17.

Der Talkessel war rund: von so perfekter Form, als wäre er mit einem gewaltigen Zirkel vorgezeichnet und dann ausgestanzt worden, ein Trichter mit steil aufgeworfenen Wänden und nahezu flachem, eisfreiem Boden. Der mattschwarze Fels an seinem Grund saugte das Licht der Sterne auf, so daß Skar das Gefühl hatte, in einen gewaltigen, bodenlosen Schacht zu blicken.

Helth bewegte sich neben ihm. Sein metallener Schild schabte hörbar über den Fels, als er sein Körpergewicht von der einen auf die andere Seite verlagerte. Skar warf ihm einen stummen, mahnenden Blick zu. Trotz des unablässig heulenden Windes schien ihm jeder Laut überdeutlich hörbar zu sein. Er wußte, daß dieser Eindruck zu einem Gutteil einzig in seiner eigenen Nervosität begründet war, aber er wußte auch, daß sie es nicht mit menschlichen Gegnern zu tun hatten. Obwohl sie die beiden Gestalten am Grunde des vereisten Trichters nur als dunkle Schemen erkennen konnten, war ihnen allen klar, wem sie gegenüberstanden.

Er schob sich ein Stück in den Schatten des Felsüberhanges zurück und versuchte, das stoffliche Schwarz auf der anderen Seite des Kraters mit Blicken zu durchdringen. Del und Gowenna waren irgendwo dort drüben, in der Dunkelheit selbst nicht mehr als zwei Schatten und so lautlos wie die Wesen, die sie belauerten.

Es waren keine Menschen. Sie waren zu weiß und zu eckig, und ihre Bewegungen waren ruckhaft und abgehackt wie die von Puppen, die von unsichtbaren Fäden bewegt wurden.

Er kroch weiter zurück, richtete sich behutsam auf die Knie auf und winkte Helth mit einem stummen Blick zu sich heran. Der Vede kroch lautlos an seine Seite, legte seinen Schild - vorsichtig, um jeden überflüssigen Laut zu vermeiden - zu Boden und erhob sich ebenfalls auf die Knie. »Warum greifen wir sie nicht an?« fragte er.

Skar unterdrückte die scharfe Antwort, die ihm auf der Zunge lag. Helth' Ungeduld war durchaus verständlich; vielleicht hatte er sogar recht, von seinem Standpunkt aus. Er durfte nicht in den Fehler verfallen, Helth von vornherein als Prellbock für seine gereizten Nerven zu benutzen. Trotz allem war er ein Vede und damit ein Mann, der das Kriegshandwerk ebensogut beherrschte wie er. Er schüttelte stumm den Kopf, gebot Helth mit einer Geste zu schweigen und sah an ihm vorbei zur gegenüberliegenden Seite des Kraters, wo Del und Gowenna auftauchen mußten. Del hatte gesagt, er würde ihm ein Zeichen geben, wenn er bereit war, aber nicht, welcher Art dieses Zeichen sein würde. Seltsam - früher hätte er über diese Frage nicht einmal nachgedacht.

»Wir warten, bis die anderen soweit sind«, sagte er widerwillig. Helth verzog das Gesicht. »Es sind nur zwei«, meinte er. »Ich glaube nicht, daß wir ihre Hilfe brauchen, um mit ihnen fertig zu werden.«

Skar schüttelte den Kopf. »Kannst du auch noch an etwas anderes als an Kampf und Tod denken?« fragte er scharf; schärfer, als er eigentlich beabsichtigt hatte. »Entschuldige«, fügte er nach einer Pause und in versöhnlichem Ton hinzu. »Es war nicht so gemeint. Aber gerade, daß es nur zwei sind, macht mir Sorgen. Ich frage mich, wo die anderen sein mögen.«

Helth lächelte. »Schon gut. Du hast ja recht.« Er gab einen Laut von sich, von dem Skar nicht ganz sicher war, ob er ein Seufzen oder etwas anderes ausdrücken sollte, setzte sich auf, so daß er nur noch auf den Zehenspitzen balancierte, und blickte wieder in den Krater hinab. Die beiden breitschultrigen weißen Gestalten hatten sich nicht gerührt. Wie leblose Statuen aus Eis standen sie vor dem mattschwarzen Fels, reglos, starr und stumm. Aber sie wirkten fast noch bedrohlicher, als hätten sie ein Zeichen von Leben von sich gegeben.

Helth' Augen brannten. Weder Skar noch Gowenna hatten viel von ihrer Begegnung mit den ersten beiden Eiskriegern erzählt; gerade, daß sie berichteten, wie sie auf sie gestoßen waren, und daß sie sie getötet hatten, aber das schien auch nicht nötig. Skar konnte den Haß, der in dem jungen Vede brannte, beinahe riechen.

Er versuchte sich in seine Lage zu versetzen, aber es gelang ihm - wenn überhaupt - nur sehr unvollständig. Für Helth waren die beiden Krieger dort unten die Mörder seines Vaters. Seines Vaters, seines Bruders, seiner Mutter und letztlich auch seines Schiffes. Vielleicht seine eigenen Mörder.

Skar fragte sich, ob es nicht doch besser gewesen wäre, Helth zurückzulassen. Er war nicht mit dem Vorsatz hergekommen zu kämpfen, sondern vielmehr, die Eiskrieger zu beobachten. Eine Falle verlor viel von ihrer Gefährlichkeit, wenn man ihre Beschaffenheit erkannt hatte, und manchmal kehrte sie sich auch ins Gegenteil, so daß sich der, der sie aufgestellt hatte, darin fing. Aber Helth würde die erste Gelegenheit nutzen, sich auf seine Gegner zu stürzen und das zu vollziehen, was er vielleicht für Rache hielt.

Ein leises Geräusch drang in seine Gedanken: ein Klirren, als schlüge Stahl oder Glas gegen Fels. Vorsichtig erhob er sich auf die Zehenspitzen, balancierte sein Körpergewicht aus und griff nach seiner Waffe.

Das Geräusch wiederholte sich, ein wenig lauter, aber kaum näher und noch immer dicht an der Grenze des überhaupt Hörbaren. »Del?« fragte Helth leise.

Skar schüttelte stumm den Kopf. Der Laut schien von irgendwo jenseits der Berge zu kommen, aber es war schwer, in dieser bizarren Umgebung die Herkunft eines Geräusches wirklich zu bestimmen. Er sah auf und blinzelte zu den eisgekrönten Graten über ihren Köpfen empor. Für einen Moment glaubte er, einen schwachen rötlichen Lichtschein zu sehen.

»Ich sehe nach«, flüsterte Helth. Skar fuhr herum und wollte nach seinem Arm greifen, aber Helth war schneller. Mit einer geschmeidigen Bewegung sprang er auf, fuhr geduckt herum und verschwand nahezu lautlos in der Dunkelheit.

Skar schluckte im letzten Moment einen Fluch hinunter. Er hätte diesen verdammten Narren nicht mitnehmen dürfen! Del hatte recht gehabt - Helth würde sie mit seiner Unbeherrschtheit alle in Gefahr bringen.

Er richtete sich ein wenig weiter auf, gerade weit genug, um von den beiden Wesen, die sie belauerten, nicht gesehen werden zu können, ballte in stummem Zorn die Fäuste und starrte in die Richtung, in der Helth verschwunden war. Die Dunkelheit schien sich vor ihm zusammenzuballen; wie oft, wenn man sich zu sehr zu konzentrieren versuchte, sah er weniger als zuvor.

Aber es vergingen nur ein paar kurze Augenblicke, bis der Vede zurückkam. Sein Atem ging schnell. »Es ist niemand zu sehen«, flüsterte er. »Aber ich spüre, daß hier etwas nicht stimmt. Laß uns zurück zur Höhle gehen. Das ist eine Falle. Eine verdammte Falle, Skar!« Skar gebot ihm mit einer hastigen Geste zu schweigen und konzentrierte sich ganz auf die gedämpften Laute, die der Wind mit sich trug. »Das müssen die beiden anderen sein«, flüsterte Helth. Seine Stimme bebte vor Erregung. »Du hattest recht, Skar.«

»Halt endlich den Mund!« schnappte Skar. »Und wenn du das nächste Mal auf eigene Faust losläufst, sieh dich wenigstens richtig um, du Narr.« Er richtete sich ganz auf, wobei er allerdings darauf achtete, weiter im Schatten der überhängenden Felsen zu bleiben, unterstrich seine Worte noch einmal mit einer befehlenden Geste und versuchte, die dunkle Wand vor sich mit Blicken zu durchdringen. Das Gelände bot nicht viel Deckung. Zur Rechten waren die Berge, aber vor ihnen stellte der flache Trichter, in dem die beiden Eiskrieger warteten, das einzige Versteck dar, in dem auch nur ein Hund Platz gefunden hätte.

Er sah sich um, blickte nach oben, dann zurück nach Süden, zur Küste, die jetzt unsichtbar unter dem Mantel der Nacht verborgen lag. Für einen winzigen Moment glaubte er, etwas Gewaltiges, Körperloses und Finsteres zu sehen, das über das Eis auf sie zukroch.

»Skar!« Helth' Stimme war nicht viel mehr als ein heiseres Flüstern, als er ihn beim Arm ergriff und nach unten deutete. Die beiden Eiskrieger bewegten sich; langsam, beinahe träge, aber doch mit unglaublicher Kraft. Helth zitterte. Seine Hand krampfte sich so fest um den Griff seiner Waffe, daß seine Knöchel hörbar knackten. Noch einmal und mit fast schmerzhafter Deutlichkeit kam Skar wieder zu Bewußtsein, daß Helth ein Vede war. Ein Narr und ein halbes Kind zwar, aber trotzdem ein Angehöriger einer Kaste, deren Lebensinhalt der Kampf war, die von Kindesbeinen an in allen nur denkbaren Techniken und an allen bekannten Waffen ausgebildet wurden. Er hatte es fast vergessen. »Ruhig«, mahnte er. »Warte, bis Del und Gowenna soweit sind.« Helth nickte. Die Bewegung wirkte nervös, abgehackt. Wie Skar mußte er instinktiv erkannt haben, wie gefährlich die Gegner waren, denen sie gegenüberstanden.

Skar schob sich noch ein Stück weiter vor und starrte angestrengt zu den beiden Dronte-Kriegern hinab. Das Licht reichte nicht aus, Einzelheiten zu erkennen, aber er sah doch mehr als von seinem Beobachtungsposten unter dem Felsüberhang aus. Sie unterschieden sich von den beiden, auf die Gowenna und er getroffen waren. Ihre Bewegungen waren flüssiger, noch immer ruckhaft und alles andere als menschlich, aber trotzdem schneller und auf schwer zu beschreibende Art eleganter, und die Kraft, die hinter ihnen lauerte, war beinahe sichtbar. Skar strengte sich verzweifelt an, mehr Einzelheiten zu erkennen, aber die Entfernung war zu groß und die Nacht zu dunkel. Trotzdem glaubte er, noch einen weiteren Unterschied zu sehen. Die Gesichter dieser beiden Eiskrieger waren nicht flach und konturlos wie die der ersten zwei. Menschliche Züge waren darauf zu erkennen, grob und nur angedeutet, aber unübersehbar.

Er lernt, dachte er schaudernd. Er lernt schnell. Es wird nicht mehr lange dauern, und er schickt uns Menschen entgegen, perfekte Kopien.

Aber Kopien wovon?

Skar kam nicht dazu, den Gedanken weiter zu verfolgen. Wieder ertönte vom gegenüberliegenden Rand des Kraters ein Geräusch, aber diesmal war es anders; ein Laut, den Skar nur zu gut kannte. Das dumpfe Geräusch, mit dem ein menschlicher Körper gegen Stein und Eis prallt. Ein gurgelnder, halb erstickter Schrei erklang, seltsam gedämpft und flach, wie durch einen Vorhang hindurch, und ein geduckter Schatten erschien am gegenüberliegenden Rand des Trichters, wankte, stand einen Moment reglos und in unmöglichem Winkel still und fiel schließlich wie ein Stein in die Tiefe.

»Del!«

Helth reagierte um eine Winzigkeit rascher als er. Mit einer einzigen blitzschnellen Bewegung sprang der Vede auf die Füße, raffte Schild und Schwert auf, sprang an den Kraterrand und federte mit einem gewaltigen Satz hinab. Sein Schwert blitzte in der Dunkelheit wie der Stachel eines bizarren tödlichen Metallinsektes.

Skar sprang eine halbe Sekunde nach ihm. Helth war auf dem vereisten Boden gestrauchelt, hatte den Schwung seines Sprunges aber geschickt genutzt, um mit einem raschen Schritt die Balance wiederzufinden und gleichzeitig auf die beiden Eiskrieger einzudringen. Skar hatte weniger Glück; wie Helth verlor er auf dem spiegelglatten Boden den Halt, kippte zur Seite und schlug schmerzhaft auf die Schulter. Die Zeit schien stehenzubleiben. Wie oft in Momenten der Gefahr sah er alles überdeutlich, die Welt schien um ihn herum erstarrt, die Bewegungen des Veden und der beiden eisigen Giganten wirkten langsam und träge, als müßten sie gegen einen unsichtbaren Widerstand ankämpfen. Del lag reglos am Fuße der Wand, die Glieder verrenkt, das Haar wirr im Gesicht. Seine Augen waren halb geöffnet, aber er war trotzdem ohne Bewußtsein; vielleicht sogar tot. Einer der beiden Eiskrieger hatte sich halbwegs zu Skar herumgedreht; sein Oberkörper war in einer grotesken, halb erstarrten Verbeugung vorgeneigt, die schrecklichen Eiskrallen weit geöffnet, wie ein Raubvogel, der mit gespreizten Fängen auf seine Beute herabstößt. Der zweite stand zwischen ihm und Helth, das Schwert in der einen und einen gewaltigen dreieckigen Schild in der anderen Hand. Skar sah jetzt deutlich, wie sich die Wesen verändert hatten - sie wirkten noch immer roh und ungeschlacht, aber ihre Konturen waren glatter, menschlicher. Sie hatten keine Augen, sondern nur einen gekrümmten, fingerbreiten Schlitz in der oberen Hälfte des bizarren Visiers, das sie anstelle eines Gesichtes trugen, Nase und Mund waren angedeutet, ihre Form begonnen, aber noch nicht zu Ende geführt, und die Hände hatten nur drei Finger, dafür aber zwei Daumen, als hätte ihr Schöpfer versucht, seine Kreaturen nicht nur ihren Vorbildern anzupassen, sondern sie zu verbessern.

Als Skar auf die Füße sprang, sah er, wie Helth gleichzeitig mit Schwert und Schild zuschlug. Seine Klinge prallte gegen das mächtige Schwert des Eiskriegers und zerbrach, aber sein Schild traf die Schulter des Giganten im gleichen Augenblick mit grausamer Wucht. Der Riese wankte. Ein helles, splitterndes Klirren war zu hören, wo ein lebendes Wesen einen Schmerzenslaut ausgestoßen hätte. Eis und Metallsplitter spritzten in einer lautlosen Explosion unter Helth' Schild hervor. Der Vede und sein Gegner taumelten auseinander, von der ungestümen Wucht des Zusammenpralles zurückgeworfen. Helth ging zu Boden, raffte sich aber sofort wieder auf und zog einen langen zweischneidigen Dolch aus dem Gürtel.

Skar starrte fasziniert und entsetzt zugleich auf das unglaubliche Bild. Es war das erste Mal, daß er den Veden im Kampf sah, und er begriff plötzlich, daß eine Menge von dem, was er insgeheim über Helth gedacht - und zum Teil auch ausgesprochen - hatte, falsch gewesen war. Helth' Angriff war unglaublich schnell gewesen, so schnell, daß Skar nicht einmal sicher war, ob er selbst ihn hätte parieren können. Auch die Waffe des Eiskriegers war zerbrochen, und sein linker Arm war fort, zerschmettert unter der ungestümen Wucht von Helth' Schildstoß. Aus dem zersplitterten Stumpf rieselten Eiskristalle wie ein Strom glitzernden gläsernen Blutes, und durch seine Schulter zog sich ein fast handbreiter, gezackter Riß bis zum Hals hinauf. Er wankte. Seine Hand öffnete sich und ließ das zerbrochene Schwert fallen. Es zerbarst vollends, als es auf dem Boden aufschlug.

Helth wollte abermals auf den Eiskrieger eindringen, aber Skar hielt ihn mit einer raschen, warnenden Bewegung zurück. Der zweite Eisgigant hatte bisher keine Anstalten gemacht, in den Kampf einzugreifen, aber seine Hand war in Dels Haar gekrallt und bog seinen Kopf mit einem brutalen Ruck nach hinten; die andere schwebte, zur Faust geballt, über seinem Gesicht.

»Er bringt ihn um, wenn wir angreifen«, sagte Skar gepreßt. Für einen winzigen Moment sah es so aus, als würde Helth trotzdem angreifen. Dann entspannte er sich.

»Mach jetzt keinen Fehler«, murmelte Skar. »Eine falsche Bewegung, und er tötet Del.«

Helth richtete sich ein wenig auf und wich nach links aus, während sich Skar behutsam in die entgegengesetzte Richtung bewegte. Sein Blick irrte nervös zwischen den beiden stummen Eisriesen hin und her. Ihr Verhalten irritierte ihn. Wenn Helth recht hatte und dies wirklich eine Falle war, dann hätten sie anders handeln müssen. »Lenk sie ab«, flüsterte Helth. »Ich versuche den zu erwischen, der Del hält.«

Skar nickte. Rasch wechselte er sein Schwert von der rechten in die linke Hand, zog einen der fünfzackigen Wurfsterne aus dem Gürtel und nahm ihn zwischen Daumen und Zeigefinger. Die Waffe lag ungewohnt schwer in seiner Hand, und wie schon zuvor nahm er seine Umgebung plötzlich mit seltener Klarheit und Schärfe wahr. Das Gefühl, einen Fehler zu begehen, wurde stärker.

»Jetzt!« schrie Helth.

Es war, als wären sie seit Jahren aufeinander eingespielt: Skar fuhr mit einem gellenden Kampfschrei herum und sprang auf den verwundeten Eiskrieger zu. Helth riß den Arm mit dem Messer hoch. Der Eiskrieger hob die Hand. Skar schleuderte seinen Shuriken und nutzte den Schwung seines Wurfes, um sich nach vorne kippen zu lassen. Helth' Dolch zischte mit einem häßlichen Geräusch eine Handbreit über seinen gekrümmten Rücken hinweg und zerschmetterte die Eisfaust über Dels Gesicht, nahezu im gleichen Augenblick, in dem Skars Wurfstern in den Hals des zweiten Eisgiganten hämmerte und ihn wie sprödes Glas zerspringen ließ. Skar kam mit einer blitzschnellen Rolle wieder auf die Füße, fing den zusammenbrechenden Riesen auf und warf ihn mit einer kraftvollen Hebelbewegung über sich hinweg. Es war vorüber, bevor es richtig begonnen hatte. Skars Gegner vollführte einen grotesken Salto, flog - von seiner eigenen ungeheuren Kraft geschleudert, die Skar nun gegen ihn selbst gewandt hatte - durch die Luft und prallte seitlich gegen die zweite Kristallkreatur. Die beiden Titanen brachen in einem wirren Knäuel aus berstenden Gliedmaßen und splitterndem Eis zusammen und zerbrachen wie riesige gläserne Statuen. Als Skar, das Schwert wieder in der Rechten, mit einem gewaltigen Satz neben Del anlangte, gab es nichts mehr, wogegen er hätte kämpfen können.

Trotzdem drehte er sich noch einmal im Kreis und suchte mißtrauisch die Ränder des Kraters ab, ehe er neben Del niederkniete. Helth blieb in zwei Schritten Entfernung stehen. Sein Atem ging schnell und rasselnd; der kurze Kampf hatte ihn sichtlich erschöpft. Skar löste das gekrümmte Schwert von Dels Gürtel, warf es dem Veden zu und legte seine eigene Waffe aus der Hand. Ein zerbrochener, grob modellierter Finger aus Eis knirschte unter seinem Knie, als er sich über Del beugte. Er lebte. Sein Atem war flach, und an seinem Hals pochte eine Ader, aber von ein paar Kratzern und Hautabschürfungen abgesehen, konnte Skar - zumindest bei dieser ersten, flüchtigen Untersuchung - keine Wunden finden. Behutsam hob er Dels Kopf an, tastete mit geschickten Fingern nach einem bestimmten Punkt in seinem Nacken und drückte ein paarmal hintereinander zu. Del stöhnte. Seine Lider hoben sich, aber sein Blick war verschleiert. Es dauerte fast eine Minute, ehe er Skar erkannte.

»Was... ist passiert?« fragte er mühsam. Er wollte sich hochstemmen, aber Skar drückte ihn mit sanfter Gewalt zurück. »Bleib noch einen Moment liegen.«

»Was ist geschehen?« fragte Del noch einmal. Er schluckte, krampfhaft und mehrmals hintereinander. Skar konnte sehen, wie er gegen eine Übelkeit ankämpfte.

»Bleib liegen«, sagte er noch einmal. »Du brauchst nicht den Helden zu spielen. Das haben wir schon getan.«

Del reagierte weder auf seine Mahnung noch auf den Spott in seiner Stimme. »Verdammt - ich will wissen, was passiert ist«, sagte er wütend. »Wer...« Sein Blick fiel auf die zersplitterten Körper der Eiskrieger, und Skar sah, wie er erschrak.

»Das hätte ich gerne von dir gewußt«, sagte Skar. »Du bist plötzlich dort oben aufgetaucht und dann abgestürzt. Was war los?«

»Gowenna«, murmelte Del zögernd. »Ich... sie war hinter mir. Ich hatte ihr befohlen zurückzubleiben, und dann...« Er schüttelte den Kopf, verzog das Gesicht und hob die Hand an den Schädel. »Ich weiß nicht, was passiert ist«, gestand er. »Ich bekam einen Schlag, das ist alles, woran ich mich erinnern kann.«

»Gowenna?«

Del zog eine Grimasse. »Wer sonst?« Er versuchte sich aufzurichten, stöhnte wieder und schloß die Augen, stemmte sich aber trotzdem hoch. »Eines muß man ihr lassen«, sagte er gepreßt. »Sie schlägt zu wie ein Mann. Ich hoffe nur, sie kann ebensoviel einstecken, wenn ich sie wiedersehe.«

Skar schwieg verwirrt. Dels Worte klangen logisch - er und Gowenna waren allein dort oben gewesen, und bei aller Menschenähnlichkeit waren die Eiskrieger nicht in der Lage, sich so lautlos zu bewegen, wie es nötig gewesen wäre, um einen Mann wie Del überrumpeln zu können. Und vermutlich wäre er nicht mehr am Leben, hätte ihn die Faust eines dieser Giganten getroffen.

»Unterhalten könnt ihr euch später«, sagte Helth ungeduldig. »Wir müssen hier weg. Die beiden anderen können jeden Augenblick auftauchen.«

»Kaum«, murmelte Skar.

Helth trat ungeduldig von einem Fuß auf den anderen, schlug seinen Umhang zurück und spielte mit seinem Schwert. »Wie meinst du das?«

Skar schwieg einen Moment. Helth' kraftvoller, rücksichtsloser Einsatz hatte ihn überrascht, und für einen Moment hätte er fast vergessen, in welchem Zustand der Vede war. Daß er so gut zu kämpfen verstand wie ein Satai, besagte nichts. Helth war mit seiner Selbstbeherrschung am Ende. Ein falsches Wort konnte genügen, ihn vollends zusammenbrechen zu lassen.

»Ich weiß, daß es sich verrückt anhören muß«, begann er vorsichtig. »Aber ich glaube nicht, daß diese beiden wirklich kämpfen wollten.«

»Du -« Helth brach ab und starrte ihn ungläubig an, aber Skar gab ihm keine Gelegenheit, weitere Fragen zu stellen.

»Du hast recht«, fuhr er fort. »Zum Reden ist später noch Zeit genug. Bleib einen Moment hier bei Del.« Er stand auf, nahm seine Waffe an sich und stieg ohne ein weiteres Wort der Erklärung die Wand empor. Es war leichter, als er befürchtet hatte. Von oben aus betrachtet hatten die Kraterwände glatt und wie poliert ausgesehen, aber es gab zahllose Risse und Vorsprünge, in denen seine Hände und Füße genügend Halt fanden; er brauchte kaum eine halbe Minute, um die drei Meter zu überwinden und sich mit einer letzten kraftvollen Anstrengung über die Kante zu ziehen.

Das ungute Gefühl in Skar wuchs, als er sich auf Hände und Knie hochstemmte und noch im Aufstehen seine Waffe zog. Er war allein. Das Sternenlicht war nicht sehr hell, aber es reichte, ihn seine Umgebung zumindest in groben Umrissen erkennen zu lassen. Von Gowenna war keine Spur zu sehen.

Skar blieb einen Moment lang hoch aufgerichtet und stumm am Rande des Kraters stehen und lauschte. Der Wind sang sein monotones Lied, doch darunter glaubte er andere Laute zu hören, aber er wußte nicht, ob sie wirklich da waren oder ob es nur seine überreizte Phantasie war, die ihm einen Streich spielte. Mißtrauisch blickte er um sich. Der Boden war hart gefroren; Eis glitzerte auf dem Fels wie ein dünner, nur halb durchsichtiger Panzer. Der Wind hatte den Schnee hier am Hang des Gebirges so schnell weggeblasen, wie er gefallen war. Es gab keine Spuren.

Skar sah sich aufmerksam um, machte ein paar Schritte und ging zu der Stelle zurück, an der Del gehockt haben mußte, als ihn der Hieb getroffen hatte. Es gab auch hier keine Spuren; der Boden war glatt und wie poliert. Ein perfekter Ort für jemanden, der einen Hinterhalt plante.

Es dauerte nur einen Moment, bis Skar der Fehler in diesem Gedanken auffiel. Gowenna konnte dies alles nicht geplant haben. Nicht, wenn nicht sie es war, die hinter dem Tun des Dronte steckte. Und sie war es nicht.

Etwas Dunkles glitzerte auf dem blinkenden Eis vor ihm. Skar bückte sich, streckte zögernd die Hand aus und tastete mit der Spitze des Zeigefingers danach. Es war Blut. Es war nicht viel, nur ein paar Tropfen; wahrscheinlich würde Del die Wunde schon am nächsten Morgen nicht mehr spüren. Aber er hatte Glück gehabt, trotz allem. Der drei Meter tiefe Sturz auf das stahlharte Eis hätte ihm auch das Genick brechen können. Er wollte sich wieder aufrichten und zum Kraterrand zurückgehen, beugte sich aber dann noch einmal hinab und folgte der dünnen, glitzernden Spur aus dunkelroten Tropfen mit Blicken. Sie verlief ein paar Schritte parallel zum Kraterrand, machte dann einen scharfen Knick nach rechts und hörte auf, sichtbar zu sein, als der Boden nicht mehr aus Eis, sondern aus nacktem Fels bestand. Aber sie führte vom Krater weg.

Skar schüttelte nervös den Kopf. Unsinn. Was er dachte, war Unsinn. Es konnte genausogut umgekehrt sein - Del konnte den Schlag hier erhalten und halb benommen zum Krater getaumelt sein, ehe er über seine Kante stürzte.

Er seufzte, ließ sich vollends auf die Knie sinken und beugte sich über den Kraterrand. »Hier oben ist alles ruhig«, sagte er. »Ihr könnt kommen.«

»Gowenna?«

Skar zuckte mit den Schultern, ehe ihm einfiel, daß er für Helth und Del nicht mehr als ein formloser Schatten gegen den Nachthimmel sein konnte und sie die Bewegung wahrscheinlich nicht sahen. »Sie ist verschwunden«, sagte er.

Del fluchte, entriß Helth mit einem wütenden Ruck seine Waffe und stieg mit geschickten Bewegungen zu ihm herauf. Helth folgte Augenblicke später, weniger elegant, aber ebenso schnell.

»Diese verdammte Hexe«, zischte Del. »Ich wußte, daß sie uns hintergeht. Aber du konntest ja nicht auf mich hören.«

»Es nutzt keinem, wenn wir uns jetzt gegenseitig Vorwürfe machen«, sagte Helth zu Skars Überraschung. Er war, anders als Del, nicht ganz aufgestanden, sondern hatte sich nur auf die Knie erhoben; sein Atem ging schwer, und seine linke Hand lag auf seinem Oberschenkel, als müsse er sich abstützen. Skar fiel auf, daß er seinen Schild unten im Krater zurückgelassen hatte. Wo die metallenen Halteschlaufen gewesen waren, färbte sich der Stoff seines Hemdes dunkel. »Du bist verletzt!« sagte er erschrocken. Er wollte sich nach dem jungen Veden bücken, aber Helth sprang mit einer beinahe hastigen Bewegung auf die Füße und stieß ihn weg.

»Das ist nichts«, sagte er unwillig. »Ein Kratzer.«

»Unsinn.« Skar streckte die Hand nach seinem Arm aus. »Laß ihn mich ansehen, wenn es wirklich nur ein Kratzer ist.«

Helth' Reaktion überraschte ihn. In den Augen des Veden blitzte es zornig auf. Er wich einen weiteren Schritt zurück, legte die Hand über die dunkle Stelle auf seinem Hemdsärmel und schüttelte trotzig den Kopf. »Es ist nichts«, wiederholte er scharf. »Ich brauche keine Hilfe.«

»Laß ihn, Skar«, sagte Del murrend. »Warum verschwendest du deine Zeit mit diesem Kindskopf? Laß ihn doch verbluten, wenn er will.«

»Dieser Kindskopf hat dir immerhin das Leben gerettet«, sagte Skar scharf, ohne Del allerdings dabei anzusehen. »Ohne ihn hätte ich dich nämlich kaum da raushauen können.«

Del runzelte die Stirn, schien etwas sagen zu wollen und wandte sich dann mit einem stummen Achselzucken ab. Sein Verhalten überraschte Skar nicht im geringsten. Es war nie Dels Art gewesen, Dankbarkeit offen zu zeigen. Er war noch jung genug, verlegen zu werden, wenn er sich bedanken mußte.

Und Helth schien es auch nicht zu erwarten. »Laßt uns endlich gehen«, schlug er vor. »Die Hexe hat dich nicht aus Übermut niedergeschlagen, Del. Sie führt etwas im Schilde.«

Ja, dachte Skar. Und was immer es war, sie würden zu spät kommen, um es zu verhindern.

Die Nacht schien voller flüsternder Laute und huschender Schatten zu sein, als sie zurück zur Höhle gingen. Es war nicht sehr weit - nicht viel mehr als eine Meile -, aber sie kamen kaum rascher voran als auf dem Hinweg, obwohl sie jetzt nicht mehr darauf achteten, sich möglichst leise zu bewegen und ungesehen zu bleiben. Del versuchte zu laufen, verlor aber auf dem unsicheren Untergrund fast augenblicklich den Halt und wäre gestürzt, wenn Skar ihn nicht aufgefangen hätte. Die Dunkelheit verdichtete sich, je mehr sie sich der Schlucht näherten, in der Vela und die Freisegler auf sie warteten. Der Wind trug ein unheimliches, an- und abschwellendes Heulen mit sich, und mehr als einmal glaubte Skar in den finsteren Schatten jenseits der Felsen formlose große Dinge zu sehen, die ihnen folgten. Aber er wußte nicht, ob sie wirklich da waren, und er sprach auch zu den anderen nicht von seiner Beobachtung. Etwas - irgend etwas - war dort, auf der anderen Seite dieser Felsbarriere, die sie für Berge gehalten hatten. Aber er war nicht sicher, ob es nicht nur für ihn und nicht auch für die anderen da war.

Und wenn, ob es auf sie alle oder nur auf ihn wartete.

Er versuchte den Gedanken zu verscheuchen, aber er blieb, wurde im Gegenteil sogar immer stärker und begleitete ihn, bis sie die Schlucht erreichten.

Die Höhle war hell erleuchtet, als sie zurückkehrten. Sie sahen den flackernden Lichtschein der Fackeln schon, als sie die Schlucht betraten, und die aufgeregten Stimmen der Freisegler wehten ihnen wie ein dumpfer Chor entgegen; Laute, die sich an den eisverkrusteten Wänden des Felsenrisses brachen und sonderbare kichernde Echos hervorriefen.

Helth murmelte einen Fluch und eilte voraus. Er war der erste, der durch den niedrigen Tunnel ins Innere des Berges kroch und sich an seinem jenseitigen Ende wieder aufrichtete.

Fast ein Dutzend Fackeln brannten in dem steinernen Gewölbe, als Skar hinter ihm auf die Füße kam. Eine Handvoll Männer umstand den Veden und redete aufgeregt auf ihn ein, die meisten aber drängten sich um eine Stelle weiter im Hintergrund der Höhle. Skar wartete, bis Del hinter ihm durch den Stollen gekrochen war, schob die Männer, die ihm im Weg standen, kurzerhand beiseite und bahnte sich so eine Gasse. Del und Helth folgten ihm dichtauf.

Vela war verschwunden. Die dünne Kette, mit der ihre Handgelenke aneinandergefesselt waren, lag zerrissen auf dem Boden. Das Lager aus Decken und Kleidungsstücken, auf dem sie geruht hatte, war zerwühlt, und statt der Errish lag der verkrümmte, ausgeblutete Körper eines Freiseglers dort. Sein Kopf war unnatürlich weit in den Nacken gebogen und die Kehle mit einem sauberen Schnitt von einem Ohr zum anderen durchtrennt.

Helth fluchte, drängte sich an Skar vorbei, sank neben dem Toten auf die Knie und drehte den reglosen Körper auf den Rücken. Der Kopf des Freiseglers pendelte hin und her, und in Skar stieg für einen Moment die aberwitzige Vorstellung empor, daß er davonrollen würde wie ein Ball, wenn Helth nicht vorsichtiger war. Der Schnitt war sehr tief.

»Diese verdammte Hexe«, murmelte Helth. Seine Stimme bebte, und als er aufsah und Skar anblickte, war sein Gesicht verzerrt von Haß. »Ich schwöre dir, daß ich sie umbringen werde, Skar. Und wenn es das letzte ist, was ich tue.«

»Sei mit deinen Racheschwüren nicht so voreilig«, antwortete Skar ruhig. Auch er mußte seine ganze Kraft aufbieten, um seine Selbstbeherrschung zu wahren. Aber er würde sich nicht von seinem Zorn dazu hinreißen lassen, die Dinge so zu sehen, wie er sie sehen sollte. Helth' Augen wurden schmal. »Wie meinst du das, Satai?«

Statt einer direkten Antwort drehte sich Skar um und sah prüfend in die Gesichter der Freisegler, die ihnen gefolgt waren und sie jetzt in einer dichten Mauer umstanden. Der Ausdruck, den er sah, war überall gleich: Zorn, ohnmächtige, hilflose Wut - und Furcht.

»Was ist hier geschehen?« fragte er mit erhobener Stimme.

»Das fragst du noch?« fuhr Helth auf. »Diese verdammte Hexe hat -«

»Hat jemand gesehen, was passiert ist?« fragte Skar noch einmal, so ruhig wie zuvor, aber eine winzige Spur lauter, so daß Helth verstummte und ihn nur mit wachsendem Zorn anstarrte.

Keiner der Männer antwortete, und die, die Skar ansah, senkten den Blick.

»Also niemand?« vergewisserte sich Skar. »Von sechsunddreißig Männern will nicht einer gesehen oder gehört haben, wie Gowenna in die Höhle zurückgekommen ist, diesen Mann ermordet und Vela entführt hat?«

»Es... ging zu schnell«, sagte einer der Männer. Skar sah auf, trat einen Schritt auf den Matrosen zu und maß ihn mit einem langen, nachdenklichen Blick.

»Was ging zu schnell?« bohrte er weiter.

Der Mann begann nervös mit den Händen zu ringen. Er war zwei Köpfe kleiner als Skar, hatte schulterlanges, für einen Freisegler ungewöhnlich dunkles Haar und wirkte auf unbestimmte Art ängstlich und schüchtern. Sein Gesicht war gezeichnet von den Anstrengungen und Schrecken der vergangenen Tage, aber die Furcht in seinem Blick hatte andere Gründe. Er setzte zu einer Antwort an, biß sich auf die Unterlippe und warf Helth einen raschen, flehenden Blick zu. »Ich habe... Lärm gehört«, sagte er stockend. »Einen Schrei... glaube ich.«

»Du glaubst?« mischte sich Del ein.

»Ich sagte doch - es ging zu schnell«, antwortete der Freisegler. »Ich wurde wach und hörte den Schrei, und -«

»Und du hast niemanden gesehen?«

Skar runzelte die Stirn und wandte sich zu Helth um. Seine Frage hatte ein wenig zu suggestiv geklungen für seinen Geschmack.

»Einen... Schatten«, sagte der Matrose stockend. »Aber ehe ich hiersein konnte, war schon alles vorbei.«

Del gab ein ungläubiges Schnauben von sich. »Du willst mir erzählen, sie hätte dies alles hier getan und wäre aus der Höhle entkommen, ohne daß sie auch nur einer von euch gesehen hätte?« fragte er. »Mitten durch sechsunddreißig schlafende Männer hindurch, ohne daß auch nur einer von ihnen wach geworden wäre?«

»Fünfunddreißig«, verbesserte Helth. »Und einen Toten.«

Del wollte auffahren, aber Skar brachte ihn mit einem warnenden Blick zum Schweigen. »Du mußt zugeben, Helth«, sagte er ruhig, »daß die Geschichte recht unwahrscheinlich klingt.«

Helth lachte. »Das tun Geschichten über lebende Schiffe und Krieger aus Eis auch«, sagte er wütend. »Nenne mir einen Grund, weswegen meine Männer diese Hexe decken sollten! Sie hat einen von uns getötet, Skar. Und letztlich ist es ihre Schuld, daß wir überhaupt hier sind.«

»Sie ist nicht durch den Ausgang entflohen, Herr«, meldete sich der dunkelhaarige Matrose wieder zu Wort.

Skar starrte ihn an. »Wo entlang sonst?«

Wieder zögerte der Mann zu antworten. Dann hob er langsam und so, als müsse er gegen einen unsichtbaren Widerstand ankämpfen, die Hand und deutete tiefer in die Höhle hinein.

»Dort entlang?« fragte Skar zweifelnd. Vergeblich versuchte er, die Wand aus Schwärze im hinteren Teil der Höhle mit Blicken zu durchdringen. Das rötliche Licht der Fackeln reichte jetzt, da mehr von ihnen brannten, weiter als vorhin, aber es verlor sich noch immer nach wenigen Schritten in Finsternis und Nacht, als gäbe es da etwas, das das Licht aufsaugte.

»Warum habt ihr sie nicht verfolgt?« fragte Del mißtrauisch.

»Weil... dort kein Weg entlangführt«, antwortete der Mann. »Die Höhle hat keinen zweiten Ausgang.«

Del lachte, aber es klang nicht sehr überzeugend. »Dann ist sie wohl durch die Wand gegangen, wie?«

Seltsamerweise erschreckten Skar diese Worte. Mehr, als er zugeben wollte.

»Gebt mir ein Licht«, verlangte er. Einer der Matrosen reichte ihm eine brennende Fackel, trat aber sofort wieder zurück, fast als hätte er Angst, ihm zu nahe zu kommen. Skar konnte die Ablehnung, die ihm plötzlich aus den Reihen der Männer entgegenschlug, beinahe sehen. Und er verstand sie sogar. Gowenna, Del und er waren eins für die Freisegler. Sie waren Fremde, Menschen, die von draußen in die abgeschlossene Welt dieses seefahrenden Volkes eingebrochen waren, und sie hatten Unglück und Tod in ihrem Gefolge mitgebracht.

Skar schob den Gedanken beiseite und hob die Fackel hoch über den Kopf. Die Flamme leckte gegen die niedrige, eisverkrustete Decke und fächerte wie ein feuriger Pilz auseinander. Für einen Moment reichte ihr Licht weiter und gewährte Skar einen flüchtigen Blick auf glitzerndes Weiß und bizarre Formen aus Kalk und Eis und Felsen, von den Jahrhunderten zu einer Einheit verschmolzen. Dann schloß sich die Finsternis wieder wie eine schwarze Woge über dem Bild. Er wartete, bis Del und Helth sich ebenfalls eine Fackel genommen hatten, zog seine Waffe und ging vorsichtig los. Der Boden war abschüssig, und Schmelzwasser war in den hinteren Teil der Höhle gelaufen und unterwegs wieder gefroren, so daß er doppelt vorsichtig gehen mußte. Die flackernden, durchbrochenen Lichtkreise ihrer Fackeln eilten ihnen voraus, während sie nebeneinander tiefer in die Höhle eindrangen, und an ihren Rändern bewegten sich körperlose finstere Dinge; Schatten, die aus einer anderen Welt herübergekommen zu sein schienen, um ihn zu verhöhnen. Skar wußte, daß sie nur für ihn da waren, aber das machte es nicht besser. Er lauschte in sich hinein, aber das Flüstern war verstummt, die Stimme schwieg, so wie immer, wenn er darauf wartete, daß sie etwas sagte. Nicht einmal das Lachen, das ihn so oft verspottet hatte, war zu hören. Er war allein, allein mit sich und seiner Furcht.

Die Höhle war nicht sehr groß. Sie waren kaum zwanzig Schritte gegangen, als der Boden sanft anzusteigen begann und nach wenigen weiteren Metern in eine senkrechte, glatte Wand überging. Und es war so, wie der Mann gesagt hatte - es gab keinen zweiten Ausgang. Nicht einmal einen Spalt. Die Rückwand der Höhle war so glatt und fugen los, als wäre sie versiegelt worden.

»Aber das ist doch unmöglich«, murmelte Del. Skar schwieg. Er schwenkte die Fackel, hielt sie so dicht an die Wand heran, daß die Flamme zischend gegen das Eis leckte, und fuhr mit der Hand über das schimmernde Weiß. Das Eis fühlte sich glatt an, beinahe zu glatt. Er trat ein Stück zurück, sah nach rechts und links und blickte dann wieder zu der Stelle hinauf, wo die Flamme seiner Fackel die Wand berührt hatte. Das flache Oval, das die Hitze in das Eis gebrannt hatte, war die einzige sichtbare Unterbrechung der schimmernden weißen Fläche.

»Hier ist sie jedenfalls nicht raus«, sagte Del bestimmt. »Deine Männer haben gelogen.«

Die Worte galten Helth, und der Vede fuhr mit einem wütenden Zischen herum und funkelte Del an. Sein Atem bildete flüchtige graue Wölkchen vor seinem Gesicht, und für einen winzigen Moment schienen Skar die Züge, die er dahinter wahrnahm, kaum noch menschlich, sondern auf bizarre Weise verzerrt und verdreht. Aber das mußte an der unsicheren Beleuchtung liegen. »Hüte deine Zunge, Satai«, riet er ihm. »Ich weiß sowenig wie du, wie sie es bewerkstelligt hat. Vielleicht war dunkle Magie im Spiel oder irgendeiner der Tricks, den diese Errish auf Lager haben. Aber wenn meine Männer sagen, sie ist hier entlang gegangen, dann ist es so.«

Del verzog spöttisch die Lippen. »Und wie, wenn ich fragen darf? Hat sie vielleicht einen Zauberspruch aufgesagt, auf den hin sich die Wand vor ihr aufgetan hat?«

»So ungefähr«, mischte sich Skar wieder ein, bevor Helth auf seinen sarkastischen Ton reagieren und vollends auffahren konnte. Del sah ihn verwirrt an, und auch Helth drehte sich zu ihm um und zog fragend die Augenbrauen in die Höhe.

»Der Matrose hat die Wahrheit gesagt«, stellte er ruhig fest. Er reichte Del seine Fackel, zog sein Schwert aus dem Gürtel und packte es mit beiden Händen.

»Was -«

Del verstummte, als Skar die Waffe schwang und die dünne Klinge wuchtig gegen die Wand krachen ließ.

Das scheinbar massive Eis zersprang wie Glas. Ein ungeheures, nicht endendes Klirren und Bersten ließ die Höhle erzittern, als Skar immer und immer wieder zuschlug und kopfgroße Stücke aus der Wand heraushieb.

Nach kaum einer Minute hatte er eine Öffnung geschaffen, durch die ein erwachsener Mann bequem hindurchgehen konnte. Das Eis war nur scheinbar massiv. Es war nicht so klar wie normales Eis, sondern von milchiger weißer Farbe, so daß sie den Eindruck bekommen hatten, vor einer meterdicken Mauer zu stehen. Aber die Wand war kaum stärker als eine Schwertklinge, und die Höhle setzte sich auf der anderen Seite fort. Ein eisiger Luftzug wehte durch den entstandenen Durchgang und ließ ihre Fackeln flackern.

Del keuchte, trat näher an das gezackte Loch heran und beugte sich neugierig vor. Skar hielt ihn zurück, als er mit einem Schritt hindurchtreten wollte. »Tu es nicht.«

»Warum?« fragte Del. »Ihr Vorsprung kann noch nicht sehr groß sein.«

Statt einer direkten Antwort wies Skar auf die Ränder der Öffnung. Das Eis wuchs nach.

Als liefe die Zeit vor ihren Augen hundert Mal schneller ab, bildeten sich blitzende Kristalle und glitzernde, blattdünne Häutchen an den zerborstenen Kanten, wuchsen zu Schollen und großen durchbrochenen Mustern zusammen und begannen den Durchgang zu verschließen.

Del keuchte. Seine Augen weiteten sich ungläubig. »Das ist -«

»Zauberei«, sagte Helth erregt. »Geh ruhig hindurch, Satai. Ich bin sicher, sie wird dir einen würdigen Empfang bereiten.« Sein Blick wurde hart. Mit einer wütenden Bewegung ließ er die Faust auf den Rand des Loches krachen; ein weiteres Stück brach aus der Wand und zersplitterte auf dem Boden, aber auch hier begann der unheimliche Regenerationsprozeß beinahe augenblicklich. Der Anblick erinnerte Skar überdeutlich an das, was er draußen im See mit dem Dronte erlebt hatte.

»Glaubt ihr mir jetzt?« fragte Helth. »Sie hat uns alle nur benutzt, auch euch, ihr stolzen, tapferen Satai! Die beiden Eiskrieger dort draußen waren nur dazu da, uns hier wegzulocken, und -«

»Schweig lieber«, unterbrach ihn Skar. Er sprach ganz ruhig, aber in seiner Stimme war ein leiser, warnender Ton, der Helth zum Verstummen brachte. Der junge Vede zitterte. Seine Hände fuhren in fahrigen, unbewußten Bewegungen über den Gürtel, strichen über die leere Schwertscheide und fingerten an den Ösen des Kettenhemdes, das er unter seinem Wams trug. Skar war plötzlich sicher, daß er ihn angegriffen hätte, wäre er im Besitz einer Waffe gewesen.

»Warum?« fragte Helth verbissen. »Hast du Angst, die Wahrheit zu hören? Geht es gegen deine Ehre, zuzugeben, daß man dich hereingelegt hat, du tapferer Satai?«

Del spannte sich ein ganz kleines bißchen. Die Bewegung war im flackernden Licht der Pechfackel mehr zu erahnen als wirklich zu sehen, aber sowohl Skar als auch Helth spürten es.

Skar deutete durch die Bresche in der Eiswand. »Wir müssen sie verfolgen«, befahl er knapp. »Rufe ein paar deiner Männer, Helth.« Der Vede rührte sich nicht von der Stelle. »Das ist doch sinnlos«, sagte er trotzig. »Sie ist längst verschwunden, und -«

»Vielleicht finden wir Spuren«, unterbrach ihn Skar. »Aber nur, wenn wir uns beeilen, Helth. Wenn es wieder zu schneien beginnt oder der Wind auffrischt, ist es zu spät. Geh und rufe ein paar deiner Männer.«

Es war nicht nötig. Die Freisegler waren ihnen gefolgt, in großem Abstand zwar und weitaus vorsichtiger als sie, aber doch dicht genug, daß sie seine Worte verstanden hatten. Drei, vier der ausgemergelten Gestalten traten zögernd in den Kreis flackernder Helligkeit, der sie umgab; unter ihnen der dunkelhaarige Mann, mit dem Skar schon zuvor gesprochen hatte.

»Niemand von uns wird euch dorthin folgen, Herr«, sagte er und zeigte auf das finstere Gewölbe, das hinter der gezackten Öffnung sichtbar geworden war. Seine Stimme klang leise, aber fest. Er hielt Skars Blick nicht stand. »Hier ist Hexenkunst am Werke, Herr, und -«

»Blödsinn«, mischte sich Del ein. »Das ist keine Hexerei, sondern ein übler Trick dieser Errish, die -«

»Laß ihn, Del«, sagte Skar. Zu dem Matrosen gewandt, fuhr erfort: »Ich respektiere eure Gründe. Mir ist selbst nicht wohl bei der Vorstellung, aber ich fürchte, wir haben gar keine andere Wahl mehr, als sie zu verfolgen. Ihr braucht nicht mit uns zu kommen. Del, ich und« - er sah den Veden scharf an und zögerte einen unmerklichen Moment - »Helth werden gehen. Nehmt euch Äxte und Schwerter und haltet den Durchgang offen, das ist alles, was ich verlange.«

Der Mann nickte nervös. Sein Blick flackerte unstet. Selbst die bloße Nähe dieser auf so unglaubliche Weise entstandenen Wand schien ihm Unbehagen zu bereiten.

Skar lächelte aufmunternd, bückte sich und trat mit einem entschlossenen Schritt durch die mannshohe Öffnung. Der Wind fauchte ihm wütend entgegen, zerrte an seinen Haaren und seinen Kleidern und ließ ihn taumeln. Es war kälter auf dieser Seite der Barriere, merklich kälter sogar, und das Licht der Fackeln bildete einen kleinen, flackernden Kreis aus rotgelber Helligkeit, der unter dem Ansturm der Finsternis beständig zusammenzuschrumpfen schien. Er streckte fordernd die Hand aus und nahm seine und Dels Fackeln entgegen, dann trat er zur Seite und ließ den jungen Satai herüber. Auch Del fröstelte, und Skar wußte, daß die Kälte auf dieser Seite nicht eingebildet war. »Wo bleibst du?« fragte Del ungeduldig, als Helth noch zögerte, ihnen zu folgen.

»Ich... brauche eine Waffe«, erklärte der Vede unsicher. Er sprach stockend, und man mußte kein großer Menschenkenner sein, um zu spüren, daß es eine Ausrede war. Trotzdem nickte Skar.

Del runzelte die Stirn, als Helth sich mit einer hastigen Drehung umwandte und ging. »Was soll das?« murmelte er, so leise, daß die Männer auf der anderen Seite der Wand die Worte nicht verstehen konnten. »Er hat Angst. Aber wovor?«

Es dauerte einen Moment, bis Skar antwortete. Er sah sich um. Das Licht reichte auch jetzt, als sie die Fackeln mit herübergebracht hatten, nicht weit genug, um die ganze Höhle überblicken zu können, aber er glaubte die Schemen gewaltiger geborstener Felsen zu sehen, titanischer Brocken, die von der Decke gestürzt waren und die Höhle in ein Labyrinth aus Steinen und verkrustetem Eis verwandelten. Der Wind nahm an Intensität und Kälte zu. Die Höhle konnte nicht sehr groß sein. Und er wußte, daß sie einen zweiten Ausgang finden würden, nicht sehr weit von hier. »Vielleicht vor dem, was wir finden«, murmelte er.

»Vor dem, was...« Del seufzte. »Hat dich Gowenna jetzt schon angesteckt? Oder kommst du dir besonders interessant dabei vor, in Rätseln zu sprechen?«

Skar blieb ernst. »Ich... bin nicht sicher«, murmelte er. »Aber ich...« Er zögerte. »Es fällt mir schwer, zu glauben, daß es wirklich Gowenna gewesen sein soll, Del.«

Del zog eine Grimasse und griff sich mit der Linken an den Schädel. »Zumindest ist sie für meine Kopfschmerzen verantwortlich«, brummte er. »Ich würde mich gerne mit ihr darüber unterhalten.«

»Aber sie hatte keinen Grund«, murmelte Skar. Er dachte wieder an die Blutspur, die er gefunden hatte. Eine Spur, die vom Krater wegwies.

»Keinen Grund ?« Del fuhr herum und wies mit einer übertriebenen Geste zurück in die Haupthöhle. »Wenn das, was hier passiert ist, nicht Grund genug ist...«

Skar nickte. »Das meine ich nicht, Del.« Er überlegte einen Moment, ob er Del von seinem Gespräch mit Gowenna erzählen sollte. Er wußte, daß sie ihn nicht belogen hatte. Trotz allem war Gowenna - auf ihre Art - ehrlich. Aber Del würde das nicht verstehen. »Hier stimmt etwas nicht«, fuhr er fort, leise und mehr zu sich selbst als an Del gewandt. »Ich habe Blut gefunden, oben auf den Felsen, wo... du niedergeschlagen wurdest.« Er hob die Hand. An der Kuppe seines Mittelfingers war noch ein winziger brauner Fleck zu erkennen. »Wenn es nicht von dir stammt, dann bleibt nur noch eine Möglichkeit.«

»Gowenna?« fragte Del ungläubig. »Aber wer sollte...«

»Der gleiche, der uns glauben machen will, daß sie zurückgekommen ist, den Matrosen erschlagen und Vela entführt hat, und das alles so schnell und so lautlos, daß sechsunddreißig Männer nur einen Schatten gesehen haben.« Skar lachte humorlos. »Jemand versucht uns an der Nase herumzuführen, Del, aber er stellt sich nicht besonders geschickt dabei an. Du hast die Wunde am Hals des Mannes gesehen. Wofür hältst du sie - für einen Schnitt oder einen Schwerthieb?«

»Einen Schnitt«, antwortete Del, ohne zu überlegen. »Ein Hieb von solcher Wucht hätte ihm den Kopf von den Schultern getrennt.« Skar schüttelte den Kopf. »Kein Mensch hat die Kraft für einen solchen Schnitt, Del«, erklärte er. »Er ging durch bis zum Rückgrat. Und die Kette - hast du sie nicht gesehen? Glaubst du, Gowenna wäre stark genug, eine Kette aus Sternenstahl zu zerreißen?« Plötzlich war alles ganz klar. »In einem Punkt hatte Helth recht«, folgerte er grimmig. »Die beiden Eiskrieger sollten uns weglocken - aber uns alle.« Del schwieg einen Moment. Auf seinem Gesicht lag ein betroffener Ausdruck. »Und Gowenna?«

»Ich weiß es nicht«, gestand Skar. »Ich wollte, ich wüßte, welche Rolle sie in alldem spielt.« Und lautlos, nur für sich und in Gedanken, fügte er hinzu: Und ob sie noch lebt.

Er sah auf, als auf der anderen Seite der Wand Stimmen und Geräusche laut wurden und der Vede zurückkam. »Kein Wort zu Helth«, fügte er hastig hinzu. »Ich will erst sicher sein, daß ich mich nicht täusche.«

Er hob seine Fackel ein wenig höher und trat zur Seite, als Helth gebückt durch den gezackten Riß in der Wand trat. Der Vede trug jetzt wieder Schild und Schwert; zusätzlich hatte er eine gewaltige zweischneidige Axt in den Gürtel geschoben. Skar unterdrückte ein Seufzen. Helth war und blieb ein Kind.

Schweigend gingen sie los. Der hintere Teil der Höhle unterschied sich kaum von dem, in welchem die Matrosen lagerten - der Boden war uneben, aber glatt, und von der Decke wuchsen bizarre Gebilde aus Eis oder Kalk, die Unterschiede waren nicht mehr auszumachen, verwischt von Jahrhunderten der Kälte und Dunkelheit. Von Zeit zu Zeit ertönte hinter ihnen ein gedämpftes Klirren und Splittern, wenn die Matrosen Skars Befehl folgten und die Öffnung in der Eiswand wieder aufbrachen. Im hinteren Viertel des Gewölbes bildeten Felsen ein beinahe unübersteigbares Gewirr; die Decke war hier höher, und ein breiter, gezackter Riß ließ den schwachen Schein der Sterne hindurch.

»Dort.« Del deutete auf einen halbrunden, mehr als mannshohen Durchgang in der rückwärtigen Wand der Höhle und schwenkte seine Fackel. Ihr Licht ließ die geschliffenen Kanten breiter, aus wasserklarem Eis geformter Stufen in der Dunkelheit aufblitzen.

Skar ging an ihm vorbei, blieb unmittelbar vor dem künstlichen Durchgang stehen und berührte die unterste Stufe mit dem Fuß. Das Eis knisterte, und von oben fiel das bleiche Licht des Nachthimmels zu ihm herab. Die Treppe war nicht sehr lang - drei, vielleicht vier Dutzend Stufen, die sehr steil in die Höhe führten und mit den unregelmäßigen Schatten des Ausganges verschmolzen. Skar setzte vorsichtig einen Fuß auf die unterste Stufe, so langsam, als müsse er sich davon überzeugen, daß sie sein Körpergewicht trug und nicht etwa unter ihm zusammenbrach, winkte den beiden anderen, ihm zu folgen, und ging los. Seine linke Hand tastete am glatten Eis der Wand entlang, und für einen Moment glaubte er, ein dumpfes Pochen und Vibrieren zu spüren; etwas wie das Schlagen eines gewaltigen Herzens. Eine Vision blitzte vor seinem inneren Auge auf: Er sah sich noch einmal auf dem Deck des Dronte knien und in die schwarze Höhlung seines Leibes hinabblicken. Er schüttelte den Kopf und vertrieb das Bild, aber etwas blieb zurück. Die Gewißheit, daß es keinen Zufall gab: Diese Insel war mehr als ein lebloser Eis- und Steinklotz in der Weite des Meeres. Was immer es war, das den Dronte beseelte, es war auch hier. Und er hatte das Gefühl, der Lösung des Rätsels sehr nahe zu sein.

Der Wind schlug ihm wie eine eisige Faust ins Gesicht, als er das Ende des Stollens erreichte und aus dem Berg heraustrat. Hinter im drängten Del und Helth ins Freie.

Sie waren auf der anderen Seite der Berge. Unter ihren Füßen lag ein schmaler, felsiger Sims, der durch eine Laune der Natur vollkommen eisfrei geblieben war, davor fiel der Fels steil und beinahe senkrecht sechzig, siebzig Fuß weit in die Tiefe. Der diesseitige Teil des Landes mußte tiefer liegen als die Ebene.

Skar versuchte vergeblich, Einzelheiten seiner Umgebung zu erkennen. Vor und unter ihnen sah er Dinge, formlose zerfranste Schatten, grau und weiß und mit dem Eis der Ebene verschmolzen. Er konnte nicht sagen, ob es Eis oder Felsen oder vielleicht auch die Überreste von Gebäuden waren, ähnlich dem, in welchem sie draußen auf der Ebene übernachtet hatten. Der Himmel war jetzt grau, nicht mehr schwarz, aber es war jener flüchtige Teil der Dämmerung, in dem sich Nacht und Morgengrauen die Waage hielten und der Blick noch weniger weit reichte als im Sternenlicht.

»Was ist das, Skar?« murmelte Del.

Skar starrte weiter auf die endlose, mit formlosen Umrissen übersäte Ebene hinab. »Unser Ziel«, murmelte er. »Der Ort, an dem uns der Dronte haben wollte, Del. Er - oder wer oder was immer ihn lenkt.« Mühsam riß er sich von dem bizarren Anblick los, drehte sich halb um und ließ sich auf die Knie sinken. Der Boden war eisfrei, aber der Fels unter seinen Fingern war hart wie Stahl; selbst bei Tageslicht hätte er nicht die geringste Spur gefunden.

Zur Linken führten weitere Stufen in die Tiefe, bereits halb zerschmolzen und abgeschmirgelt von der Wut des Sturmes und - wie jene im Inneren des Berges - ein wenig zu hoch und zu breit, um wirklich bequem darauf gehen zu können.

Helth wollte an ihm vorbei und die Stufen hinabgehen, aber Skar hielt ihn zurück.

»Das ist sinnlos, Helth«, sagte er. »Wer immer die Errish hier herausgeschafft hat, ist längst fort.« Er seufzte. Sein Blick irrte nach Westen. Der schwarze Buckel des Gebirges verlor sich schon nach wenigen Dutzend Schritten in den Schatten der weichenden Nacht. Aber er mußte ihn auch nicht sehen, um zu wissen, daß der Dronte wartete, irgendwo dort draußen. Er - oder das, was aus ihm herausgekrochen war.

»Gehen wir zurück«, entschied er. »Es wird bald hell. Wenn die Sonne aufgeht, finden wir vielleicht Spuren.«

Helth widersprach nicht. Er wirkte sichtlich erleichtert, als sie sich umwandten und zu den wartenden Freiseglern in die Höhle zurückgingen.

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