XVI Das Geheimnis

Bolitho stieg die nassen Planken zur Luvseite hinauf und griff haltsuchend in die Wanten des Besanmasts.

Das Schiff schüttelte sich und stampfte schwer in den hohen Seen, die mit ungebrochener Wucht schräg gegen sein Achterschiff anrannten.

Wieder einmal sackte der Bug weg, donnernd stieg die See übers Vorschiff ein und schäumte wie ein Wasserfall auf dem oberen Batteriedeck nach achtern, umbrandete die Kanonen und gurgelte schließlich durch die Speigatten außenbords — bis zum nächsten Ansturm.

Trotz der heftigen Schiffsbewegungen und der unbehaglichen Nässe hätte Bolitho jubeln mögen; ihn erfüllte eine Begeisterung, die er seit seinen Tagen als junger Kommandant nicht mehr gekannt hatte.

Das graue Gesicht des Atlantiks — wie sehr unterschied es sich doch von den Gewässern um San Felipe: gefurcht von wilden Seen, deren helle, brechende Kämme ihn anfletschten wie gelbe, scharfkantige Zähne, reckte es sich ihm trotzig entgegen.

Achates wetterte den unerwarteten Sturm unter Breitfock und gerefften Marssegeln ab und hielt sich bei den rauhen Bedingungen recht tapfer. Trotzdem, in der kurzen Zeit, seit er an Deck gekommen war, hatte Bolitho den Bootsmann und seine Gang losgerissene Beiboote wieder festzurren gesehen, immer im Kampf mit dem überkommenden Wasser, das sie von den Füßen zu reißen drohte; genauso mußten Kanonen neu gesichert werden oder Männer aufentern, um gebrochene Teile des Riggs zu reparieren.

Auch Keen hielt sich an Deck auf. Der Sturm zerrte an seinem Ölzeugmantel, als er, über den Kompaß gebeugt, sich schreiend mit dem Master unterhielt.

Seit ihrem Auslaufen von San Felipe hatte das Wetter sie ständig genarrt. Zunächst war die Brise eingeschlafen, sobald die Insel hinter den Horizont gesunken war. Tagelang hatten sie in der Flaute gedüm-pelt, ehe sie wieder Segel setzen und die vielen Seemeilen zurückgewinnen konnten, die sie verdriftet waren.

Jetzt standen sie weit draußen im Atlantik und bekamen die andere Seite zu spüren. Trotz der vielen Reparaturen, von denen manche mangels einer Werft nur behelfsmäßig ausgeführt waren, hatte sich das Schiff bisher behauptet. Zum Glück für uns alle, dachte Bolitho grimmig, denn das nächste Land waren die Bermudas, etwa zweihundert Meilen weiter nordwestlich.

Hier kam wieder eine. Bolitho hielt den Atem an, als die See übers Luvschanzkleid kochte und ein paar Seeleute wie Treibholz wegschwemmte, ehe sie sich irgendwo festklammern konnten. Er blickte zu den Rahen auf, wo die gerefften Segel im diffusen Licht wie Metallplatten schimmerten.

Auf dem Achterdeck paßten geduckte Schemen den rechten Moment ab, ehe sie von einem Handlauf zum nächsten sprangen. Einige dieser Gestalten bemerkten den Admiral auf der Luvseite und zweifelten wohl an seinem Verstand, weil er das sturmumtoste Deck seiner ruhigen, trockenen Kajüte vorzog.

Das Gesicht tropfnaß von Gischt, kam Keen herangewankt.

«Mr. Knocker sagt, das kann höchstens noch einen Tag so bleiben, Sir. «Er duckte sich vor einer Wasserwand, die auf das Achterdeck krachte und über die Niedergangsleitern zu beiden Seiten wieder abfloß.

«Wie wird Sir Humphrey mit all dem fertig?»

Keen spähte zum Großmast, wo zwei Männer einen Bunsch neuer Leinen klar zum Hochhieven machten, weil an der Großmarsrah etwas gebrochen war. Dann entspannte er sich leicht, als er sah, daß sie sich rechtzeitig zu den Wanten flüchteten und sich anklammerten, ehe die nächste überkommende See sie von Bord waschen oder gegen eine Kanone schmettern konnte.

Schreiend antwortete er:»Prächtig, Sir. Er schreibt die meiste Zeit.»

Bolitho drückte das Kinn in den Kragen, als Gischt und Spritzwasser von der Hütte auf ihn herabprasselten. Also bereitete Rivers seine Verteidigung vor. Oder er verfaßte seinen Letzten Willen. Wahrscheinlich hielt er sich so beschäftigt, um die Meilen zu vergessen, die Achates' zerschrammter Kiel unerbittlich verschlang.

Der Wachoffizier hangelte sich Hand über Hand an der Querreling heran und rief:»Zeit für die erste Kurzwache, Sir!»

Keen grinste in den Sturm.»Mein Gott, dabei sieht's eher aus wie Mitternacht.»

Bolitho überließ ihn sich selbst und tastete sich nach achtern unter die Hütte, wo es relativ ruhig war; hier dämpfte massives Eichenholz das Getöse von See und Sturm.

Aber in der Kajüte ging der Hexentanz wieder los: Spritzwasser schoß durch die verschalkten Fenster in Luv, die Hängelampen kreiselten wild unter der Decke, und das Mobiliar tat sein Bestes, um sich aus Ozzards Sturmlaschings zu befreien.

Der Steward erschien in der Tür zur Pantry und klammerte sich haltsuchend an den Rahmen. Bolitho wollte ihn um ein heißes Getränk bitten, ließ es aber, als er sah, wie grünlich-blaß Ozzards Gesicht war.

«Wie geht's Allday?»

Ozzard schluckte.»Liegt in seiner Hängematte und ruht sich aus. Vorher hat er einen großen Becher…«Aber allein der Gedanke an Rum war zuviel für Ozzard; er drehte sich würgend um und floh in die Pantry zurück.

Bolitho ging in seinen Schlafraum und packte das Fußbrett seiner Koje, in der Allday beinahe gestorben wäre. Dann wartete er ab, bis das Deck sich wieder zu heben begann, und hievte sich voll angekleidet auf sein Lager.

Es war ihm verhaßt, so am Rande des Geschehens bleiben zu müssen, wenn das Schiff seinen Kampf mit dem naturgegebenen Feind austrug. Sich bei dieser Gelegenheit kaum wichtiger als ein Passagier zu fühlen, war ein Aspekt seines Admiralsranges, mit dem er sich nur schwer abfand.

Trotzdem blieb er angekleidet und ließ nur die Schuhe zu Boden poltern. Den Schatten, die in einem makabren Tanz über Schotten und Decke huschten, zog er eine Grimasse. Ob nun Passagier oder nicht, wenn das Schiff unterging, sollte die Besatzung ihren Admiral nicht in Unterhosen sehen.

Aber in dieser Nacht verausgabte der Sturm seine Kraft; gegen Morgen drehte der Wind, obwohl immer noch sehr stark, nach Süden, so daß Keen mehr Segel setzen lassen konnte und seine Männer sich an die Beseitigung der Sturmschäden machten. In den Zwischendecks wurde gepumpt, getrocknet und aufgeklart, und als zum Frühstück gepfiffen wurde, stieß der Kombüsenschornstein wieder seine üblichen, fettig schwarzen Rußwolken aus.

Bolitho saß am Tisch, trank dampfenden Kaffee und kaute auf dünnen Schweinefleischscheiben, die in Zwiebackkrümeln hellbraun geröstet waren. Auf See war das eines seiner Lieblingsgerichte, und niemand konnte es besser zubereiten als Ozzard.

Trotz des ungünstigen Wetters und ihrer dadurch bedingten Verzögerung sollten sie Kap Lizard, die Südwestspitze Englands, in vierzehn Tagen in Sicht bekommen.

Es überraschte ihn selbst, daß er sich bei diesem Gedanken so unsicher, so nervös fühlte. Voraus lag alles, wonach er sich gesehnt, was er sich erhofft hatte, und trotzdem war ihm zumute wie einem schüchternen Seekadetten.

Er erhob sich und trat vor den Spiegel, der über seinem Schreibpult hing. Schließlich war er um ein Jahr älter geworden. Die Strähne, die über sein rechtes Auge fiel und die tiefe Narbe verdeckte, war zwar noch rabenschwarz, aber trotzdem argwöhnte er, daß irgendwo graue Haare sein mußten. Er zuckte die Schultern. Immerhin war er der jüngste Vizeadmiral der britischen Marine — wenn man von Old Nel absah, natürlich.

Aber auch das war ihm kein Trost. Er hatte 46 Jahre auf dem Buckel und eine um zehn Jahre jüngere Frau. Angenommen.

Fast dankbar fuhr Bolitho herum, als Keens Eintreten ihn aus seinen Gedanken riß.

«Nehmen Sie sich Kaffee, Val, wenn. «Jetzt fiel ihm Keens grimmige Miene auf, und er fragte:»Probleme?»

Keen nickte.»Der Ausguck hat Wrackteile gesichtet, Sir, in Nordost«, berichtete er.»Wahrscheinlich ein Opfer des letzten Sturms.»

«Möglich. «Bolitho schlüpfte in seinen ausgeblichenen Dienstrock.»Doch nicht die Kurierbrigg, die vor uns ausgelaufen ist?»

«Nein, Sir. So weit könnte sie nicht getrieben sein. «Gespannt beobachtete Keen seinen Admiral.»Wenn wir über Stag gehen, um die Wrackteile zu untersuchen, verlieren wir wertvolle Zeit, Sir.»

Bolitho biß sich auf die Lippen. Er hatte schon einmal ein treibendes Boot gefunden, in dem nur noch ein Mann am Leben gewesen war, umgeben von lauter Leichen. Auch dachte er an den kleinen Evans in seinem Kutter, mit Verwundeten und Toten als Bordkameraden. Wie fühlte man sich als letzter Überlebender?

Er sagte:»Es gibt immer noch eine Hoffnung, Val. Ändern Sie Kurs und lassen Sie ein Boot aussetzen, wenn wir nahe genug sind.»

Eine Stunde später, als Achates unter verringerter Segelfläche unruhig hoch am Wind lag, pullte das große Seitenboot hastig auf die Stelle zu, wo ein Teppich dunkler Wrackteile im Wasser trieb.

Bolitho stand mit einem Teleskop auf dem Hüttendeck und studierte die kläglichen Überreste, auf die Achates' Bugspriet zeigte. Ein großes Schiff konnte es nicht gewesen sein, überlegte er. Wahrscheinlich hatte eine von achtern kommende Monstersee sein ungeschütztes Heck so unter Wassermassen begraben, daß es sich nicht mehr aufrichten konnte.

Keen ließ sein Glas sinken.»Dort ist ein Boot, Sir!»

Bolitho schwenkte sein Fernrohr in die angezeigte Richtung und starrte zu dem halb überspülten, mit Schlagseite im Wasser liegenden Ding hinüber, das einst eine Barkasse gewesen war.

«Mit Überlebenden«, rief Keen.»Zwei jedenfalls.»

Leutnant Scott, der Achates' Seitenboot befehligte, trieb seine Rudergänger bereits zu noch größerer Anstrengung an; auch er hatte die Schiffbrüchigen gesichtet.

Bolitho hörte Tyrrells Holzbein auf den Planken hinter sich und fragte:»Was halten Sie davon, Jethro?»

Tyrrell mußte keinen Augenblick überlegen.»Das ist ein Franzose. Oder war jedenfalls einer.»

Keen richtete sein Glas aus und sagte erregt:»Sie haben recht! Und außerdem war's kein Handelsschiff.»

Bolitho sah den Arzt Tuson mit seinen Gehilfen an der Eingangspforte warten, wo ein Flaschenzug aufgeriggt worden war, mit dem die Schiffbrüchigen an Bord gehievt werden sollten.»Wer spricht von uns am besten französisch?«fragte er.

Keen zögerte keinen Augenblick.»Mr. Mansel, der Zahlmeister. Er war vor dem Krieg Weinhändler.»

Bolitho mußte lächeln. Er hatte es anders im Gedächtnis, nämlich daß Mansel Schmuggler gewesen war.

«Gut, er soll sich bereithalten. Vielleicht erfahren wir, was hier passiert ist.»

Insgesamt retteten sie zehn Überlebende. Der wilde Seegang hatte sie so lange geschunden und herumgestoßen, daß sie — fast blind und halb bewußtlos — so weit von Land schon jede Hoffnung auf Rettung aufgegeben hatten. Ihr Schiff war die Brigg La Prudente gewesen, unterwegs von Lorient in Richtung Martinique. Eine See hatte ihren Kommandanten über Bord gerissen; der Erste hatte es zwar noch geschafft, ein Boot auszusetzen, war aber dann von einem herabstürzenden Wrackteil erschlagen worden. Der Tote lag noch im Boot, sein Gesicht leuchtete gespenstisch weiß aus dem Wasser, das schon fast bis zum Dollbord stand.

Der Bootsmann rief:»Soll ich es treiben lassen, Sir?»

Aber Leutnant Scott griff nach einem Bootshaken und zog den toten Leutnant heran.

Die Schiffbrüchigen mochten zu benommen und erschöpft gewesen sein, als daß sie ihren toten Offizier hätten über Bord werfen können. Bolitho sah zu, wie man sie nun zu einem Niedergang trug oder geleitete; sie schienen immer noch nicht zu begreifen, was mit ihnen geschah.

Keen meldete:»Mr. Scott hat etwas gefunden, Sir.»

Der tote Leutnant wurde gerade über das Schanzkleid gehievt, Wasser floß ihm aus Mund und Uniform, als er wie ein Gehenkter am Galgen pendelte, bis er auf das Seitendeck niedersank.

Scott kam nach achtern gelaufen und griff salutierend zum Hut.»Dies hier hatte er um seine Taille gebunden, Sir. Ich konnte es sehen, als das Boot rollte.»

Bolitho sah Keen an und kam sich vor wie ein Leichenfledderer. Arme und Beine gespreizt, lag der französische Leutnant auf dem Deck, das eine Augenlid halb geöffnet, als sei ihm das Licht zu hell.

Black Joe Langtry, der Schiffsprofos, breitete ein Stück Segeltuch über den Leichnam, zog ihm aber vorher noch eine Pistole aus dem Gürtel.

Keen sah die Adresse des Umschlags.»Wie vermutet: von Lorient nach Martinique«, sagte er.

Bolitho nickte. Er brauchte einige Zeit, bis er den dicken Leinenumschlag aufgerissen und die eindrucksvollen, scharlachroten Siegel erbrochen hatte. Dann reichte er den Inhalt an Mansel weiter.

Die Lippen des Zahlmeisters bewegten sich, während er die gewählten Wendungen der Depesche las, die an den kommandierenden Ad-miral der westindischen Flotte in Fort de France gerichtet war.

Kein Wunder, daß der Leutnant den Brief unter allen Umständen hatte retten wollen.

Unter den beobachtenden Blicken wurde es dem Zahlmeister unbehaglich; er blickte auf und sagte:»Soweit ich es verstehe, Sir, steht hier, daß sofort nach Empfang dieser Depesche die Feindseligkeiten gegen England und seine überseeischen Besitzungen wieder aufzunehmen sind.»

Keen starrte Bolitho an.»Allein das reicht schon völlig!»

Bolitho beobachtete, wie das Seitenboot zum Anbordhieven in die Taljen gehängt wurde. Er brauchte Zeit zum Nachdenken, wollte Glück, Zufall und einen beiläufigen Akt der Menschlichkeit gegeneinander abwägen.

Schließlich sagte er:»Diesmal hat uns der Sturm einen Gefallen getan, Val.»

Keen sah zu, wie Bolitho eine Handvoll Pistolenkugeln aus dem Briefumschlag schüttelte: Ballast, der ihn eher auf den Meeresgrund sinken als in falsche Hände geraten lassen sollte. Aber der Leutnant war zu schnell gestorben und seine Crew zu ahnungslos oder zu furchtsam gewesen.

Keen sagte:»Jetzt handelt es sich also nicht mehr nur um eine Drohung. Wir haben tatsächlich Krieg.»

Bolitho lächelte nachdenklich.»Zumindest wissen wir es früher als andere; das ist immer von Vorteil.»

Mit neu getrimmten Rahen und hartgelegtem Ruder wandte Achates ihren Bugspriet von den treibenden Wrackteilen und dem voll Wasser gelaufenen Boot ab, das binnen kurzem sinken mußte.

Nach Sonnenuntergang wurde der französische Leutnant mit allen Ehren der See übergeben. Bolitho wohnte der Bestattung mit Adam und Allday bei und hörte Keen ein Gebet sprechen, ehe der Tote von der Gräting rutschte und im Kielwasser versank.

Der nächste Franzose, den sie trafen, würde nicht so friedlich sein, dachte Bolitho.

«Also, Sir Humphrey, wie ich hörte, wollen Sie mich sprechen.»

Bolitho ließ sich nichts anmerken, war aber entsetzt über den Wandel in Rivers' Aussehen und Benehmen. Er wirkte um zehn Jahre gealtert und hielt sich gebeugt wie unter einer schweren Last. Er schien überrascht, als Bolitho ihn zu einem Sessel winkte, ließ sich aber dankbar hineinsinken und blickte sich gierig in der Kajüte um.

Schließlich sagte er:»Ich habe alles, was ich weiß, über die Verschwörung niedergeschrieben, die zur Übernahme meiner…«Er verhedderte sich.»Zur Übernahme von San Felipe durch die Spanier führen sollte. Konteradmiral Burgas, der das Geschwader in La Guaira kommandiert, sollte die Insel regieren, bis das Besitzrecht Spaniens endgültig anerkannt war.»

«Wußten Sie, daß die spanische Mission als Tarnung für die Invasionsflotte diente?»

«Nein. Ich vertraute dem spanischen Oberbefehlshaber. Er versprach mir eine Ausweitung des Handels mit dem südamerikanischen Festland. Mir schien das alles nur vorteilhaft.»

Bolitho nahm die Aufzeichnungen entgegen und überflog sie nachdenklich.

«Das könnte für Ihre Verteidigung in London von Nutzen sein, obwohl.»

Rivers hob die Schultern. »Obwohl. Ich verstehe. «Dann sah er Bo-litho direkt an und fragte:»Wenn Sie zur Zeit meines Prozesses in England sind, würden Sie dann für mich aussagen?»

Bolitho konnte ihn nur anstarren.»Da verlangen Sie aber allerhand von mir. Nach dem Angriff auf mein Schiff und meine Männer.»

Aber Rivers ließ sich nicht beirren.»Sie sind Frontoffizier. Für mein Verhalten suche ich keine Entschuldigung, sondern Verständnis. Sie begriffen, was ich beabsichtigte: die Insel für England zu erhalten. Genau das, was durch Ihr Verdienst jetzt auch geschah.»

Als Bolitho nur schwieg, fuhr Rivers fort:»Schließlich — hätten die Spanier den Angriff noch vor Ihrem Eintreffen begonnen, wäre vielleicht meinen Abwehrmaßnahmen der Erfolg zu verdanken gewesen. Dann sähe mich alle Welt jetzt in ganz anderem Licht.»

Bolitho musterte ihn mitfühlend.»Aber der spanische Angriff kam später. Sie wissen doch aus Erfahrung, Sir Humphrey, wie es dem Kommandanten ergeht, der ein feindliches Schiff versenkt oder erobert — eben ein Schiff, das er für feindlich hält — und dann im Hafen erfährt, daß ihrer beider Länder längst Frieden geschlossen haben. Der Kommandant konnte das unmöglich wissen, und doch.»

Rivers nickte.»Und doch ist er der Schuldige. «Er erhob sich.»Ich möchte jetzt in meine Zelle zurückkehren.»

Auch Bolitho stand auf.»Ich muß Ihnen mitteilen, daß wir noch in dieser Woche England erreichen werden. Danach liegt Ihr Schicksal nicht mehr in meiner Hand.«»Verstehe. Danke.»

Rivers ging zur Tür, vor der zwei Seesoldaten ihn erwarteten.

Adam, der Zeuge des kurzen Gesprächs gewesen war, ergriff jetzt das Wort.»Mir tut er nicht leid, Onkel.»

Bolitho fuhr sich über die Stirn und betastete die Narbe unter der Haarsträhne.»Jemanden zu verurteilen, ist nur allzu leicht, Adam.»

Aber sein Adjutant grinste.»Wenn du Gouverneur der Insel gewesen wärst, hättest du dich dann so verhalten wie Rivers?«Als er Bo-lithos Verwirrung sah, nickte er.»Na bitte, da hast du's.»

Bolitho setzte sich.»Frechdachs. Allday hatte ganz recht, was dich betrifft.»

Adam war plötzlich ernst geworden,»Ich bin sehr froh, daß ich dein Flaggleutnant werden durfte, Onkel. Die vielen Monate an deiner Seite haben mich eine Menge gelehrt. Über dich, aber auch über mich selbst. «Wehmütig sah er sich in der Kajüte um.»Diese Freiheit werde ich schmerzlich vermissen.»

Bolitho war gerührt.»Mir geht es genauso. Man hat mich vor dir gewarnt. Zu nahestehend für einen Adjutanten, sagte Oliver Browne. Vielleicht hatte er in gewisser Beziehung sogar recht, aber wenn wir erst in Falmouth sind, wird.»

Beide blickten zum Oberlicht auf, weil draußen die Stimme des Ausguckpostens erklang:»An Deck! Segel in Südost!»

Bolitho starrte das Viereck blauen Himmels an und spürte, wie sein Herzschlag sich beschleunigte, sein Mund trocken wurde. Er fühlte sich wie ein Jäger, der in einem Augenblick der Unachtsamkeit ertappt wurde.

Schnell trat er zum Tisch mit der Seekarte und studierte sie, folgte den sauberen Kursberechnungen, der zielstrebigen Kurslinie mit den Blicken bis zur Küste von Cornwall. Unwahrscheinlich, daß ein Handelsschiff jetzt, da gerade ein neuer Krieg ausgebrochen war, von England oder Frankreich nach Übersee auslaufen würde.

Es dauerte immer einige Zeit, ehe die neuen Spielregeln festgelegt und dann mißachtet wurden.

«Ich gehe an Deck.»

Draußen empfing ihn warmer Sonnenschein. Die See war bewegt mit weißen Kämmen, der Wind kam immer noch stetig aus Süd, so daß Achates mit vollgebraßten Rahen über Backbordbug segelte.

Die Männer standen in Gruppen herum oder starrten zum Krähennest hinauf.

Keen rief den Ausguck an:»Was für ein Schiff?«»Kriegsschiff, Sir!»

Ungeduldig gestikulierte der Kommandant.»Entern Sie mit Ihrem Glas auf, Mr. Mountsteven, der Mann da oben ist ein Narr!»

Da gewahrte er Bolitho und grüßte.»Entschuldigen Sie, Sir.»

Bolitho ließ den Blick über die noch leere See schweifen und spürte so etwas wie eine schlimme Vorahnung. Aber weshalb? Machte es einen solchen Unterschied, daß sie kurz vor der Heimat standen?

Keen informierte ihn:»Scheint aus Südost zu kommen und ist schon zu weit draußen für einen Zielhafen in der Biskaya.»

Mountsteven hatte seinen luftigen Platz neben dem Ausguckposten erreicht. Er rief hinunter an Deck:»Sieht aus wie 'ne verdammte Fregatte, Sir. Franzose, würde ich sagen.»

Bolitho zwang sich, ruhig an die Querreling zu treten, während rund um ihn Stimmengewirr erklang.

Also eine französische Fregatte weit draußen im Atlantik, wahrscheinlich mit Nordkurs auf den Ärmelkanal — oder auf Brest? Ihm fiel wieder der Briefumschlag des toten Leutnants ein, die Depesche aus Lorient für Martinique.

«An Deck! Zweites Segel folgt der Fregatte, Sir!»

Knocker, der lautlos neben das Ruder getreten war, murmelte:»Pech und Schwefel über sie! Ich wette, die bringen uns Ärger!»

Keen sagte:»Sie segeln auf konvergierendem Kurs zu uns, Sir. Und — bei Gott — sie haben die Luvposition.»

Bolitho wandte sich nicht um, sondern starrte weiterhin über die ganze Länge des Schiffs hinweg nach vorn. So nah — und doch so fern. Noch zwei Tage, vielleicht sogar weniger, und sie wären auf die Schiffe der englischen Kanalflotte gestoßen, die ihren eintönigen Blockadedienst versahen. Schließlich sagte er zu Keen:»Die Franzosen gehen ein Risiko ein, Val. «Und als er das Begreifen im Gesicht seines Flaggkapitäns sah:»Vielleicht hat die Neuigkeit sie noch nicht erreicht, und es geht ihnen, wie es uns gegangen wäre, hätten wir nicht La Prudente gefunden.»

Midshipman Ferrier, der bei der ersten Meldung in die Luvwanten geklettert war, rief gellend:»Ich sehe das erste Schiff, Sir! Eine große Fregatte. Das zweite kann ich noch nicht erkennen, aber.»

Mountstevens Stimme von oben schnitt ihm das Wort ab:»Das zweite ist ein Linienschiff, Sir! Ein 74er!»

Ein Rudergänger pfiff durch die Zähne.»Diese Hunde!»

Bolitho nahm sich ein Fernrohr und kletterte neben Ferrier in die Wanten.»Welche Richtung?»

Aber schon fand er von allein das führende französische Schiff, dessen Bramsegel golden in der Sonne schimmerten. Noch während er hinsah, änderte sich seine Silhouette.»Er setzt die Royals«, murmelte Bolitho wie zu sich selbst.

Schließlich stieg er wieder an Deck hinunter und wandte sich an seinen Neffen.»Wie du selbst am besten weißt, Adam«, sagte er,»hätte eine Fregatte eigentlich die Aufgabe, Gefahren rechtzeitig aufzuspüren und Fremde zu identifizieren.»

Adam nickte.»Also können sie vom Kriegsausbruch noch nichts wissen.»

Bolitho versuchte, einen klaren Kopf zu bekommen, aber die Tatsachen paßten einfach nicht zueinander. Jedenfalls kamen die französischen Schiffe mit dem für sie günstigen Südwind rasch näher.»Kurs, Mr. Knocker?«fragte er kurzangebunden.

«Ostnordost, Sir. Voll und bei!»

Keen murmelte:»Wenn ich einen oder zwei Strich abfalle, werden sie mißtrauisch und glauben, daß wir uns verdrücken wollen. Andererseits würden wir bei einem Kurswechsel um ein paar Knoten schneller, Sir.»

Ob sie nun mehr Segel setzten oder einen Kurs vom Feind weg einschlugen — beides mußte das Interesse jedes Fregattenkommandanten erregen, erst recht, wenn er im Verband mit einem großen Linienschiff segelte.

«Bleiben Sie auf Kurs, Val. Vergessen Sie nicht, die beobachten uns genau.»

Keen warf einen Blick zur Windfahne hinauf.»Wäre das Wetter nicht so verdammt launisch gewesen, lägen wir jetzt längst vor Anker.»

Vom Vorschiff glaste es sechsmal, und der Zahlmeister erschien mit einem Gehilfen, um die tägliche Mittagsration Rum auszugeben.

«Ich schlage vor, Sie schicken die Leute in die Messen, Val. Die Kombüse soll das warme Essen heute früher ausgeben.»

Keen eilte davon und besprach sich mit Quantock; bald darauf schrillten die Pfeifen und riefen die Matrosen unter Deck, die grinsend verschwanden, erfreut über die unerwartete Abwechslung.

Wieder griff Bolitho zum Fernrohr und suchte das andere Schiff. Eine der neueren Fregatten, stellte er fest, mit 44 Kanonen. Er konnte bereits ihren Rumpf ausmachen, wenn ihn einer der langen Atlantikroller anhob, ehe er wieder hinter einem Gischtvorhang ins Wellental sackte. Das Schiff flog ihnen förmlich entgegen.

Die Wachgänger rund um Bolitho unterhielten sich gedämpft. Die Aussicht auf ein Seegefecht schien sie nicht weiter zu beunruhigen. Schließlich hatten sie schon einen spanischen Zweidecker besiegt und eine Insel erobert. Im Vergleich dazu mußte mit einer französischen Fregatte leicht fertig zu werden sein.

Keen kehrte zurück.»Vielleicht drehen sie ab, wenn sie unsere Nationalität kennen, Sir.»

«Also gut. Heißen Sie die Flagge.»

Aber als die rote Flagge an der Gaffel auswehte, wußte Mount-steven nur zu berichten, daß die Fregatte ihrerseits die Trikolore gesetzt hatte.

Tyrrell erschien an Deck, noch auf einem Stück Pökelfleisch kauend, schielte zur Besanstenge hinauf und fragte:»Glauben Sie, daß mich jemand da hinaufhieven könnte, Käpt'n?»

Keen hatte andere Sorgen und starrte ihn nur geistesabwesend an.»Im Bootsmannstuhl, meinen Sie?»

Tyrrell grinste Bolitho an.»Mir ist gerade ein Gedanke gekommen. Erinnern Sie sich an den 74er in Boston, der mit uns über die Inseln verhandeln sollte? Das könnte er sein. Und wenn, dann weiß man an Bord wahrscheinlich noch nichts vom Krieg. «Sein Grinsen wurde noch breiter.»Was für ein scheußliches Pech, nicht wahr?»

Mountsteven war für den Augenblick vergessen, deshalb fuhren sie zusammen, als seine Stimme herunterrief:»Ein drittes Schiff, Sir! Noch eine Fregatte, würde ich sagen.»

«Jesus Christus!«stieß Keen leise hervor. Dann sagte er zum Bootsmann:»Helfen Sie Mr. Tyrrell bitte in den Besan.»

Viele Wachgänger drehten sich um und beobachteten gespannt, wie Tyrrell ruckartig in den Besanmast gehievt wurde, wobei sein Holzbein laut gegen Spieren und Fallen stieß.

Gedämpft sagte Keen:»Drei gegen eins, Sir. Eine gewaltige Übermacht.»

Bolitho reichte das Fernrohr zurück.»Schlagen Sie vor zu fliehen?»

Keen schüttelte den Kopf.»Ich fliehe vor keinem, Sir. Aber ich kann für den Zustand des Schiffes nicht garantieren, wenn wir in ein Gefecht verwickelt werden.»

Wieder sah Bolitho die Silhouette der Fregatte sich verändern, als sie den Kurs wechselte und nun direkt auf sie zuhielt.

Leise sagte er:»Wir haben einen neuen Krieg vor uns, Val, nicht irgendeine kleine Meinungsverschiedenheit. Und England war noch nie so schlecht auf einen Krieg vorbereitet, weil unsere halbe Flotte außer Dienst gestellt ist. Wenn unser Volk diesen langen, harten Konflikt ertragen soll, dann braucht es Siege — keine Offiziere, die sich umdrehen und weglaufen, nur weil sie vor einer Übermacht stehen!»

Er sah Keen ins besorgte Gesicht.»Wir haben keine andere Wahl, Val. Die beiden Fregatten können uns hetzen und stellen wie die Meute den Hirsch. Damit bekäme der 74er Zeit, zu uns aufzuschließen und uns den Garaus zu machen. Aber wenn wir schon verlieren sollen, dann lieber mit dem Gesicht zum Feind und nicht auf der Flucht!«Bolitho wandte sich um, weil Tyrrell vorsichtig wieder an Deck gesetzt wurde.

«Das kann einen Mann ja entzweischneiden«, schimpfte er. Dann sah er sie an und setzte hinzu:»Ich hatte recht, es ist dasselbe Linienschiff. Muß nach dem Auslaufen aus Boston nach Süden gesegelt sein. Fährt eine Konteradmiralsflagge im Besan.»

Bolitho nickte.»Dann ist es die Argonaute, ein Neubau der dritten Klasse. Und auch den Admiral kenne ich von früher: Konteradmiral Jobert, einer der wenigen alten Royalisten, der den Terror überlebt hat. Ein guter Offizier.»

Er wußte, daß die Umstehenden die Ohren spitzten, um ihm zuzuhören, auch wenn sie es sich nicht anmerken ließen. Aber sie gierten nach jedem Hinweis auf das, was ihnen bevorstand.

Leichthin sagte er deshalb:»Ich gehe nach achtern und esse einen Happen, dann können wir das Schiff gefechtsklar machen.»

Während er mit langen Schritten seiner Kajüte zustrebte, war er sich bewußt, daß seine beiläufige Bemerkung wie ein Lauffeuer durch die Messen gehen würde: kein Grund zur Sorge, Kumpels, der Admiral füllt sich erst mal den Bauch.

Ohne ihn richtig wahrzunehmen, schritt er an dem Wachtposten vorbei, der die Tür aufriß, in seine Kajüte und blieb erst an den Heckfenstern stehen. Als er sich hinausbeugte, konnte er gerade noch die oberen Segel der französischen Fregatte ausmachen. Also eine gute Stunde Frist. Vielleicht würde ja gar nichts Dramatisches geschehen. Warum sollten sie auch kämpfen — nur um zu sterben? Wer würde ihm einen Vorwurf machen, wenn er sich von einer Übermacht fernhielt, gegen die er keine Chance hatte?

Er legte eine Hand auf die Brust und fühlte sein Herz hämmern. Aus Angst? War es diesmal soweit? War das kommende das eine Gefecht zuviel? Weiß Gott, es war schon anderen, weitaus tapfereren Männern vor ihm geschehen, daß sie die Nerven verloren.

Bolitho wischte sich das Gesicht mit dem Ärmel trocken und wandte sich blicklos wieder dem Raum zu.

Es war die Angst, etwas so Kostbares zu verlieren, daß er sich keinen Ersatz dafür vorstellen konnte. Er hatte sich zuviel erhofft, hatte zu sehr gebangt. Eine Schwäche, die er sich nicht leisten durfte, wenn so viele Menschenleben von seiner Entscheidung abhingen. Was zählte schon Hoffnung? Überhaupt nichts, wenn erst die Breitseiten donnerten.

Ozzard trat mit einem Tablett in die Kajüte.»Frisches Huhn, Sir.»

Bolitho sah ihm zu, als er das Tablett vorsichtig abstellte. Also hatte auch der Zahlmeister seine Hoffnungen gehabt, denn andernfalls hätte er niemals eins seiner kostbaren letzten Hühner geopfert.

«Ein Glas Wein, Sir?«fragte Ozzard geduldig.

Bolitho mußte lächeln. Der schmächtige Ozzard, wie vertrauensvoll und loyal er war! Nichts schien ihm ferner zu liegen als der Gedanke, daß er noch vor dem Abend tot sein konnte.

«Ja, bitte, Ozzard«, sagte Bolitho.»Ein Glas aus deinem speziellen Kistchen.»

Als der Steward davongehuscht war, vergrub Bolitho das Gesicht in den Händen.

Der französische Admiral war also über den neuerlichen Kriegsausbruch noch nicht informiert, sonst hätte er auf jeden Fall die Formation seines Geschwaders so geändert, daß er aus drei Richtungen zugleich angreifen konnte. Achates konnte die erste Fregatte unter Feuer nehmen und wahrscheinlich zum Wrack schießen, ehe ihr Kommandant wußte, wie ihm geschah. Danach konnten sie das Linienschiff angreifen. Dann war die Übermacht immer noch groß, aber wenigstens um ein Drittel reduziert.

Bolitho rief sich seine ungläubige Wut ins Gedächtnis, als der spanische Zweidecker Achates ohne Vorwarnung angegriffen hatte. Wie hatten sie ihn für seine Feigheit und Hinterhältigkeit verflucht!

Brachte er es jetzt über sich, genauso zu handeln?

Nicht ehrenhaft. Ehrenhaft. Das Wort schien wie ein geflüsterter Zauberspruch in der Kajüte umzugehen.

Bolithos Blick fiel auf den alten Familiensäbel an der Wand, und er erinnerte sich wieder daran, wie sein Vater die Waffe ihm und nicht seinem älteren Bruder Hugh übergeben hatte. Sie hätte eigentlich Hugh gebührt, wäre da nicht sein Verrat, seine Desertion gewesen, die wie ein Schatten über der Familie hing und Bolitho sogar bis nach San Felipe gefolgt war. Das hatte dem alten Bolitho das Herz gebrochen und den Säbel in die Obhut seines zweiten Sohnes gebracht.

Laut sagte Bolitho:»Also sei's drum!«Im Grunde hatte er nie die freie Wahl gehabt, hatte sich nur etwas vorgemacht.

Als Ozzard mit einer in der Bilge gekühlten Flasche Wein zurückkam, fand er Bolitho so ruhig und äußerlich unbesorgt vor, wie er es von ihm gewohnt war.

So schlecht konnte es demnach nicht um sie bestellt sein.

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