X Verkörperung der Treue

«Herrgott noch mal, Allday, mach die Luke zu!»

Bolitho beugte sich wieder über die Seekarte von San Felipe mit den benachbarten Küstenabschnitten Kubas und Haitis; seine Finger trommelten auf den exakten Kursberechnungen und Tiefenangaben.

Aber bei den geschlossenen Fenstern und Luken wurde es in der Kajüte bald heiß wie in einem Backofen. Außerdem war es sinnlos, die Geräusche ließen sich nicht aussperren; immer noch hörte Bolitho laut und deutlich Black Joe Langtry die Schläge mitzählen, die der Profos mit der neunschwänzigen Katze austeilte.

Bolitho fand es selbst merkwürdig, daß er sich mit der Prügelstrafe immer noch nicht abgefunden hatte, diesem Allheilmittel jedes Kommandanten bei Verstößen gegen die Disziplin.

Ein Trommelwirbel, danach eine kurze Pause und schließlich wieder das scheußliche Klatschen der Peitsche auf einem nackten Rücken.

Bolitho starrte blicklos auf die Karte nieder, bis seine Augen schmerzten.

«Zehn!«Erneut Langtrys rauhe Stimme.

Keen und seine Offiziere mußten da oben sein und zusehen, obwohl auch ihnen dieser Strafvollzug zuwider war. Aber auf einem Kriegsschiff, das allein segelte und von niemandem Unterstützung erwarten konnte, mußte der ständig drohenden Gefahr des Aufruhrs mit drakonischen Strafen vorgebeugt werden.

Drei verläßliche Matrosen hatten an Land für den Zahlmeister gearbeitet und waren desertiert. Aber die Inselmiliz hatte sie bald aufgestöbert und wieder an Bord gebracht. Offenbar hatten sie auf einer Plantage ein paar Halbblutmädchen kennengelernt, und was darauf folgte, war nur zu alltäglich.

Wieder das Klatschen.»Elf!»

Jetzt zahlten sie den Preis für ihr kurzes Vergnügen. Keen hatte die Mindeststrafe von vierundzwanzig Peitschenhieben pro Deserteur verhängt, aber auch sie reichte schon aus, einen Rücken in rohes Fleisch zu verwandeln.

Um sich abzulenken, dachte Bolitho an Tyrrell. Er war wieder auf seine Vivid zurückgekehrt, um die Sturmschäden zu beheben und die Narben auszubessern, die der Beschuß der spanischen Drehbassen hinterlassen hatte.

Sein plötzliches Auftauchen hatte Bolitho mehr aus dem Gleichgewicht gebracht, als er sich eingestehen wollte. Seither verfolgte ihn die Erinnerung an die lange zurückliegenden, gemeinsamen Erlebnisse, an die kleine Sparrow und die schicksalhafte Rolle, die das Schiff für sie beide gespielt hatte.

Würden die alten Bilder ihn denn auf ewig verfolgen?

Erst letztes Jahr war die Fregatte Phalarope, Bolithos zweites Schiff, wie ein Gespenst aus der Vergangenheit aufgetaucht und in seinem Geschwader mitgesegelt; und nun suchte ihn die Erinnerung an die alte Sparrow heim.

War er damals wirklich glücklicher gewesen, wie ihm die Erinnerung jetzt vorgaukelte? Mit weniger Verantwortung, aber eher bereit, das Leben zu riskieren, sogar zu verlieren, nicht in dieser ständigen Sorge um seinen Ruf?

Die Trommeln an Deck verstummten, die Auspeitschung war beendet.

Er kannte Tyrrell besser als die meisten, hatte ihm beigestanden, als ihm das Bein unterm Leib weggeschossen worden war. Aber jetzt war er nur noch ein Zerrbild des Offiziers von damals. Auf den ersten Blick ein harmloser Alter, der typische kleine Handelskapitän, der überall Gerüchte über das Kommen und Gehen der großen Kriegsschiffe aufschnappte. Der Skipper eines so kleinen Frachtseglers scherte sich wenig um ihre Nationalitäten oder Flaggen, sie waren für ihn alle gleich bedrohlich. Immer auf der Suche nach erfahrenen Seeleuten, obwohl das gewaltsame Pressen nicht mehr üblich war. Aber wen kümmerte schon das Schicksal eines schanghaiten Matrosen, wenn man davon überhaupt jemals erfuhr?

Auch bei eindringlicher Befragung hatte Tyrrell auf seiner Beschreibung des mächtigen Zweideckers beharrt: ohne Flagge, ohne Namen, war er doch bekannt bei den spanischen Fregatten aus Santo Domingo, ja selbst aus dem Hunderte von Meilen südlicher gelegenen La Guaira; alle kannten und mieden ihn.

Dieses geheimnisvolle Schiff, das ohne zu zögern Keens List mit Kanonenschüssen beantwortet und die Sparrowhawk erbarmungslos abgeschlachtet hatte, mußte mit einem bestimmten Auftrag in der karibischen See und ihren Zugängen segeln; ein Auftrag, für den sein Kommandant notfalls auch das Äußerste riskierte.

Bolitho hörte Allday wieder das Oberluk öffnen und war sich bewußt, daß dieser ebenso wie Ozzard und alle anderen, die in seine Nähe kamen, wie auf Katzenpfoten um ihn herumschlichen.

Er sah seinen bulligen Bootsführer an und hob hilflos die Schultern.»Ich frage mich selbst, was mit mir los ist«, sagte er entschuldigend.

Allday nickte mit einem wissenden Lächeln.»Es ist das Warten, Sir, das macht einen fertig.»

«Kann sein.»

Wieder wandte Bolitho sich der Seekarte zu. Es war jetzt eine Woche her, seit Vivid eingelaufen und Tyrrell aus der Vergangenheit aufgetaucht war. Ohne Unterstützung durch ein zweites Schiff wagte Bolitho nicht, San Felipe sich selbst zu überlassen. Rivers' Sympathisanten, für deren Existenz es immer noch genügend Beweise gab, mochten einen Gegenangriff starten. Bolitho konnte es ihnen nicht einmal verdenken, denn wenn die Franzosen erst eintrafen, mußten sie alle ihre Häuser und Plantagen verlassen. Vielleicht hatte Keen völlig recht gehabt: wenn Rivers gehenkt wurde, war der Rebellion die Spitze genommen.

Aber Rivers besaß einflußreiche Freunde in Amerika und in London. Auch wenn er Bolithos Meinung nach nur ein Pirat wie alle anderen war, mußte doch ein ordentliches Gerichtsverfahren in London stattfinden, damit die Seelords das auch beweisen konnten.

Außerdem — wenn Tyrrell recht hatte und der unbekannte Zweidek-ker einen Überfall auf San Felipe vorbereitete, dann wäre es Torheit gewesen, den Hafen ohne Schutz zu lassen. Achates hatte selbst bewiesen, wozu ein Schiff fähig sein konnte, wenn ein hoher Einsatz winkte.

Die Tür ging auf, und Adam betrat die Kajüte.

Seit ihrem Wiedersehen war eine Woche vergangen, und doch hatten sie nur wenige Worte gewechselt. Bolitho spürte, daß Adam etwas vor ihm verbarg. Oder vielleicht war er selbst zu beschäftigt und in Gedanken gewesen, um das Vertrauen des jungen Leutnants zurückzugewinnen?

«Signal von der Festungsbatterie, Sir«, meldete Adam.»Die Brigg Electra hält auf den Hafen zu und sollte binnen einer Stunde hier Anker werfen.»

«Danke, Adam.»

Bolitho erinnerte sich noch gut an ihren jungen Kommandanten, der ihm vom Auffinden der Sparrowhawk-Überlebenden berichtet hatte, übernommen von dem amerikanischen Handelsschiff. Napier, so hieß er. Er mußte jeden Fetzen Tuch gesetzt haben, wenn er inzwischen bis Antigua und dann westwärts nach San Felipe gesegelt war. Durfte er hoffen, daß Electra als Repräsentantin britischer Staatsgewalt im Hafen bleiben und die Aufsässigen in Schach halten würde? Sie war zwar nur eine kleine Brigg, segelte aber unter der gleichen Flagge wie Achates. Bolitho vermutete, daß vielen Inselbewohnern selbst ein länger anwesendes britisches Kriegsschiff noch lieber war als ein französisches oder spanisches, das aus dem unbewachten Zugang seinen Vorteil zog.

Er trat zu den Heckfenstern und beschattete seine Augen mit der

Hand.

«Laß dem Kommandanten der Electra signalisieren, daß er sich gleich nach dem Ankerwerfen bei mir melden soll.»

Adam lächelte zurückhaltend.»Ich habe die Festung schon ersucht, dieses Signal an Electra weiterzugeben, Onkel.»

Bolitho wandte sich um und hob die Hände.»Eines schönen Tages wirst du noch mal einen tüchtigen Kommandanten abgeben, mein Junge.»

Keen betrat die Kajüte und ließ sich auf Bolithos Wink in einen

Stuhl fallen.

«Ich frage mich, was sie uns Neues bringt, Sir.»

Dankbar nahm er ein Glas Wein entgegen und setzte es durstig an. Es war Rheinwein aus Ozzards heimlichem Vorrat in den Bilgen, den er seit England wie einen Schatz hütete.

«Mir sind alle Neuigkeiten recht. Manchmal komme ich mir hier wie ein Taubstummer vor.»

«Vielleicht rufen Ihre Lordschaften uns zurück«, überlegte Keen.

Bolitho ging nicht darauf ein.»Adam, ein Signal an Vivid«, sagte er.»Oder besser, laß dich übersetzen und sprich selbst mit Mr. Tyrrell. Ich möchte, daß er an Bord ist, wenn wir auslaufen.»

Keen wartete, bis die Tür sich hinter Adam geschlossen hatte, dann stellte er sein Glas bedächtig ab.»Gestatten Sie mir eine Bemerkung,

Sir?»

«Sie sind mit meiner geplanten Taktik nicht einverstanden, wie?»

Keen lächelte knapp.»Sie gehen damit ein sehr hohes Risiko ein. Ein doppeltes sogar, um genau zu sein. «Als Bolitho schwieg, fuhr er fort:»Dieser Tyrrell — wieviel wissen Sie denn schon von ihm?»

«Er war mein Erster Offizier. «Keen nickte nur.»Sie meinen, nach zwanzig Jahren ist das ein bißchen wenig?»

Keen hob die Schultern.»Schwer zu sagen, Sir. Er hat sich ja selbst als einen verzweifelten Mann bezeichnet, der seine Familie und seinen guten Ruf verlor, weil er lieber für den König als für Washington kämpfen wollte.»

«Und weiter?«Bolitho merkte, daß Allday den Atem anhielt.

«Angenommen, wir stoßen auf den Spanier und zwingen ihn zu einem Gefecht — wie verhalten wir uns, wenn er seine wahre Flagge zeigt? Möchten Sie der Zündfunke zu einem neuen Krieg sein?»

«Und das zweite Risiko?»

Keen äußerte seine Bedenken völlig zu recht. Trotzdem fühlte Bo-litho sich dadurch noch einsamer als zuvor.

«Zweitens steht zu befürchten, daß der Spanier — falls er sich überhaupt noch in diesen Gewässern aufhält — nur darauf wartet, daß wir den Hafen verlassen, damit er Achates' Rolle hier übernehmen kann. Dann müßten wir uns den Rückweg teuer erkämpfen, nicht gegen ein paar unerfahrene Pflanzer und die Inselmiliz, sondern gegen ein Kriegsschiff mit erfahrener Besatzung. Meiner Ansicht nach übersteigt dieses doppelte Risiko den möglichen Gewinn. «Keen senkte den Blick.»Tut mir leid, Sir, aber das mußte gesagt werden.»

Bolitho lächelte trübe.»Ich weiß, welche Überwindung es Sie gekostet hat. Um die Wahrheit zu sagen, ich glaube nicht, daß ein Risiko jemals genau vorherberechnet werden kann. Ich will meine Leute nicht in einen sinnlosen Tod hetzen, ich will auch nicht zwischen den Zangen und Sägen auf dem Tisch eines Schiffsarztes enden. Ich besitze viel, wofür zu leben lohnt — endlich wieder. Aber…»

Grinsend nahm Keen sein nachgefülltes Weinglas von Ozzard entgegen.»Aye, Sir, das große Aber. Es ist nur ein kleines Wort, aber das stärkste Argument gegen die bessere Einsicht.»

Bolitho klopfte mit dem Messingzirkel auf die Seekarte.

«Ich bin überzeugt, dieses Schiff hält sich in der Nähe auf, genau wie Jethro Tyrrell behauptet. Es muß eine starke Besatzung haben, deshalb braucht es einen Hafen als Basis, um sich zu verstecken, während der Kommandant Auskünfte über uns einholt. Und da wir rundum von Feinden umgeben sind, dürfte er dabei keine Schwierigkeiten haben. «Keen erhob sich und trat an den Kartentisch.

«Falls Tyrrell recht hat«, sagte er,»müßte sich das für uns bei einem Krieg erschwerend auswirken. «Er fuhr mit dem Finger an der Inselkette entlang: Puerto Rico, Santo Domingo, Haiti, Kuba.»Die Spanier würden alle Zufahrtswege in die Karibik und nach Jamaika beherrschen. «Begreifend nickte er.»Und in der Durchfahrt zwischen Kuba und Haiti liegt wie eine Zugbrücke San Felipe. Kein Wunder, daß die Franzosen es unbedingt haben wollen. Sie brauchen zwar Verbündete, aber deshalb trauen sie ihnen noch lange nicht über den Weg.»

Noch immer standen beide Männer über die Seekarte gebeugt, als ein Midshipman eintrat und Electras Ankunft meldete. Keen knöpfte seinen Rock zu.

«Ich gehe Kapitänleutnant Napier begrüßen, Sir. «Und mit einem letzten Blick auf den Kartentisch:»Ganz überzeugt bin ich noch nicht,

Sir.»

Bolitho lächelte.»Sie werden mir bald recht geben.»

Er ließ sich von Ozzard in seinen Dienstrock helfen, zu Ehren des jungen Kommandanten der Electra.

Bald war er schweißgebadet und sah sehnsüchtig auf das blaue Wasser hinaus, das sich vor den Heckfenstern sanft hob und senkte; könnte er doch jetzt ein erfrischendes Bad darin nehmen! Und sofort mußte er wieder an Belinda denken. Er hatte versucht, jeden wachen Augenblick mit Arbeit auszufüllen, um sie aus seinen Gedanken zu verbannen, konnte aber nicht ganz verhindern, daß ihr Bild und das Bewußtsein der großen Entfernung, die sie trennte, ihn immer wieder übermannten.

Draußen hörte er Schritte und gedämpfte Stimmen. Er mußte sich zusammenreißen, um seinet- wie um ihretwillen.

Bald, vielleicht schon sehr bald, stand ihnen ein Gefecht bevor, diesmal nicht heraufbeschworen durch eine Zufallsbegegnung oder räuberischen Piratenübermut. Das unbekannte Schiff hatte ihnen schon gezeigt, daß es nichts nützte, im Recht zu sein. Rechtmäßigkeit allein war kein Schutz, dafür gab es schon viele tote Zeugen.

Er wandte sich der Tür zu. Wenn im Krieg erst die Kanonen sprachen, dann taten sie das völlig indifferent gegenüber Gut und Böse. Ihre Breitseiten radierten alle aus, ob sie es nun verdienten oder nicht.

Kapitänleutnant Napier trat ein, eine glänzende neue Epaulette auf der linken Schulter, und salutierte.

Bolitho nahm den schweren Briefumschlag aus seiner Hand entgegen und reichte ihn an Yovell weiter.

«Sie hatten eine schnelle Überfahrt, Kapitänleutnant Napier.»

Aber Bolitho mußte sich gedulden, bis Napier zu einem Stuhl geleitet und mit einem Glas Wein versorgt worden war.

Dann berichtete er:»In English Harbour auf Antigua liegen kaum noch Schiffe, lediglich zwei Fregatten und ein Linienschiff dritter Klasse, das aber überholt wird. Der Admiral hat das Geschwader zu den Inseln unter dem Winde verlegt, Sir. «Napier mußte unter Bo-lithos Blick schlucken.»Er läßt Ihnen durch mich seine Hochachtung übermitteln und seine besten Wünsche, Sir.»

Bolitho hörte, wie Yovell die Siegel auf dem Leinwandumschlag aufbrach, und wäre am liebsten hinübergerannt, um ihm die Depeschen aus den Händen zu reißen. Aber wenn der Admiral sich aus dem

Staub gemacht hatte, war er hilflos. Kommodore Chater war ihm nicht ganz unbekannt, er wußte genug über ihn, um keine große tapfere Geste von ihm zu erwarten, die ihm das Mißfallen seiner Vorgesetzten einbringen konnte.

Heiser fügte Napier hinzu:»Ich wurde angewiesen, Electra zu Ihrer Verfügung zu stellen. Als Chater vom Verlust der Sparrowhawk hörte, wollte er Ihnen einige Marinesoldaten schicken, um Ihre Mannschaft zu verstärken.»

Bolitho nickte.»Aber auch die Marinesoldaten waren mit dem Geschwader ausgelaufen, habe ich recht?»

«Aye, Sir«, antwortete Napier betreten. Aber dann hellte sich sein Gesicht auf.»Statt ihrer bringe ich Ihnen einen Zug Infanteristen,

Sir.»

«Immerhin etwas«, murmelte Keen, der mit Napier eingetreten war.

Bolitho wandte sich den Fenstern zu, um diese Bruchstücke gedanklich zu verarbeiten.

Unbefangen sprach Napier weiter.»Aber die Soldaten haben Sie sicherlich schon erwartet, Sir. Der Kommodore ließ es Ihnen ja durch die Kurierbrigg mitteilen, die zwei Tage vor mir auslief.»

Bolitho fuhr herum.»Was sagen Sie da?»

Napier wurde blaß.»Ein Kurier, Sir. Mit Depeschen für den Admi-ral auf Antigua und für Sie, Sir. «Hilfesuchend sah er zu Keen hinüber.»Depeschen aus England, Sir.»

Keen konnte sich nicht mehr beherrschen.»Sie hatten also doch recht, Sir!«rief er aus.»Die müssen auch die Kurierbrigg abgefangen und versenkt haben.»

Bolitho verschränkte die Hände auf dem Rücken und grub sich die Fingernägel ins Fleisch, bis der Schmerz ihm half, seine Enttäuschung zu zügeln.

Depeschen aus England, eine Nachricht von Belinda. Aber jetzt.

Er fixierte Keen.»Sind Sie endlich überzeugt?»

Ohne die Antwort abzuwarten, fragte er Napier:»Haben Sie einen tüchtigen Ersten Offizier?»

Das alles ging über Napiers Horizont. Stundenlang hatte er auswendig gelernt, was er Bolitho sagen wollte, hatte sich in seine beste Uniform geworfen. Und jetzt war alles anders gekommen, alles umsonst gewesen. Er kam sich vor wie jemand, der einem Freund die Tür öffnen wollte und einem Irren gegenüberstand.

Immerhin brachte er ein Nicken zustande.»Aye, Sir. Er ist verläßlich.»

«Um so besser. «Bolitho wandte sich wieder an Keen.»Bei erster Gelegenheit lichten wir morgen früh Anker und laufen aus. In der Zwischenzeit werde ich sehen, welchen Honig ich aus den Depeschen saugen kann, die der tapfere Kommodore mir schickt. Aber ehe ich damit beginne«, er schritt zum Tisch hinüber und goß für Napier ein neues Glas Rheinwein ein,»trinken wir alle einen Toast. Auch du, Allday.»

Allday ließ sich von Ozzard ein Glas reichen, fasziniert von dem plötzlichen Stimmungsumschwung im Raum. Bolitho merkte, daß er grinste.

«Einen Toast«, er hob sein Glas,»auf Mr. Napier, den neuen Gouverneur von San Felipe!»

«Südwest zu Süd, Sir!«»Recht so.»

Nur mit halbem Ohr hörte Bolitho Meldung und Bestätigung, er konzentrierte sich ganz auf den violetten, weit ausladenden Schatten am Backbordhorizont. Es war Nachmittag, und die Sonne brannte immer noch erbarmungslos aufs Deck des nur wenig Fahrt machenden Schiffes. Aber nach der bedrückenden Feindseligkeit auf San Felipe fühlten sich alle hier draußen wie neu belebt. Die Stimmung war gut; selbst Mountsteven, der Offizier der Wache, befleißigte sich eines normalen Tonfalls, während er das Trimmen der Breitfock überwachte.

Bolitho richtete sein Teleskop auf das ferne Land: Haiti, das etwa fünfzehn Seemeilen querab liegen mußte. Trotz dieser Entfernung ging eine Drohung von ihm aus. Wenn irgend möglich, mieden die Seeleute seine Küsten mit ihrem Hexenzauber und ihren schauerlichen Riten.

Flaute hatte Achates noch einen Tag länger in San Felipe festgehalten, aber jetzt füllte ein stetiger Nordost ihre Segel, und sie strebte auf die Windward Passage zu, als beseele sie ein eigener Wille. Diese Durchfahrt zwischen Kuba und Haiti war an ihrer engsten Stelle kaum siebzig Meilen breit. Wenn San Felipe in Feindbesitz war, konnte ein Konvoi sich nur unter hohen Verlusten hier ein Durchkommen erzwingen. Je länger er darüber nachdachte, desto unbegreiflicher schienen Bolitho die Befehle, die er in London erhalten hatte.

Er reichte das Glas einem Midshipman zurück und begann, langsam auf dem Achterdeck hin und her zu wandern. Hoffentlich hatte er Kapitänleutnant Napier nicht überfordert. Immerhin schien er in seinem neuen, wenn auch befristeten Amt als Gouverneur überglücklich zu sein. Und mit seiner unter der mächtigen Festungsbatterie verankerten Vierzehn-Kanonen-Brigg und den schneidigen Infanteristen vom 60. Regiment — den Royal Americans, wie sie immer noch genannt wurden — konnte er wenigstens den Anschein von Stärke und Kampfkraft erwecken.

Bolitho sah Leutnant Hawtayne Waffen und Ausrüstung einiger Marine-Infanteristen inspizieren. Ein Glück, daß sie wieder da waren, wo sie hingehörten: an Bord der Achates. Sehr wahrscheinlich wurden sie bald erneut gebraucht.

Mit einem heimlichen Lächeln hörte er die helle Stimme des Marineleutnants schimpfen:»Reiß dich zusammen, Jones! Der Schlendrian an Land ist vorbei!«Sofort hatte Bolitho wieder das Bild des erschossenen Trommelbuben vor Augen; es würde ihn noch lange heimsuchen, das wußte er.

Da hörte er Adams leichten Schritt neben sich und sah ihn abwartend stehenbleiben.

«Und wie geht's meinem Flaggleutnant an diesem schönen Tag?«fragte er.

Adam lächelte; der Augenblick war günstig.

«Miss Robina ist ein wunderbares Mädchen, Onkel. Ich bin noch nie einer Frau wie ihr begegnet.»

Bolitho ließ ihn sein Herz ausschütten, ohne ihn auch nur einmal zu unterbrechen. So standen die Dinge also. Hätte er nicht selbst so viele Probleme gehabt, wäre ihm schon damals klargeworden, daß Adams Ausflug nach Newburyport nicht ein Abschluß, sondern ein neuer Anfang sein würde.

«Hast du ihren Vater um ihre Hand gebeten?»

Adam errötete.»Dafür war es noch viel zu früh, Onkel. Das heißt, ich habe etwas durchblicken lassen über unsere Zukunft, will sagen, über die nicht allzu ferne Zukunft…«Er ließ den Satz unvollendet und starrte ins dunkelblaue Wasser hinunter. Dann raffte er sich auf und sagte:»Ich weiß natürlich, daß sie mich nicht heiraten kann. Und ihr Onkel ist im Bilde. Er war richtig froh, daß er mich auf eines seiner Schiffe abschieben konnte.»

Bolitho sah auf. Vivid gehörte also Chase. Seltsam, daß Tyrrell das unerwähnt gelassen hatte.

«Gehen wir eine Weile auf und ab, Adam.»

Einige Minuten schritten sie schweigend nebeneinander her, während das Schiff sich unter ihnen hob und senkte.

Schließlich begann Bolitho:»Du hast eine Zukunft bei der Marine, Adam. Und zwar eine aussichtsreiche, falls ich ein Wort dabei mitzureden habe. Du kommst aus einer alten Seefahrerfamilie, aber das gilt auch für andere. Denke immer daran, daß du alles bisher Erreichte nur dir selbst zu verdanken hast. Wenn die jungen Offiziere wie du erst an die richtigen Stellen kommen, sollte die Kriegsmarine ein besseres, menschlicheres Gesicht aufweisen als zu meiner Zeit. Wir sind ein Inselvolk und werden Schiffe immer bitter nötig haben, ebenso Männer, die auf ihnen zu kämpfen verstehen.»

Adam erwiderte Bolithos Blick.»Nichts anderes wünsche ich mir, seit ich auf deiner Hyperion als Kadett angeheuert habe.»

Bolitho sah zum Batteriedeck hinunter, wo der Matrose, der ein Auge verloren hatte, von seinen Kameraden begrüßt wurde; unsicher ertastete er sich seinen Weg an einem Achtzehnpfünder vorbei. Er hatte sich immer noch nicht ganz erholt, aber die schwarze Augenklappe gab ihm etwas Verwegenes, und seine Kameraden behandelten ihn als Helden.

Auch Adam hatte ihn bemerkt, bedachtsam suchte er nach Worten.»Männer wie er da unten, Onkel, sind dir wohl ziemlich wichtig, nicht wahr? Du siehst in ihnen nicht nur unwissende Handlanger, sondern sie bedeuten dir etwas.»

Bolitho wandte sich ihm zu.»Ganz sicher tun sie das. Wir dürfen ihre Treue niemals für selbstverständlich halten, Adam. Leider gibt es viele andere, die genau das tun.»

Adam nickte.»Als ich in Vaters altem Sessel saß.»

Leise fragte Bolitho:»In Newburyport, wo er einst mit seinem Schiff Zuflucht suchte?»

Adam wandte den Blick ab.»Sie haben mich hingeführt, Onkel. Als sie meinen Familiennamen hörten, haben sie es gleich erraten. Er ist in Neuengland nicht gerade häufig.»

«Ich freue mich darüber. Du hast also mehr gesehen als ich.»

Bolitho hörte Keen herankommen und war fast dankbar für die Störung. Schmerzlich war nicht nur die Erinnerung an Hugh und an das, was er ihrem Vater angetan hatte, als er desertierte, um mit den amerikanischen Rebellen zu kämpfen; und es war nicht nur das Bewußtsein der Schande, die Rivers so geflissentlich erwähnt hatte. Nein, Bolitho machte sich nichts vor, er war eifersüchtig auf Adams Vater. Und gekränkt, so lächerlich ihm das auch vorkam.

Keen griff grüßend zum Hut.»Mr. Tyrrell ist beim Master im Kartenhaus, Sir. Ich denke, wir sollten uns den nächsten Kartenausschnitt vornehmen. «Er warf einen prüfenden Blick zum klaren Himmel.»Wie es aussieht, sollten wir die ganze Nacht unsere Fahrt beibehalten können. «Das verlegene Schweigen schien er nicht zu bemerken.

«Gut, ich komme gleich nach. «Bolitho nickte seinem Neffen zu.»Und du am besten auch. Es ist eine Erfahrung mehr für dich.»

Aber vor dem Kartenhaus zögerte er plötzlich.»Übernehmen Sie, Val«, sagte er abrupt.»Ich gehe in meine Kajüte. Sie können mir ja später berichten.»

Erschreckt fragte Adam:»Fühlen Sie sich nicht wohl, Sir?»

«Nur etwas müde. «Bolitho ging und war bald im Schatten unter dem Hüttendeck verschwunden.

Irgendwie fühlte er sich außerstande, ihnen allen gerade jetzt gegenüberzutreten: Knocker, dem Segelmeister, Quantock, Hauptmann Dewar von den Royal Marines und dazu ihren jeweiligen Gehilfen.

Bolitho hatte bei Napier in San Felipe einen Brief zurückgelassen und außerdem eine Abschrift davon, die mit dem nächsten Schiff nach England abgehen sollte, das den Hafen zur Verproviantierung anlief.

Daß er so völlig im dunkeln blieb über Belindas Ergehen, fraß an ihm wie ein Geschwür. Ihm war selbst nicht bewußt gewesen, wie sehr die Ungewißheit an seinen Kräften zehrte. Bis Adam ihn an Hugh erinnert hatte: >Als ich in Vaters altem Sessel saß…< Bis dahin war Hugh nur ein vager Schatten aus der Vergangenheit gewesen. Aber jetzt stand er wieder zwischen ihnen, erhob Anspruch auf seinen Platz in der Familie.

Bolitho ließ sich auf die Bank unter den Heckfenstern sinken und starrte ins weißschäumende Kielwasser draußen, das Achates hinter sich herzog.

Allday kam aus der Pantry getrottet.»Kann ich Ihnen etwas zu trinken holen, Sir?«fragte er bewußt beiläufig.

«Nein, danke. «Bolitho wandte sich um und sah ihn an.»Du bist der einzige hier, der mich wirklich kennt, weißt du das?»

«Manchmal stimmt das, Sir, manchmal nicht. Alles in allem kriege ich wohl öfter als andere den Mann zu sehen, der Sie wirklich sind,

Sir.»

Bolitho ließ sich zurücksinken und atmete tief ein.»Mein Gott, All-day, ist das eine Qual!«Aber als er aufblickte, war Allday verschwunden.

Bolitho sah achteraus einen Fisch springen. Wer wollte es Allday auch verübeln, daß er sich für seinen verzweifelten Vorgesetzten schämte?

Aber Allday hatte sich nur in seine winzige, durch Vorhänge abgeschirmte Kammer zurückgezogen, die er mit seinen beiden Freunden teilte: Jewell, dem Segelmacher, und Christy, den er schon von der alten Lysander her kannte.

Später, mit drei großen Bechern Rum im Leibe, baute er sich vor Keens Kajüte auf.

Der Steward des Kommandanten beäugte ihn mißtrauisch.»Was willst du hier, Allday?»

Er rümpfte die Nase, als Allday ihm seinen Fuselatem ins Gesicht blies.»Ich verlange den Käpt'n zu sprechen.»

Das war ganz unüblich, und außerdem fühlte Keen sich nach der Diskussion im Kartenhaus wie gerädert. Aber er kannte Allday und verdankte ihm außerdem sein Leben.»Komm herein und mach die Tür zu. «Er winkte seinen Steward hinaus.»Was ist los, Mann? Du siehst ja aus, als wolltest du dich prügeln.»

Allday holte tief Luft.»Es geht um den Admiral, Sir. Er hat sich mehr aufgeladen, als er tragen kann. Das ist unfair.»

Keen mußte lächeln; darum ging's also. Er hatte schon befürchtet, daß eine Katastrophe passiert sei.

Aber Allday war noch nicht fertig.»Wollte mir's nur von der Seele reden, Sir, weil Sie doch ein anständiger Mensch sind. Und für ihn da achtern ein wirklich guter Freund. Schuld dran ist irgendwas, das der Flaggleutnant gesagt hat. Das spüre ich in meinen Knochen. Muß was sein, was ihn tief getroffen hat.»

Keen war zwar müde, aber auch intelligent und schnell von Begriff. Jetzt wurde ihm klar, was ihm längst hätte auffallen müssen: wie seltsam förmlich der Admiral und sein Neffe neuerdings miteinander umgingen.

Er sagte:»Überlaß das ruhig mir, Allday. Ich hab' schon verstanden.»

Forschend sah Allday ihm ins Gesicht und nickte dann.»Mußte einfach darüber reden, Sir. Sonst verprügle ich eines Tages noch den Flaggleutnant, und wenn er dreimal Offizier ist!»

Keen erhob sich.»Das will ich nicht gehört haben, Allday. «Er lächelte.»Und jetzt mach, daß du in deine Koje kommst.»

Danach saß Keen noch lange an seinem Schreibtisch und sah zu, wie die Sonne langsam im Meer versank.

Eigentlich hatte er tausenderlei Dinge zu tun, denn eine Ahnung sagte ihm, daß sie bald wieder zu den Waffen würden greifen müssen. Er spürte das, um mit Allday zu reden, in seinen Knochen. Das Gespräch war alles andere als erheiternd gewesen, aber er merkte, daß er darüber die Konferenz im Kartenhaus vergessen konnte, Quantocks stumme Mißbilligung und Tyrrells prahlerisches Versprechen, daß er sie zu einem Platz führen könne, wo sie dem anderen Schiff überlegen sein würden.

Alldays Besuch hatte das alles verdrängt. Er kannte Bolithos Bootsführer nun schon seit achtzehn turbulenten Jahren; es war eine Zeit der Gefahren und Entbehrungen gewesen, eben Kriegszeit, mit kurzen Erholungspausen dazwischen, in denen die überwältigende Freude, trotz aller Fährnisse noch am Leben zu sein, das prägendste Erlebnis war.

Wenn es um Allday ging, drängte sich stets als erstes ein einziges Wort auf: Treue.

Müde griff Keen nach der Glocke, um seinen Steward herbeizuzitieren.

Die wenigsten, überlegte er, würden den Begriff Treue definieren können. Aber er hatte immerhin erleben dürfen, in welcher Gestalt sie sich verkörperte.

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