt dann aus dem See ab und strömt durch den Kanal nach draußen ins offene Meer.«

»Ich weiß«, nickte Skar ungeduldig. »Und?«

Helth deutet auf das Tau, das die Pinasse mit der SHAROKAAN verband. »Wir brauchen sie nur der Flut zu übergeben, und sie wird in den Kanal gesogen«, sagte er. »Die Fässer enthalten Öl. Das gleiche Öl, mit dem ihr den Dronte angegriffen habt, Brad und du.«

Skar begann zu begreifen, was der Vede wollte. Er selbst hatte für kurze Zeit mit dem gleichen Gedanken gespielt, ihn aber rasch wieder verworfen. Aber Helth gab ihm keine Gelegenheit, irgendwelche Einwände vorzubringen.

»Ein geschickter Bogenschütze kann einen Pfeil von hier bis zum Kanal schießen«, fuhr er fort.

»Einen brennenden Pfeil«, vermutete Skar.

Helth nickte. Es war zu dunkel, als daß Skar den Ausdruck auf seinem Gesicht hätte erkennen können, aber als er weitersprach, hatte seine Stimme viel von ihrer Ruhe verloren.

»Du bist es mir schuldig, Skar. Mein Vater übergab dir das Kommando über die SHAROKAAN, und ich will mich jetzt nicht mit dir darüber streiten, ob es richtig war oder falsch. Es war sein letzter Wunsch, und ich respektiere ihn. Aber er darf nicht umsonst gestorben sein. Er nicht und Brad nicht. Ich will diese Bestie haben, Skar.« Skar wollte auffahren, besann sich aber im letzten Augenblick anders. »Wir haben es schon einmal versucht, Helth«, antwortete er. »Du weißt, daß es sinnlos ist. Dein Vater hat diesen Versuch mit dem Leben bezahlt, Helth. Aber wir konnten dieses Ungeheuer nicht töten.«

Helth wischte seinen Einwand mit einer wütenden Armbewegung beiseite. »Du bist es mir schuldig«, wiederholte er stur. »Und wenn schon nicht mir, so Rayan und Brad. Mit dem, was sich dort auf dem Boot befindet, kann ich die halbe Insel in die Luft sprengen.«

»Und genau das wirst du tun, Helth«, unterbrach ihn Skar ruhig. »Die halbe Insel und uns dazu. Es nutzt uns nichts, wenn wir den Dronte vernichten und dabei selbst sterben.«

»Es wird für dieses verdammte Ungeheuer reichen!« fuhr Helth wütend fort, als hätte er Skars Worte gar nicht gehört.

Skar schüttelte sanft den Kopf. »Du hast nicht gesehen, was ich gesehen haben, Helth«, murmelte er. »Der Dronte ist ein Wesen, dessen Element das Feuer ist. Du kannst ihn nicht mit Feuer töten.«

Helth lachte rauh. »Ich wußte, daß du das vorbringen würdest, Satai«, zischte er. »Aber ich werde es trotzdem tun, ob mit oder ohne deine Erlaubnis.«

»Ich kann dich nicht daran hindern, Helth«, antwortete Skar gelassen. »Aber du wirst damit nichts erreichen. Ich will dieses Monster ebenso gerne tot sehen wie du, aber...«

»Gerede«, unterbrach ihn Helth. »Du und diese Gowenna, ihr steht euch in nichts nach. Reden, das könnt ihr...«

»Ich kann auch noch etwas anderes«, sagte eine Stimme hinter ihnen. Skar drehte sich halb um und erkannte Gowenna. Sie war herangekommen, ohne daß er es bemerkt hatte. »Ich kann dich übers Knie legen und dir den Hintern versohlen, Junge. Vielleicht ist es das, was du nötig hast.«

Skar hielt unwillkürlich den Atem an. Helth' Hand zuckte zum Gürtel. Seine Gestalt straffte sich.

Aber der gefährliche Moment ging vorüber, ohne daß Helth die Waffe zog. Er war Gowenna überlegen in diesem Moment. Sie war unbewaffnet und erschöpft, und er hätte sie töten können, wahrscheinlich so schnell, daß nicht einmal Skar in der Lage war, es zu verhindern, und sie wußten es beide. Aber sie wußten auch beide, daß der Kampf zwischen ihnen nicht mit Waffen ausgetragen werden würde. Nicht jetzt. Nicht so. Trotz allem würde Helth niemals einen Gegner angreifen, der in einem - seiner Meinung nach - unfairen Nachteil war. Es wäre kein Sieg; nicht für ihn. Gerade ihre Unterlegenheit schützte Gowenna. Und machte Helth um so wütender.

»Das einzige, was du erreichen wirst, Helth«, fuhr Gowenna fort, »ist, dieses Biest weiter zu reizen. Du hast erlebt, wozu es fähig ist. Ich möchte nicht in der Nähe sein, wenn es wirklich wütend wird.« Helth' Augen funkelten. »Was kann es uns schon antun«, entgegnete er trotzig. »Es wird die SHAROKAAN so oder so vernichten. Und wenn den Dronte das Feuer nicht zerstört, so bringt es vielleicht den Kanal zum Einsturz und hält ihn fest, wo er ist. Oder hast du Angst, daß er uns aufs Eis nachkriecht?« fügte er höhnisch hinzu. Gowenna antwortete nicht. Helth' Worte waren nur mehr bloße Verteidigung, eine Geste, mit der er seinen Rückzug deckte, um nicht das Gesicht zu verlieren. Gowenna mußte das wissen, aber zu Skars Verwunderung verzichtete sie darauf, das Messer noch tiefer in die Wunde zu stoßen. Sie schüttelte nur den Kopf, bedachte Helth mit einem beinahe mitleidigen Blick und ging zum Heck des Schiffes zurück.

»Sie hat recht, Helth«, meinte Skar sanft. »Wir -«

Er brach ab, als er bemerkte, daß der junge Vede nicht mehr zuhörte. Noch einmal setzte er dazu an, etwas zu sagen, schüttelte aber dann nur den Kopf und wandte sich resigniert um.

Gowenna stand auf dem erhöhten Achterdeck und blickte über den See. Skar konnte nur ihre verbrannte Gesichtshälfte sehen; das blinde Auge funkelte wie ein winziger Kristall in dem dunkleren Narbengewebe, und in den zerstörten Zügen schien ein Ausdruck unsäglichen Schmerzes eingebrannt zu sein; ein Schmerz, der weit über bloße körperliche Qual hinausging. Ihre Haltung wirkte entspannt, beinahe gelöst, und trotzdem lag etwas darin, das Skar sagte, wie es in ihrem Inneren aussah.

»Du mußt ihn verstehen«, murmelte er. »Es war zuviel für ihn.« Gowenna drehte langsam den Kopf. »Das ist kein Grund, uns von diesem jungen Narren umbringen zu lassen«, stellte sie ruhig fest. »Wie würdest du reagieren, wenn du Vater und Bruder an einem einzigen Tag verlierst?« gab Skar zurück. »Er mag den Mantel eines Veden tragen, aber ein Stück bunter Stoff und eine Waffe machen aus einem Kind noch keinen Mann.«

»Sag ihm das«, schnappte Gowenna. »Oder noch besser, prügele es ihm in den Dickschädel hinein. Das scheint die einzige Sprache zu sein, die er versteht.«

Skar lächelte traurig. »Er weiß es, Gowenna. Aber gib ihm eine Chance.«

Gowenna antwortete nicht darauf. Sie sah ihn einen Moment lang durchdringend an, drehte sich dann wieder um und starrte zum gegenüberliegenden Ufer hinüber. Ein leiser, stöhnender Laut drang durch die wogenden Nebel zu ihnen herüber, ein Geräusch, als rege sich dort hinten irgend etwas Mächtiges, Gewaltiges. Der Laut, von dem ihm Helth erzählt hatte. Skar fror plötzlich stärker. Ein Fetzen seines Traumes fiel ihm wieder ein, und er war auf einmal sicher, daß es mehr als ein normaler Alptraum gewesen war. Er überlegte, ob er Gowenna davon erzählen sollte, ließ es aber dann.

»Wir sollten gleich heute aufbrechen«, sagte Gowenna unvermittelt. »Je größer die Entfernung ist, die ich zwischen mich und dieses... Ding bringe, desto wohler fühle ich mich.«

»Wir haben Zeit«, widersprach Skar. »Und die Männer brauchen eine Pause. Wer weiß, wie lange sie marschieren müssen.«

»Zwei Tage, vielleicht drei.«

Skar wandte überrascht den Kopf. »Wie kommst du darauf?« Gowenna deutete nach Osten. »Ich war dort oben«, antwortete sie, »auf der Eismauer. Vorhin, als du geschlafen hast. Ich bin mir nicht sicher, aber ich glaube, es gibt ein Gebirge im Osten. Man sieht es nicht, aber das Licht der Sonne spiegelt sich auf seinen Gipfeln, kurz bevor sie versinkt.«

Skar überlegte einen Moment. »Selbst, wenn du recht hast«, murmelte er, »woher weißt du, was hinter diesen Bergen liegt?«

»Ich weiß es nicht«, gab Gowenna gleichmütig zu. »Vielleicht eine weitere Eiswüste. Vielleicht das offene Meer... Aber es ist immer noch besser, wir gehen dorthin als in irgendeine andere Richtung. Dein Einverständnis vorausgesetzt«, fügte sie spöttisch hinzu.

Skar spürte, daß sie auf eine Antwort wartete, aber er beschränkte sich auf ein kaum merkliches Nicken und blickte weiter zum Eiskanal hinüber. Er hatte keine Lust mehr zu diskutieren. Ihr Gespräch war sinnlos, diente allenfalls dem Zweck, einfach zu reden, die Stille und die bedrückenden Gedanken in ihrem Gefolge nicht übermächtig werden zu lassen.

Er drehte sich herum, blickte über das Deck der SHAROKAAN, die jetzt still und ruhig wie ein Geisterschiff dalag und wandte sich dann wieder dem Kanal zu. Erneut war dieser dumpfe, stöhnende Laut zu hören. Vielleicht nichts anderes als die Geräusche, mit denen sich das geborstene Eis bewegte, sich die mächtigen, aus ihrer vielleicht Jahrtausenden währenden Ruhe gerissenen Blöcke neu setzten, vielleicht aber auch etwas anderes.

Skar wehrte sich gegen den Gedanken, aber dadurch wurde es eher schlimmer. Die Angst hatte sich in seiner Seele eingenistet, und es war ein Feind, gegen den zu kämpfen sinnlos war. Etwas - irgend etwas - schien aus dem nebelverhangenen Korridor dort drüben herüberzuwehen, ein Ruf, eine lautlose, unhörbare Stimme, spinnenfingrige Geisterhände, die nach seiner Seele griffen und irgend etwas in ihm anrührten. Es war nicht das erste Mal, daß er dieses Gefühl hatte, aber es wurde stärker, mit jedem Mal, mit jeder Sekunde, jedem Atemzug, den er tat.

Und er spürte, wie irgend etwas in ihm antwortete...

Skar erschrak, so heftig, daß die Reaktion auf seinem Gesicht abzulesen sein mußte, denn er sah, wie Gowenna zusammenzuckte und ihn mit plötzlicher neuer Besorgnis beobachtete. Sie schien etwas sagen zu wollen, aber er hob rasch die Hand und schüttelte den Kopf.

Etwas in ihm erwachte, regte sich nach langer, langer Zeit wieder und antwortete auf den Ruf, der aus dem Wrack des Dronte zu ihm herübergetragen wurde, dumpf, dunkel und lockend, eine Stimme aus einer fremden, bedrohlichen, bizarren Welt, fremder noch als der Dronte mit all seinen Schrecken.

Und plötzlich wußte er auch, was es war. Plötzlich wußte er, was er die ganze Zeit über gespürt hatte, woher dieses widersinnige Gefühl des Vertrauten, Bekannten gekommen war. Bilder tauchten in seinem Geist auf, Bilder von bedrückender Realität, blitzartige Visionen: dunkle, auf seltsam falsche Weise gekrümmte Gänge und Stollen, Treppenschächte, die nicht für Menschen gedacht waren, Gänge und Räume, nach einer fremden, in den Augen schmerzenden Geometrie errichtet... Namen und Orte tauchten in seinem Geist auf, Erinnerungen, schmerzhaft und voller dumpfer Qual: Urcôun... das Labyrinth unter den gläsernen Ebenen...

Er hatte den Atem des Dronte schon einmal gespürt, in Urcôun, der verwunschenen Stadt am Rande der Nonakesh-Wüste, später in Velas unterirdischer Festung in Tuan.

Und er fühlte in sich, jetzt wie damals, wieder die gleiche böse Lust am Vernichten, am Zerstören und Töten, die ihn schon einmal zu überkommen gedroht hatte, dort, und später, beim Kampf mit dem schwarzen Satai am Rande des Schattengebirges. Er war ihr zweimal erlegen, und er hatte sie zweimal besiegt, aber er hatte auch gespürt, wie ungleich schwerer es beim zweiten Mal gewesen war.

Sein dunkler Bruder war erwacht. Er hatte geglaubt, ihn besiegt zu haben, aber das stimmte nicht. Er hatte ihn vertrieben, ihn tief, unendlich tief in seiner Seele vergraben, ihn hinter eine Mauer aus Selbstbeherrschung und Disziplin gesperrt, aber er war noch da, stark und mächtig wie eh und je. Und er wußte nicht, ob er ihn ein drittes Mal bezwingen konnte.

»Was hast du?« fragte Gowenna. Sie wirkte beunruhigt, beinahe schon ängstlich, und als er in ihr Gesicht sah, erblickte er darin einen besorgten Ausdruck, einen schwachen Abglanz seiner eigenen Furcht, des Schreckens, der ihn gefangenhielt.

»Nichts«, murmelte er schwach. »Es ist... nichts...«

»Du bist blaß«, stellte Gowenna fest. »Und du zitterst am ganzen Leib. Also erzähl mir nicht, daß du nichts hast.«

»Ich... mußte an Del denken«, antwortete er ausweichend. Die Lüge klang dünn, und Gowennas einzige Reaktion darauf bestand in einem flüchtigen Lächeln.

»Findest du es fair, von mir Offenheit zu verlangen und selbst nicht bereit dazu zu sein?« fragte sie.

Skar schüttelte verwirrt den Kopf, nickte und wandte sich dann mit einem Ruck ab. »Nicht jetzt, Gowenna«, sagte er leise. »Wir reden darüber, später. Aber nicht jetzt. Bitte. Ich bin auch nur gekommen, um...« Er brach plötzlich ab, sah sie einen Moment lang an und starrte dann an ihr vorbei aufs Meer. Wenn er sie jetzt auf Vela ansprach, würde sie glauben, es wäre nur ein Vorwand, ein Angriff seinerseits, um abzulenken. Er schüttelte den Kopf. »Nichts«, murmelte er. »Es ist nichts. Vergiß es.«

Gowenna sog hörbar die Luft ein. Zwei, drei Sekunden lang starrte sie ihn an, sah dann zum Eiskanal hinüber, als spüre sie, daß dort drüben die Antwort auf all ihre Fragen lag, und drehte sich mit einem Kopfschütteln um. »Wie du meinst«, murmelte sie.

Skar hob langsam die Hand an die Schläfe. Sein Schädel pochte, und irgendwo hinter seinen Gedanken glaubte er ein leises, böses Lachen zu hören. Er ballte in hilfloser Wut die Fäuste, trat dicht an die Reling heran und starrte auf die nahezu unbewegte Wasseroberfläche hinunter. Der Rumpf der SHAROKAAN begann sich bereits wieder mit Eis zu überziehen; ein dünner, glitzernder Panzer, der langsam, vielleicht nicht mehr als ein Fingerbreit pro Stunde, aber unaufhaltsam an den verquollenen Planken emporkroch. Es war wie dieses Etwas in seiner Seele, dachte Skar. Sein Vormarsch war langsam, trügerisch langsam, aber es gab nichts, was ihn stoppen konnte.

Es war der Dronte. Er spürte seinen Ruf, seine Stimme. Die Stimme seines dunklen Bruders, der endlich seinen Gegenpart gefunden hatte. Skar erschrak. Ohne es bisher selbst zuzugeben, hatte er sich insgeheim an den Gedanken geklammert, daß alles nur Einbildung war, nichts als eine Reaktion seiner überreizten Nerven. Aber er schien an einem Punkt angekommen zu sein, an dem er sich nicht einmal mehr selbst belügen konnte.

»Ich habe mit Del gesprochen«, sagte er leise. »Vorhin, als ich oben in der Höhle war.«

Auf Gowennas Zügen erschien ein seltsamer Ausdruck. Skar überkam plötzlich das Gefühl, daß sie ganz genau wußte, worauf er hinauswollte. »Das soll... öfter vorkommen«, bemerkte sie stockend und in dem vergeblichen Versuch, spöttisch zu klingen. »Ich glaube mich zu erinnern, daß ich euch beide schon einmal im Gespräch gesehen habe.« Sie lachte.

»Vela«, murmelte Skar. »Es geht um Vela. Und dich. Ich möchte, daß du damit aufhörst, sie langsam umzubringen.«

Gowenna schürzte die Lippen. »Tue ich das, Satai?« fragte sie kalt. Skar blieb ruhig. »Ich will endlich wissen, was du im Schilde führst, Gowenna«, fuhr er ernst fort. »Ich will wissen, was du wirklich vorhast, mit ihr und vielleicht auch mit uns. Ich habe nicht die Kraft, gegen dieses Ungeheuer und dich gleichzeitig zu kämpfen.«

»Du redest Unsinn«, unterbrach ihn Gowenna verärgert. »Ich befolge den Befehl der Ehrwürdigen Mutter in Elay, nicht mehr und nicht weniger.«

»Aber es bereitet dir Freude, sie zu quälen.«

Gowenna schien irritiert, und auch Skar fühlte sich unsicher. Er hatte damit gerechnet, daß sie streiten würden wie so oft, aber Gowenna blieb ganz ruhig, fast, als hätte sie dieses Gespräch vorausgesehen und sich jede mögliche Antwort auf jede mögliche Frage genau überlegt. »Ich quäle sie nicht«, sagte sie. »Sie spürt nichts. Wahrscheinlich ist sie im Moment die einzige, die glücklich ist von uns allen. Und selbst wenn - würde es einen Unterschied machen?«

»Das würde es«, antwortete Skar. »Für mich. Ich habe geschworen, Vela lebend zum Berg der Götter zu bringen, und ich werde meinen Schwur halten. Aber ich möchte einen Menschen dorthin bringen, Gowenna, keine leere Hülle, deren Geist ausgebrannt ist.«

»Ihr wird nichts geschehen«, antwortete Gowenna. »Das Mittel -«

»Sie stirbt«, unterbrach sie Skar. »Ich war bei ihr, vor nicht einmal einer Stunde. Sie siecht unter unseren Händen dahin. Und das Kind mit ihr.«

Gowenna starrte ihn an. »Ist es das?« fragte sie ungläubig. »Fürchtest du um das Leben deines Kindes?« Sie lachte bitter. »Du solltest dich lieber vor dem Tag fürchten, an dem es geboren wird, Satai.«

»Lenk nicht ab«, knurrte Skar. »Ich -«

»Ich lenke keineswegs ab«, fiel ihm Gowenna ins Wort. Plötzlich klang ihre Stimme hart und schneidend. »Ich befolge die Anordnung der Ehrwürdigen Mutter. Du weißt, daß ich sie nicht quäle, weil es mir Spaß macht. Hast du schon vergessen, wozu diese Frau fähig ist? Hast du vergessen, was sie dir angetan hat ? Dir und mir und zahllosen anderen? Sie hätte die Welt in Brand gesetzt, wenn wir sie nicht daran gehindert hätten, Skar.«

Plötzlich war er des Streitens müde. Er fühlte, daß er einer ernstgemeinten Auseinandersetzung mit Gowenna nicht gewachsen sein würde. Sie hatte schon immer besser mit Worten umgehen können als er. »Sie ist geschlagen, Gowenna«, sagte er matt. »Begreif das doch. Sie hat den Kampf ihres Lebens gekämpft und verloren. Sie stellt keine Gefahr mehr dar. Weder für dich noch für mich, noch für irgendeinen. Sie ist geschlagen.«

»Nein, Skar«, antwortete Gowenna ernst. »Das ist sie nicht. Sie wird gefährlich bleiben, solange sie lebt. In diesem Punkt ist sie dir und mir ähnlich. Du kannst sie schlagen, aber du kannst sie nie wirklich besiegen.«

Skar seufzte. Es war sinnlos. Gowenna war verblendet, verrannt in ihren Haß, so stark, daß sie rationalen Argumenten nicht mehr zugänglich war.

»Dann verbiete ich es dir«, sagte er leise.

Gowenna fuhr auf. »Das kannst du nicht. Die Ehr -«

»Elay ist weit«, unterbrach sie Skar. »Wenn wir hier lebend herauskommen und den Berg der Götter erreichen sollten, bin ich bereit, die Verantwortung für mein Tun zu übernehmen, Gowenna. Aber jetzt verbiete ich dir, dich ihr auch nur zu nähern. Von jetzt an werden nur noch Del und ich uns um sie kümmern, kein anderer.«

Gowenna setzte zu einer scharfen Entgegnung an, überlegte es sich im letzten Augenblick anders und senkte den Blick. »Ich gehorche«, flüsterte sie kaum vernehmbar. »Aber du wirst diese Entscheidung bereuen, Skar. Ich bete, daß ich mich irre, aber du wirst sie bereuen. Bald sogar.«

»Das mag sein.« Skar zuckte mit den Achseln, lehnte sich auf das hartgefrorene Holz der Reling und blickte zur Eismauer hinauf. »Aber auch darüber reden wir später«, fügte er nach einer Weile hinzu. »Bist du müde?«

»Müde? Nein.«

»Dann zeig mir deine Berge«, murmelte Skar. »Vielleicht sind sie wirklich da. Und vielleicht haben wir doch noch eine Chance.«

»Hier«, sagte Gowenna. »Nimm meine Hand.«

Skar löste behutsam die Rechte von dem gezackten Vorsprung, an dem er Halt gesucht hatte, griff nach Gowennas hilfreich ausgestreckten Fingern und zog sich mit einer raschen Bewegung in die Höhe. Der Wind traf ihn mit unbarmherziger Wucht, als er auf die spiegelglatte Krone der Eismauer hinaufstieg. Er machte rasch ein paar Schritte, um aus der unmittelbaren Nähe der Kante zu kommen, zog den Fellumhang enger um die Schultern und sah Gowenna fragend an. »Dort.« Gowenna deutete nach Osten. Skar sah neugierig in die angegebene Richtung, konnte aber zuerst nichts außer Dunkelheit und dem glitzernden Band der Sterne hoch oben am Himmel erkennen. Sein Herz hämmerte, und seine Fingerspitzen schienen taub zu sein, schmerzten aber trotzdem. Der Aufstieg war unerwartet anstrengend gewesen, die spiegelglatten Wände gaben ihren Händen und Füßen so gut wie keinen Halt, und sie hatten - obwohl es kaum fünfzehn Meter gewesen waren, die sie überwinden mußten - beinahe eine halbe Stunde gebraucht, um die Eismauer zu ersteigen. Aber er bestand darauf, selbst hier heraufzukommen, um sich das Gebirge, von dem Gowenna gesprochen hatte, anzusehen.

»Ich kann nichts erkennen«, murmelte er.

Gowenna schüttelte verärgert den Kopf. »Es ist direkt vor uns«, sagte sie ungeduldig. »Vielleicht zwanzig Meilen, kaum mehr.« Skar starrte angestrengt in die angegebene Richtung. Er sah nichts. Das Eis schien das schwache Sternenlicht wie ein gewaltiger Schwamm aufzusaugen, und alles, was weiter als zwei, drei Meilen entfernt war, war hinter einem Vorhang aus Schatten verborgen. »Achte auf den Horizont«, wies ihn Gowenna an. »Fällt dir nicht auf, wie unregelmäßig er scheint? Das müssen Berge sein.« Aus ihrer Stimme klang Verzweiflung, die bange Angst, daß Skar ihr sagen könnte, daß sie sich täuschte, daß diese Berge nur in ihrer Einbildung da waren, weil sie sie sehen wollte.

Aber sie hatte wohl recht. Als Skar länger hinsah, bemerkte er, daß der Horizont nicht so glatt war, wie er hätte sein müssen. Das schimmernde Band der Sterne verschwand entlang einer gezackten, unregelmäßigen Linie, unter der schwarze Finsternis herrschte.

»Siehst du es?« fragte Gowenna noch einmal.

Diesmal nickte Skar. »Ich sehe es«, murmelte er, ohne den Blick vom Horizont zu wenden. »Aber ich kann deinen Optimismus nicht teilen, Gowenna. Wer sagt dir, daß hinter diesen Bergen etwas anderes ist als diesseits? Wenn es überhaupt Berge sind.«

»Niemand«, erwiderte Gowenna trotzig, den letzten Teil seiner Antwort bewußt ignorierend. »Aber hast du eine bessere Idee? Selbst wenn uns der Dronte nicht angreift, erfrieren oder verhungern wir in ein paar Wochen, wahrscheinlich eher. Da greife ich lieber nach dieser Chance, und sei sie noch so gering.«

»Natürlich«, seufzte Skar. »Es war auch nur...« Er brach ab, senkte den Blick und rang sich ein halbherziges Lächeln ab. Gowenna berührte ihn am Arm und legte den Kopf auf die Seite.

»Du mißtraust mir noch immer.«

»Tue ich das?«

Gowenna nickte. »Ja. Und ich kann es dir nicht einmal verübeln. Ich habe dich ein paarmal zu oft belogen, um noch Vertrauen von dir verlangen zu können, glaube ich. Ich kann dich nur bitten, mir zu glauben.«

»Was zu glauben?« fragte Skar. »Daß du nichts weißt? Daß du mit deiner Kunst am Ende bist, so wie ich und alle anderen?« Er schüttelte den Kopf, streifte ihre Hand ab und deutete auf den still daliegenden See hinunter. Von hier oben aus betrachtet wirkte er wie ein gigantischer schwarzer Spiegel, in dem sich das Licht der Sterne brach. Vielleicht wäre es für Skar jetzt an der Zeit gewesen, irgendein versöhnliches Wort zu sprechen, aber ihm stand der Sinn nicht nach großmütigen Gesten; im Gegenteil. Alles, was er fühlte, war eine immer tiefer werdende Verzweiflung.

»Angenommen«, fuhr er nach einer Weile des Schweigens fort, »wir überqueren diese Berge und finden auf der anderen Seite nichts als noch mehr Eis und Schnee - was dann?«

»Hast du Angst vor dem Tod, Satai?«

Skar nickte ungerührt. »Du nicht? Ich kalkuliere ihn ein, bei allem, was ich tue, aber das bedeutet nicht, daß ich ihn nicht fürchte. Vor allem dann, wenn er sinnlos ist.« Er seufzte, verbarg die Hände unter seinem Fellumhang und trat nach kurzem Zögern vom Abgrund zurück.

»Ich bin gespannt«, fuhr er in verändertem Tonfall fort, »was Helth sagen wird, wenn ich ihm mitteile, daß er seinen ganzen Kram hier heraufschaffen muß.«

»Das muß er nicht«, erwiderte Gowenna. »Es gibt eine Stelle weiter hinten in der Höhle, wo die Decke so dünn ist, daß das Licht hindurchscheint. Wir können sie durchbrechen und von dort aus hier heraufkommen.«

»Du hast alles genau geplant, wie?« fragte Skar, ohne aufzublicken. »Sicher. Ich hatte nicht vor, in diesem Eisloch zu überwintern, weißt du?«

Skar setzte zu einer scharfen Antwort an, beließ es aber dann doch bei einem resignierenden Achselzucken. Ihr Zerwürfnis war keineswegs vergessen, auch wenn es nicht einmal offen zum Ausbruch gekommen war. Und fast hätte sich Skar wohler gefühlt, wenn sie sich wirklich gestritten hätten. Sie hatten einen Burgfrieden geschlossen, mehr nicht. Und er nahm sich vor, sich dieser Tatsache immer bewußt zu sein. In jeder Beziehung.

»Und dann?« fragte er.

Gowenna runzelte fragend die Brauen. »Was dann?«

»Der Gedanke, mit einem halben Hundert bis zum Tode erschöpfter Männer über diese Eiswüste zu marschieren, gefällt mir nicht. Sie werden mich fragen, wohin wir gehen. Und ich weiß keine Antwort. Oder«, fügte er wider besseres Wissen hinzu, »soll ich ihnen sagen, daß wir unterwegs sind, um deine Rache zu vollziehen?«

Gowennas Mine verdüsterte sich. »Sag ihnen, was du willst«, schnappte sie.

»Natürlich«, nickte Skar. »Schließlich bin ich ja der Kommandant, nicht?«

Gowenna überging den sarkastischen Tonfall. »Ich weiß nicht, was du ihnen sagen wirst, Skar, aber ich beneide dich nicht um diese Aufgabe.«

»Oh«, spöttelte Skar, »danke. Dein Mitgefühl freut mich.«

»Und dein Spott verletzt mich«, gab Gowenna ernst zurück. »Ich weiß, daß du glaubst, guten Grund dazu zu haben, aber er hilft uns nicht weiter. Wir haben gar keine andere Wahl, als zu diesen Bergen zu gehen.«

Skar schwieg, aber er dachte an Helth, diesen ungestümen jungen Narren, der ihm nur genauso lange gehorchen würde, wie es ihm paßte. Nein; Gowenna hatte recht. Sie konnten nicht hierbleiben. Vielleicht wäre es möglich gewesen ohne Helth, sie hätten auf die winzige Chance bauen können, daß sich der Dronte zurückzog, daß er sie nicht noch einmal angriff. Aber auch das war nur ein Vielleicht. Es konnte Tage dauern, vielleicht Wochen, bis sich das bizarre Wesen soweit erholt hatte, daß es den Kanal freigab. Es war ausgeschlossen, so lange tatenlos herumzusitzen. Ging die Rechnung nicht auf, würden sie trotzdem fliehen müssen. Eine Woche oder einen Monat älter und erschöpfter. Nein - es blieb ihnen keine andere Wahl.

Wie oft hatte er diese Worte schon gedacht, seit er Gowenna zum ersten Mal begegnet war? Zu oft auf jeden Fall. Zu oft hatte er keine andere Wahl mehr gehabt, als das Falsche zu tun. Es war falsch gewesen, Ikne zu verlassen; falsch, nach Combat zu gehen; und falsch, sich Vela auf den brennenden Ebenen vor der Stadt in den Weg zu stellen; falsch, ihr nach Elay zu folgen, falsch, falsch...

Er sah auf, aber Gowenna hatte sich ein paar Schritte entfernt und stand hoch aufgerichtet und starr im Wind, das Gesicht den Bergen am Horizont zugewandt, und er spürte, daß es nicht richtig wäre, sie jetzt zu stören. Vielleicht war es das letzte Mal in ihrem Leben, daß sie noch einmal so etwas wie Hoffnung verspüren konnte.

Er sah wieder auf den See hinab. Das Bild wirkte so friedlich, so absurd friedlich.

Aber wann hatte er das letzte Mal wirklichen Frieden empfunden? Seine Gedanken kehrten wieder - vielleicht ausgelöst durch die gleiche Situation, die Tatsache, daß er zum zweiten Mal in kurzer Zeit auf der Zinne dieser eisigen Festung stand, zum zweiten Mal nicht allein und doch einsamer als je zuvor in seinem Leben, und zum zweiten Mal am Vorabend einer Schlacht, die er nicht gewinnen konnte - vielleicht ausgelöst durch diese Wiederkehr der Umstände, dachte er wieder an Del, und wieder verspürte er diese seltsame Mischung aus Trauer und Zorn und Verbitterung, wieder war es der Del, den er in Cosh verloren hatte, nicht der, welcher in der Höhle unter ihnen über die schlafende Errish wachte. Ein Bild stieg vor seinem inneren Auge auf; eigentlich zwei Bilder, in einer blitzartigen Vision vermengt zu einem einzigen. - Er sah noch einmal die schwarze, hornschimmernde Gestalt auf dem Achterdeck des Dronte, und er sah noch einmal Brad, der mit einem lautlosen Schrei auf den Lippen in die Tiefe stürzte.

»Woran denkst du?«

Skar sah auf, hielt Gowennas Blick einen Moment stand und starrte dann wieder auf den See hinab. »An Del«, antwortete er.

»Del...« Irgendwie hatte das Wort in Gowennas Mund einen fremden, völlig anderen Klang. So, als spräche sie über einen ganz anderen Menschen als er. »Er hat sich verändert seit Elay, nicht?« Sie lächelte. »Er ist... erwachsen geworden.«

»Du irrst dich«, entgegnete Skar ruhig. »Ich meine nicht den Del, der mit uns auf dem Schiff ist. Der, den ich meine, ist in Cosh gestorben.«

Gowennas Miene verdüsterte sich. Sie blieb einen Moment reglos stehen, kam dann näher und berührte ihn an der Schulter, ganz sanft nur. Ihre Finger waren eisig und glatt, beinahe selbst wie Eis. »Wir hätten schon längst darüber reden sollen«, sagte sie. »Ich bin nicht blind, auch wenn du mir aus dem Weg gehst und nur mit mir sprichst, wenn es sich nicht umgehen läßt. Warum quälst du dich?«

Skar hob den Arm und wollte ihre Hand abstreifen, aber er führte die Bewegung nicht zu Ende, sondern umklammerte nur ihr Handgelenk. Sie zog ihre Hand nicht weg, wie sie es vorher immer getan hatte, aber er spürte, wie sie unter der Berührung zusammenfuhr.

»Warum quälst du dich so?« fragte sie noch einmal. »Ich war lange genug mit ihm zusammen, um -« Sie brach ab, als sie den Ausdruck von Schmerz auf seinen Zügen sah. Wie sollte er ihr erklären, was in ihm vorging? Er hatte Dels Leiche gesehen, einen toten, ausgebluteten Körper, halb vergraben im Schnee. Er hatte die Totenwache neben ihm gehalten, vier Tage, wie es Sitte war, und er hätte ihn begraben, mit eigenen Händen, würde er die Zeit dazu gehabt haben. Er WUSSTE, daß Del tot war.

»Was die Sumpfleute getan haben«, sagte Gowenna sanft, »war keine Zauberei, Skar. Du hast sie erlebt - du hast mit Cosh selbst gesprochen, Skar, du weißt, wozu dieses Wesen in der Lage ist.« Ja, er wußte es. Noch jetzt glaubte er einen schwachen Hauch der ungeheuren geistigen Macht zu spüren, die ihn gestreift, irgend etwas in seiner Seele berührt und verändert hatte. Nicht einmal der Tod konnte für dieses Wesen unbesiegbar sein.

Und trotzdem. Wenn er die Augen schloß, sah er Dels totes Gesicht, wenn er mit ihm sprach, hörte er den Wind, der die Melodie zu seiner Totenwache gesungen hatte.

»Während du auf dem Weg nach Elay warst, Skar«, sagte Gowenna, »war er bei mir. Wir waren vier Monate zusammen. Und es gab während der ganzen Zeit nur ein Thema für ihn, Skar. Dich. Dieser Junge ist von den Toten wiederauferstanden, und sein erster Gedanke galt DIR, begreifst du das? Er hatte Angst um dich.« Sie trat zurück und richtete sich auf. In ihrem Auge blitzte Zorn. »Er hat das Heer geführt, aber er hat es nicht nach Elay gebracht, um Vela zu besiegen, sondern weil er Angst um dich hatte. Er hat ein zweites Leben geschenkt bekommen, und er war bereit, es zu opfern, um dich zu retten. Und du dankst es ihm, indem du ihn behandelst wie...«

»Wie?« fragte Skar, als Gowenna nicht weitersprach.

»Wie einen Fremden«, fuhr sie fort. »Glaubst du, er merkt es nicht?« Sie schüttelte den Kopf, und diesmal war wirklich Zorn in ihrer Stimme. »Ich habe mich daran gewöhnt, daß du mich wie einen Feind behandelst. Vielleicht habe ich es verdient. Aber Del nicht. Er ist noch immer dein Freund, und es tut ihm weh, was du mit ihm machst. Gib ihm eine Chance. Das bist du ihm schuldig.«

»Ich... kann es nicht«, murmelte Skar. Plötzlich fiel es ihm schwer, ihrem Blick standzuhalten. »Vielleicht hast du recht, aber ich...« Er brach ab, fuhr mit einem Ruck herum und blickte auf den See hinunter. Aber er sah nicht die glänzende schwarze Fläche, sondern die verfallene Burgruine am Rande der Sümpfe von Cosh, in der er Dels Totenwache gehalten hatte.

Gowenna schwieg verwirrt. Sie wußte nicht, was in ihm vorging, nichts von dieser dunklen, bösen Macht in ihm, die mit jedem Tag stärker wurde. Und er würde es ihr auch nicht sagen. Nicht jetzt, und vielleicht gar nicht.

Gowenna seufzte hörbar. »Du gibst mir mit jedem Tag mehr Rätsel auf, Satai«, nahm sie das Gespräch wieder auf.

Skar lächelte. »Ich bin ein gelehriger Schüler, Gowenna.«

»Das kann man wohl sagen, Skar. Ich -«

Gowenna unterbrach sich überrascht und deutete mit einer raschen, erschrockenen Bewegung nach unten. Skar fuhr herum, sah aus zusammengekniffenen Augen auf den See hinunter und erstarrte.

»Dieser Narr!« zischte er. »Dieser verdammte, kindsköpfige Idiot!«

Das Licht reichte nicht aus, um wirklich Einzelheiten zu erkennen, aber das wenige, das Skar sehen konnte, reichte aus. Ein kleiner, schlanker Schatten hatte sich vom gedrungenen Umriß der SHAROKAAN gelöst und trieb nun, gehorsam dem Sog der Ebbe folgend, quer über den See auf den Kanal zu.

»Dieser Idiot«, sagte Skar noch einmal. »Man sollte ihn auf eine zweite Pinasse binden und hinterherschicken.« Er ließ sich dicht vor der Kante auf die Knie herab und formte mit den Händen einen Trichter.

»Helth!« schrie er mit vollem Stimmaufwand. »Ich verbiete es! Tu es nicht! Du bringst uns alle um!«

Seine Stimme schien im Schweigen der Nacht unnatürlich weit zu schallen, und von den blinkenden Eismauern tief unter ihm kamen grotesk verzerrte Echos zurück.

Aber eine Antwort erfolgte nicht. Dafür glomm hinter der Reling der SHAROKAAN ein winziger rötlicher Funke auf.

Skar wollte noch einmal rufen, aber Gowenna hielt ihn mit einem resignierenden Kopfschütteln davon ab. »Es hat keinen Sinn, Skar«, gab sie zu bedenken. »Er wird nicht gehorchen.«

Skar schüttelte den Kopf. Sie hatten eine halbe Stunde gebraucht, allein für den Weg von der Höhle hier herauf. Die Strecke bis ganz hinunter zum See und zur SHAROKAAN war mehr als doppelt so weit, und der Abstieg würde schwieriger werden als der Weg hinauf. »Nein«, sagte er. »Ich habe keine Lust, von der Explosion irgendwo in der Mauer erwischt zu werden. Das Boot braucht keine zehn Minuten, um den Kanal zu erreichen. Und dieser Irre wird sein Vorhaben ausführen, ganz egal, ob wir unterwegs sind oder nicht.«

Seltsamerweise blieb Gowenna ruhig. »Vielleicht hat er sogar recht«, murmelte sie plötzlich.

Skar starrte sie fassungslos an. »Wie bitte?« fragte er. »Sag das noch einmal, Gowenna.«

Gowenna gab einen undeutbaren Laut von sich. »Ich habe nur versucht, mich in seine Lage zu versetzen«, erklärte sie. »Wäre ich an seiner Stelle, würde ich vielleicht nicht anders handeln. Ich halte das, was er tut, nicht für gut, Skar, aber ich verstehe ihn. Er hat Vater und Bruder durch dieses Monster verloren. Und er ist ein Vede, vergiß das nicht. Von seinem Standpunkt aus hat er gar keine andere Wahl, wenn er sein Gesicht nicht verlieren will.«

Skar schwieg eine Weile. »Ich hoffe nur, er verliert es nicht im wahrsten Sinne des Wortes«, bemerkte er dann.

Gowenna machte eine wegwerfende Handbewegung. »Du übertreibst«, sagte sie. »Er wird ein bißchen Feuerwerk machen, und das ist alles.«

Skar nickte wütend. »Ja«, ergänzte er. »Und er wird dieses Ding zur Weißglut reizen. Wir -« Er brach ab, legte den Kopf auf die Seite und lauschte mit geschlossenen Augen. Auf seinem Gesicht erschien plötzlich ein angespannter, nervöser Ausdruck.

»Was ist?« fragte Gowenna.

Skar machte eine rasche Handbewegung und legte den Zeigefinger auf die Lippen. »Ruhig«, zischte er. »Ich... höre etwas.«

Gowenna trat einen halben Schritt zurück. Ihre Hand zuckte zum Gürtel, und ihre Haltung war mit einem Mal so angespannt wie die Skars.

»Schritte«, flüsterte sie. »Das sind Schri... Skar!«

Das letzte Wort hatte sie geschrien. Skar fuhr herum, riß sein Schwert aus dem Gürtel und starrte in die Richtung, in die ihr ausgestreckter Arm wies.

Vor dem sternenübersäten Himmel zeichneten sich zwei dunkle, hochaufgeschossene Schatten ab.

»Ihr Götter!« keuchte Gowenna. »Was ist das?«

Skar wußte die Antwort nicht. Er wußte nur, was die beiden Gestalten nicht waren - nämlich Menschen. Sie waren zu groß, ihre Proportionen stimmten nicht, und ihre Umrisse schienen zu eckig und hart. Die beiden Fremden kamen langsam näher. Ihre Schritte knirschten hörbar auf dem harten Eis, und ihre Bewegungen schienen, obwohl eckig und von fast unbeholfen wirkender Starrheit, ungeheuer kraftvoll. Alles an ihnen strahlte Kraft aus, eine Kraft und Wildheit, die beinahe fühlbar war. Ihre Haut glänzte, wo sich das Licht der Sterne darauf brach.

Langsam, Schritt für Schritt, wichen sie vor den beiden Fremden zurück. Skar konnte mehr Einzelheiten erkennen, als die beiden schweigenden Riesen näher kamen: Sie mochten beide über sechs Fuß groß sein, und ihre Schulterbreite mußte annähernd das Doppelte der eines normal gewachsenen Mannes betragen. Ihre Körper waren bis auf den letzten Quadratmillimeter von weißen, glänzenden Panzern bedeckt, und die Gesichter verbargen sich hinter glatten Masken ohne sichtbare Öffnungen für Augen oder Mund. Sie waren mit großen dreieckigen und mit gefährlichen Widerhaken bewehrten Schilden und Schwertern bewaffnet, und auch aus den Arm- und Beinstücken ihrer Rüstung wuchsen lange, gefährliche Dorne. Sie wirkten auf schwer zu beschreibende Art roh und unfertig, kaum wie Menschen, sondern fast wie gewaltige, lebensgroße Statuen, die durch einen unbegreiflichen Zauber zum Leben erweckt und von ihren Sockeln herabgestiegen waren.

Aber das war es nicht, was Skar bis auf den Grund seiner Seele erschreckte. Er hatte schon oft gegen gefährliche und bizarre Gegner antreten müssen und auch gegen solche, deren Bewaffnung eindrucksvoller war als die der beiden Riesen. Es war etwas anderes.

Ihre Rüstungen waren nicht geschmiedet oder sonstwie gefertigt. Sie waren gewachsen.

Die beiden Angreifer bewegten sich jetzt langsam auseinander, und obwohl Skar ihre Gesichter nicht erkennen konnte, hatte er das deutliche Empfinden, beobachtet, angestarrt zu werden, angestarrt von Augen, die bis in die tiefsten Abgründe seiner Seele starrten. Es war das gleiche Gefühl, das er schon einmal gehabt hatte, dort unten, an Bord des Dronte, ein Gefühl, das ihn fast mehr ängstigte als die riesenhaften Gestalten und die Waffen in ihren Händen. Das Gefühl, daß diese beiden Fremden trotz allem etwas Bekanntes, etwas auf schreckliche Weise Vertrautes darstellten...

»Nimm den Rechten«, flüsterte er. »Versuch ihn hinzuhalten. Ich kann nicht mit beiden zugleich kämpfen.«

Gowenna nickte. Er spürte die Bewegung mehr, als er sie sah, aber er wußte, daß er sich auf sie verlassen konnte. Sie war nicht so gut wie Del, aber sie war als Partner noch immer besser als irgendein anderer Mann, dem er je begegnet war. Er hatte sie kämpfen sehen. Der Riese würde sich wundern, wenn er glaubte, leichtes Spiel mit einer Frau zu haben.

Skar wechselte das Schwert von der Rechten in die Linke - nachdem sein Tschekal beim Kampf auf dem Dronte zerbrochen war, hatte er sich ein Ersatzschwert von den Freiseglern geben lassen -, griff unter den Umhang und zog einen der fünfzackigen Shuriken hervor. Das vertraute Gewicht des Wurfsternes flößte ihm für eine halbe Sekunde ein Gefühl trügerischer Sicherheit ein.

Er wog die Waffe abschätzend in der Hand, holte aus und schleuderte sie mit aller Macht. Der silberne Metallstern verwandelte sich in ein funkelndes, irrsinnig schnell rotierendes Rad und jagte mit ungeheurer Wucht auf einen der gepanzerten Riesen zu. Die Abwehrbewegung des Mannes kam zu spät. Der Shuriken schrammte über die Kante des im letzten Moment hochgerissenen Schildes, kippte im Flug in die Waagerechte und bohrte sich mit einem schmetternden Schlag in sein Gesichtsvisier. Die Kraft des Wurfes war so gewaltig, daß die Waffe fast zur Hälfte in das glänzende Visier eindrang, ehe sie zitternd steckenblieb.

Der Riese wankte. Ein dumpfer, stöhnender Laut wehte über die Eismauer. Er ließ den Schild fallen, hob die Hände ans Gesicht und zerrte vergeblich an der kleinen, tödlichen Waffe.

Die rasiermesserscharf geschliffenen Kanten mußten tief in seinen Schädel eingedrungen sein, aber er fiel nicht. Langsam senkte er die Hände, bückte sich, um seinen Schild aufzuheben und kam weiter auf Skar zu, das Schwert halb erhoben, den Schild abwehrbereit vor den Körper haltend. Der Shuriken ragte aus seinem Gesichtsvisier, direkt dort, wo sich die Augen unter dem schimmernden Weiß verbargen. Er mußte blind sein, blind und halb wahnsinnig vor Schmerzen. Aber er fiel nicht.

Skar war für die Dauer eines Herzschlages starr vor Überraschung. Er wußte, welch grauenhafte Wunden die Shuriken rissen, Wunden, die selbst einen Banta vor Schmerz aufschreien ließen, die kein Mensch überleben konnte. Aber dieses... Ding marschierte weiter, stumm, unbeeindruckt, tödlich.

Ein dumpfes, von einem schmerzhaften Aufschrei gefolgtes Krachen zeugte davon, daß Gowenna mit ihrem Gegner zusammengeprallt war. Aber Skar blieb keine Zeit, auch nur einen Blick an sie zu verschwenden.

Der Gigant griff an.

Skar spreizte die Beine und packte seine Waffe mit beiden Händen, als der dornengepanzerte Riese heranstürmte. Sein Schwert zuckte hoch, parierte einen ungeschickten, aber ungeheuer kraftvoll geführten Hieb des Angreifers und krachte in der Abwärtsbewegung auf dessen Schild. Der Riese taumelte zurück, aber der Schlag vibrierte als dumpfer, krampfartiger Schmerz durch Skars Handgelenke bis in die Schulter hinauf. Der Schild des Giganten war so hart, als bestünde er aus fingerdickem Stahl. Seine Klinge vibrierte, und die Schneide hatte, wie er mit einem raschen Blick feststellte, eine tiefe Scharte abbekommen.

Skar änderte blitzartig seine Taktik. Als sein Gegner das nächste Mal heranstürmte, fing er seinen Hieb nicht auf, sondern ließ die Klinge dicht über sich hinwegzischen, trat noch einen Schritt auf ihn zu und krümmte blitzschnell den Rücken. Der Angreifer prallte gegen ihn, wurde - von der Wucht seines ungestümen Ansturmes getragen - von den Füßen gerissen und flog in hohem Bogen über Skar hinweg. Skar wirbelte herum, bevor der Gigant auf dem Boden aufprallte. Er sprang mit einem gellenden Schrei vor, federte kurz in die Knie ein und stieß sich mit aller Macht ab. Seine Füße krachten auf das Visier, glitten ab und bildeten eine tödliche Schere, als er sich im Sprung herumwarf.

Der Ruck schien ihm die Knie aus den Gelenken zu reißen. Der feindliche Krieger wurde hochgerissen und zur Seite geschleudert. Skar prallte hart auf das Eis, verlor sein Schwert und drehte sich blitzschnell auf den Rücken, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie der Riese sich mühsam auf Hände und Knie erhob und nach seinen Waffen tastete.

Skar raffte sein Schwert auf, sprang auf die Füße und holte beidhändig aus, die Klinge krachte in den Nacken des Giganten, schnitt splitternd und berstend durch seine Panzerung und trennte den Schädel vom Körper. Der Krieger brach wie vom Blitz gefällt zusammen und blieb reglos liegen. Sein Helm kollerte davon, fiel über die Kante und verschwand lautlos in der Tiefe.

Skar blieb einen Moment lang bewegungslos stehen. Seine Arme und Beine zitterten, und sein ganzer Körper war ein einziger pulsierender Schmerz. Sein Schwert schien Zentner zu wiegen, und seine Schultermuskeln waren verspannt und schienen seinen Befehlen nicht mehr zu gehorchen.

Mühsam wandte er sich um und hielt nach Gowenna Ausschau. Sie hatte weniger Glück gehabt als er. Ihr linker Arm hing blutend und nutzlos herunter, und Skar sah, wie ihr Körper bei jedem Schwerthieb des schwarzen Riesen, den sie auffing, von einem schmerzhaften Krampf geschüttelt wurde. Ihr Gesicht war verzerrt von Anstrengung.

Es war nicht Skars Art, einem Gegner in den Rücken zu fallen, aber dies war kein normaler Kampf, und ihre Feinde waren keine normalen Feinde. Ohne ein Wort der Warnung sprang er von hinten an den weißen Riesen heran, packte das Schwert mit beiden Händen und stieß mit aller Macht zu. Die Klinge fuhr krachend durch den Rückenpanzer, glitt mit überraschender Leichtigkeit durch den Körper und barst durch den Brustpanzer wieder hervor.

Skar riß die Waffe mit einer verzweifelten Anstrengung wieder heraus und sprang rasch zwei, drei Schritte zurück. Der Riese wankte. Sein Schwert, bereits zum tödlichen Hieb erhoben, verharrte reglos in der Luft. Er taumelte, drehte sich mit mühsamen, ungelenken Bewegungen herum und brach in die Knie.

Skar sammelte noch einmal alle Kraft, wirbelte blitzartig um seine eigene Achse und schlug aus der Drehung heraus zu. Der Hieb trennte den linken Arm seines Gegners ab, zertrümmerte seinen Brustpanzer und drang fast bis zur Körpermitte ein, ehe die Klinge mit einem knirschenden Laut steckenblieb. Der Riese blieb für die Dauer eines Herzschlags reglos hocken und kippte dann, wie eine Marionette, deren Fäden man urplötzlich durchgeschnitten hatte, zu Boden.

Gowenna sank mit einem schmerzhaften Keuchen in die Knie, blieb einen Moment benommen hocken und hob die Hände ans Gesicht. »Bei allen Göttern«, keuchte sie. »Was war das?«

Skar drehte den reglosen Körper mit dem Fuß auf die Seite. Nach der ungeheuren Kraft, mit der die Giganten gekämpft hatten, erschien er ihm seltsam leicht; fast, als wäre er nicht mehr als eine leere Hülle. Er sah sich kurz nach allen Seiten um, starrte konzentriert über die Eisfläche und schob sein Schwert in den Gürtel zurück. Dann ging er rasch zu Gowenna hinüber und kniete neben ihr nieder.

»Was ist mit deinem Arm?« fragte er besorgt.

Gowenna schüttelte schwach den Kopf. »Nichts«, sagte sie. »Nur ein Kratzer, mehr nicht.«

Skar schob ihre Hand beiseite und betrachtete die Wunde. Es war ein tiefer und sehr schmerzhafter Schnitt, der aber nicht gefährlich schien. Er riß einen Stoffstreifen von seinem Hemd und befestigte ihn zu einem provisorischen Verband über Gowennas Schulter. Sie wollte sich wehren, aber er schob ihre Hand mit sanfter Gewalt beiseite und zog den Verband fest, bis die Blutung zum Stillstand kam. »Wir werden uns etwas Besseres einfallen lassen müssen, wenn wir wieder in der Höhle sind«, sagte er. »Aber für den Moment wird es reichen.« Gowenna nickte dankbar. Sie versuchte aufzustehen, strauchelte und wäre gestürzt, wenn Skar nicht zugegriffen hätte.

»Was... was war das?« fragte sie noch einmal.

Skar zuckte hilflos mit den Schultern. »Jemand, der uns nicht mag«, antwortete er halblaut. »Aber frag mich jetzt nicht, wo sie hergekommen sind. Ich weiß es sowenig wie du.«

Er stand wieder auf, trat - mit sichtlichem Widerwillen - neben den gefallenen Riesen und ließ sich auf die Knie herabsinken. Seine Finger tasteten behutsam über den schwarzschimmernden Panzer.

»Das... das ist kein Metall«, sagte er.

»Sondern?«

Skar zögerte. Seine Finger glitten weiter über den zerborstenen Brustpanzer und fuhren prüfend über die scharfkantigen Ränder des Risses. Kälte. Er fühlte Kälte, sterile, tödliche Kälte. »Eis«, murmelte er. »Es fühlt sich an wie Eis.« Er tauschte einen hilflosen Blick mit Gowenna, drehte den toten Giganten schließlich mit einem entschlossenen Ruck auf den Rücken und betrachtete den zersplitterten Armstumpf.

Gowenna stieß einen überraschten Laut aus.

Die Rüstung war leer.

»Aber das ist doch... unmöglich«, stammelte sie. »Das ist...« Sie bückte sich, griff zögernd nach dem abgeschlagenen Arm des Riesen und hob ihn auf.

»Leer«, flüstert sie. »Er ist leer!«

Skar schwieg. Die beiden Riesen waren nichts als leere Rüstungen gewesen. Es schien unmöglich, aber er hielt den Beweis in Händen. Auf seinem Gesicht lag ein betroffener, hilfloser Ausdruck, als er aufstand.

»Wir müssen hinunter«, sagte er leise. Der Wind fing seine Worte auf, trug sie davon und verzerrte sie. Skar fror plötzlich stärker. »Wir müssen die anderen warnen. Wenn diese Bestien unten in der Höhle auftauchen...«

»Du glaubst, es gibt noch mehr davon?«

Skar zuckte mit den Achseln. »Ich weiß es nicht«, gab er zu. »Aber wo zwei sind, können auch mehr sein. Wir müssen die anderen auf jeden Fall warnen. Komm.«

Gowenna trat dicht an die Eiskante heran, ließ sich auf Hände und Knie sinken und sah konzentriert zum See hinunter. Die Pinasse hatte mehr als zwei Drittel ihres Weges zurückgelegt.

»Wir können es bis zu diesem Absatz schaffen«, murmelte sie. »Aber nur, wenn wir uns beeilen.«

»Und dein Arm?«

Gowenna machte eine wegwerfende Geste. »Es wird gehen. Ich habe Schlimmeres überlebt.« Sie lächelte mit erzwungenem Optimismus, drehte sich herum und tastete mit den Füßen nach Halt. Langsam, Zentimeter für Zentimeter, ließ sie sich über die Kante gleiten. Skar sah, wie sich ihre Muskeln unter der Anstrengung spannten. Der Verband über ihrer Schulter rötete sich; die Wunde hatte wieder stärker zu bluten begonnen.

Skar war nicht sehr wohl bei dem Gedanken - aber er wußte auch, daß sie keine andere Wahl hatten. Gowenna und er waren - von Del einmal abgesehen - die besten Kämpfer der Gruppe, und selbst sie hatten die beiden Eiskrieger nur mit Glück und knapper Not besiegt. Wenn auch nur ein halbes Dutzend dieser Monster über die ahnungslosen Freisegler herfiel... Skar schob die Vorstellung hastig beiseite. Wieder sah er zum See hinunter. Die Pinasse war nicht mehr als ein dunkler, langgestreckter Schatten auf den glitzernden Wellen, weniger noch; nur noch daran zu erkennen, daß sich das Sternenlicht an dieser Stelle nicht auf dem Wasser spiegelte. Ihre Bewegung war von hier oben nicht wahrzunehmen. Trotzdem kam es ihm für den Moment vor, als schösse sie auf den nebelverhangenen Kanal zu.

»Ich bin unten«, drang Gowennas Stimme zu ihm herauf. »Du kannst nachkommen.«

Skar ließ sich, Gowennas Beispiel folgend, auf Hände und Knie hinab und kletterte über die Kante. Das Eis erschien ihm glatter als zuvor, und er drohte mehr als nur einmal den Halt zu verlieren, ehe er auf dem schmalen Eissims neben Gowenna anlangte. Sein Herz raste, und er war trotz der Kälte in Schweiß gebadet. Dabei hatten sie erst den ersten - und leichtesten - Abschnitt des Weges geschafft. Unter ihnen lag eine fast fünfzehn Meter tiefe, senkrecht abfallende Schlucht. Es war ihm fast ein Rätsel, wie sie es geschafft hatten, jemals hier heraufzukommen.

Er wollte weiterklettern, aber Gowenna hielt ihn mit einer raschen Bewegung zurück. »Nicht«, murmelte sie. »Schau.«

Skar sah auf. Sein Herz schien einen schmerzhaften Sprung zu machen, als er auf den See hinabsah.

Die Pinasse hatte den Kanal erreicht. Für einen Moment war sie deutlicher zu erkennen, als sie in die Nebelbank eindrang und sich ihr Umriß schwarz und massig gegen das graue Wogen abhob.

Hinter der Reling der SHAROKAAN glommen vier, fünf, schließlich ein Dutzend kleiner roter Funken auf, Funken, die sich urplötzlich in dünne feurige Linien verwandelten und über den See zischten. »Zu kurz«, murmelte Gowenna.

Skar nickte, die Pfeile waren allesamt zu kurz gezielt. Sie erhoben sich in die Luft, senkten sich dicht vor der Mitte des Sees wieder und fielen weit hinter der Pinasse ins Wasser.

Eine zweite Salve jagte vom Deck der SHAROKAAN zum Kanal hinüber, auch sie zu kurz, aber schon wesentlich näher als die erste. Die Pinasse war jetzt mehr als zur Hälfte in die Nebelbank eingedrungen.

»Wenn er noch zweimal danebenschießt, ist sie weg«, murmelte Gowenna.

Skar antwortete nicht darauf. Es war ein frommer Wunsch, und Gowenna wußte es so gut wie er. Helth' Männer waren zu gute Schützen, um ein so großes Ziel zu verfehlen, selbst auf diese Entfernung. Diese beiden ersten Salven waren nicht gezielt gewesen, keinem anderen Zweck dienend, als das Ziel zu fixieren und die Windstärke festzustellen.

Er suchte mit den Händen nach festem Halt an der spiegelnden Mauer und beugte sich ein wenig vor, um einen besseren Blick auf die SHAROKAAN hinab zu haben. Er konnte nicht genau erkennen, was an Bord des Freiseglers vorging, aber eine der dunklen Gestalten hinter der Reling kam ihm ein wenig größer als die anderen vor. Helth. Er schien nicht einmal zu begreifen, in welcher Gefahr er schwebte. Vielleicht war es ihm auch gleichgültig. Vielleicht suchte er auch den Tod. Aber es war nicht nur sein Leben, das er aufs Spiel setzte, sondern ihrer aller.

Wieder glomm der grelle Funke einer brennenden Pechspitze hinter der Reling der SHAROKAAN auf. Ein einzelner Pfeil erhob sich in die Luft, zeichnete eine flackernde, vielfach unterbrochene Feuerlinie über den See und senkte sich mit tödlicher Präzision auf die Pinasse herab.

Das Beiboot verschwand im gleichen Moment hinter der Einfahrt des Kanals, in dem der Pfeil in sein Heck einschlug. Skar hielt unwillkürlich den Atem an. Für zehn, fünfzehn, zwanzig quälende, endlose Sekunden geschah gar nichts, dann glomm hinter der Zufahrt der Eisschlucht ein rotes, böses Licht auf, wuchs zu einer Flamme, einem... Skar schloß gequält die Augen. Ein weißer, ungeheuer greller Feuerball barst aus dem Kanal hervor, tauchte den See und die Eismauer in gleißende Helligkeit und schickte gierige Flammenarme auf das Wasser hinaus. Ein ungeheurer Donnerschlag erschütterte den See, und Skar spürte selbst hier, fast eine Meile entfernt, den glühenden Luftzug, der die Druckwelle begleitete. Er sank auf die Knie und blickte aus tränenden Augen auf die SHAROKAAN herab. Das Schiff verwandelte sich vor dem Hintergrund des brennenden Eises in einen flachen schwarzen Schatten.

Der Feuerball der Explosion erlosch, aber es war noch nicht vorbei. Aus dem Kanal ergoß sich Feuer in den See; brennendes Wasser, das sich zu einer sprudelnden Flutwelle auftürmte, einer Welle, die schäumend und brüllend über den See schoß, seine Ufer in Brand setzte und die SHAROKAAN wie ein Hammerschlag traf. Das Schiff legte sich in einer unheimlich langsam erscheinenden Bewegung auf die Seite, glitt, von der Gewalt der Flutwelle vorwärts getrieben, ein Stück weit den Strand hinauf und fiel mit einem berstenden Schlag zurück. Drei, vier der winzigen Gestalten, die auf seinem Deck herumgekrabbelt waren, wurden hoch in die Luft und über die Reling geschleudert. Lautlos verschwand das Schiff im kochenden Wasser.

»Skar! Sieh!« Gowenna deutete mit schreckverzerrtem Gesicht über den See.

Der Kanal spie noch immer Feuer. Das Eis selbst schien in Flammen zu stehen, und das Wasser erglühte unter einem unheimlichen, rotgelben Licht, als wäre am Grunde des Sees ein Tor zur Hölle aufgestoßen worden. Das Wasser im Kanal kochte, aber die Dampfschwaden wurden immer wieder von grellweißen Stichflammen zerfetzt, und von den Wänden ergossen sich wahre Sturzbäche dampfenden Schmelzwassers.

Und inmitten dieses Chaos erschien der Dronte!

Zuerst war er nicht mehr als ein schwarzer, verschwommener Umriß, der hinter der Wand aus Licht und Hitze mehr zu ahnen als wirklich zu erkennen war. Dann brach sein Bug durch den Feuervorhang, schwarz, gewaltig und brennend wie der Kopf eines flammenden Rachedämons, teilte das sprudelnde Wasser und schoß weit auf den See hinaus.

Der Dronte brannte. Grelle, orangerote Flammenzungen schlugen aus seinem Rumpf, leckten an den Masten empor und ließen die schwarzen Segel, kaum regeneriert und noch nicht mehr als dünne, verwundbare Häute, zu öligen schwarzen Fäden zusammenschmelzen. Aber er bewegte sich trotzdem weiter, die mächtigen schwarzen Feuerspuren noch unter Wasser nach sich ziehend, und katapultierte den gigantischen Leib unaufhaltsam auf die SHAROKAAN zu. Skar stöhnte vor Schrecken, als er erkannte, was der Dronte beabsichtigte.

Der Killersegler schoß weit über die Mitte des Sees hinaus. Die Backbordruder hoben sich, bildeten ein brennendes, zerschmelzendes Spalier längs der Reling, während sich die Steuerbordruder ein letztes Mal ins Wasser senkten und den Dronte in eine enge Drehung zwangen.

Als er die Wende halb vollendet hatte, schossen seine Feuerkatapulte eine volle Breitseite ab.

Die SHAROKAAN explodierte.

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