«Nordwest zu Nord liegt an, Sir! Immer noch Ruder im Schiff!«Selbst die Stimme des Rudergängers klang gedämpft, als Achates nur unter Bramsegeln und Klüver langsam auf ihren Ankerplatz zukroch.
Die Mittagssonne brannte heiß auf die nackten Schultern der Seeleute herab, die wartend an den Brassen standen oder auf den Rahen ausgelegt hatten. Bis auf die letzten paar Kabellängen war ihre Reise zu Ende.
Bolitho hielt sich etwas abseits von Keen und seinen Offizieren und starrte zu der Küstenlinie hinüber, die im schimmernden Glast langsam Gestalt annahm.
Bei Morgengrauen hatten sie Cape Cod schon querab gehabt, aber dann war die schwache Brise fast eingeschlafen, und es wurde Mittag, ehe sie ans Ankern denken konnten.
Bolitho hob das Glas und studierte die Reede mit ihrem Dickicht aus Masten, Spieren und aufgetuchten Segeln — ein greifbarer Beweis für das Blühen und Gedeihen des Hafens von Boston. Schiffe und Flaggen aller Nationen gaben sich hier ein Stelldichein, Leichter hasteten zwischen ihnen und der Pier hin und her wie Wasserkäfer.
Auch einige Kriegsschiffe lagen hier, konstatierte Bolitho. Zwei amerikanische Fregatten und drei Franzosen, einer davon ein mächtiger Dreidecker, an dessen Besanmast eine Admiralsflagge müde flappte.
Bolitho schwenkte das Glas, bis der Landvorsprung in Sicht kam, der sich ihrem Backbordbug entgegenstreckte. Da war das vielsagende graue Band der Befestigungswälle und hoch darüber die Flagge.
Bolitho machte sich klar, was er empfand und warum sein Mund plötzlich trocken wurde. Es war jetzt neunzehn Jahre her, seit er in diesen Gewässern gesegelt, an dieser Küste gelandet war. In einem anderen Krieg, mit anderen Schiffen. Nun fragte er sich, was sich alles geändert haben mochte und wie er selbst darauf reagieren würde.
Er hörte Keens scharfen Befehl:»Beginnen Sie mit dem Salut, Mr. Braxton!»
Das Krachen der ersten Kanone rollte über die Massachusetts Bay wie eingefangener Donner, während der Pulverrauch auf dem glatten Wasser hing, als hätte er nicht die Kraft, höher zu steigen. Kreischend flatterten Möwen und andere Seevögel von ihren Standplätzen auf, als das Schiff und die Batterie an Land Schuß um Schuß ihre Grüße tauschten.
Bolitho mußte wieder an die Tage denken, die ihrem Gefecht mit dem namenlosen Schiff gefolgt waren. Beschämung und Wut wichen der fieberhaften Entschlossenheit,»eine offene Rechnung zu begleichen«, wie Allday es formuliert hatte. Die Schäden in der Takelage waren schlimmer gewesen als die am Rumpf, und vom Kommandanten bis zum kleinsten Pulverjungen hatten alle ihr Bestes gegeben, um das Schiff zu reparieren, ehe in Boston der Anker fiel.
Eine neue Vormaststenge war an den geschäfteten Mast gelascht worden, laufendes Gut und Segel wurden ersetzt, während ein kräftiger Nordost gutes Vorwärtskommen versprach. Zuletzt hatten Farbe, Pech und Schweiß die Arbeit vollendet.
Der Eifer war ansteckend gewesen; Bolitho hatte die vier Holzattrappen aus seiner Kajüte entfernen und wieder durch die Achtzehn-pfünder ersetzen lassen. Sie raubten ihm zwar Platz, symbolisierten aber seine Entschlossenheit, sich nie wieder mit verhängtem Zügel überraschen zu lassen.
Voraus sah er ein amerikanisches Wachboot bewegungslos über seinem Spiegelbild warten, um das britische Kriegsschiff an den Ankerplatz zu lotsen.
Bolitho beschattete seine Augen und studierte die Küste: weiße Holzhäuser, mehrere Kirchen, Sonnenreflexe auf Fenstern und polierten Kutschen am Kai. Vielleicht beobachtete dort drüben manch einer das langsam herangleitende Schiff und erinnerte sich wieder an die schlimmen Tage der Revolution, an den Krieg, der Bruder gegen Bruder antreten ließ.
«Alles klar, Sir!»
«Dann stellt sie in den Wind«, antwortete Keen.
«An die Lee-Brassen! Fiert weg«, kam Quantocks prompter Befehl. Bolitho blickte zum Großbramsegel auf. Die Brise reichte kaum aus, es killen zu lassen. Noch ein oder zwei Minuten, und sie hätten in einer Totenflaute gelegen.
«An die Bramsegelschoten!«Quantock beugte sich weit über die Querreling und schwenkte sein Sprachrohr von einer Seite zur anderen, während er seine Männer hoch oben in der Takelage nicht aus den Augen ließ.»Klar bei Geitauen!»
«Leeruder!«kam Keens Anweisung.
Zögernd drehte Achates in den einschlafenden Wind, das weiße Ge-kräusel vor ihrem Steven verschwand mit dem letzten bißchen Fahrt.»Laß fallen Anker!»
Keen war schon auf der anderen Seite des Decks, noch ehe der schwere Anker gefaßt hatte.
«Und jetzt die Sonnensegel und Persennings, Mr. Quantock! Ein bißchen lebhaft! Da vorn sind heute alle Gläser auf uns gerichtet.»
Bolitho biß sich auf die Lippen. Keen war nervös, er grübelte länger als jeder andere an Bord immer noch über ihr kurzes Duell mit dem geheimnisvollen Schiff.
An dem Tag hatten sie zwei Männer verloren. Der eine war ertrunken, der andere von Wrackteilen erschlagen worden. Aber an Keen fraß noch etwas anderes, denn schließlich lebte ein Seemann immer riskant. Durch Unfälle an Bord oder im Kampf mit See und Wind starben mehr Männer als unter Feindbeschuß.
Doch Keen nahm es schwer. Trotz seiner Erfahrung und unbestritten klugen Kampftaktik machte er sich wegen seiner falschen Lagebeurteilung Vorwürfe. Oder verschärfte die Tatsache, daß er Bolithos Flaggkapitän war, so sehr die Anforderungen, die er an sich stellte?
Bolitho war selbst mehrfach als Flaggkapitän gefahren und konnte nachempfinden, was Keen durchmachte. Damals war er dankbar gewesen, als sein Admiral ihn in Ruhe gelassen und ihm Gelegenheit gegeben hatte, seinen Fehler wieder gutzumachen. Ganz gewiß sollte Keen die gleiche Chance von ihm bekommen.
Sanft schwojte Achates an ihrer Ankertrosse, während an Deck alle Mann wie besessen arbeiteten, um die Boote auszuschwenken und die Sonnensegel aufzuspannen, die die Mittagsglut etwas erträglicher machen würden.
Bolitho sah Knocker seine Rudergänger unter Deck entlassen. Dann studierte er die Berechnungen auf der Schiefertafel neben dem Kompaß, die ein Kadett angestellt hatte. Dabei rieb er sich nachdenklich das kräftige Kinn.
Knocker hatte guten Grund, mit sich zufrieden zu sein, überlegte Bolitho. Trotz allem hatte Achates die Reise von Hampshire nach Boston in der Rekordzeit von nur sechzehn Tagen geschafft. Für einen leichten Zweidecker, der unterwegs auch noch Reparaturen ausführen mußte, war das keine schlechte Leistung. Bolitho wollte dem griesgrämigen Segelmeister dafür seine Glückwünsche aussprechen, doch da war er bereits im Kartenraum verschwunden.
Also trat er statt dessen an die Webeleinen und blickte zu den einheimischen Booten hinunter, die den Neuankömmling schon zu umkreisen begannen. Er sah gebräunte Gesichter, farbenfrohe Gewänder und viele neugierige Blicke. In Boston war man an Schiffe aller mö glichen Nationalitäten gewöhnt, aber seit dem Krieg hatten nicht viele britische Kriegsschiffe hier Anker geworfen.
Bolitho hörte Schritte an Deck und sah seinen Neffen mit einem Packen Dokumenten unter dem Arm herantreten.
«Aha, du nimmst deine Aufgabe also ziemlich ernst, Adam.»
Der schwarzhaarige Leutnant lächelte.»Aye, Sir. Aber ich verzichte gern auf jede Beförderung, wenn ich dafür dieses Schiff verlassen müßte.»
Bolitho hatte Verständnis für seine gute Laune. Zwar erwähnten beide kaum je Bolithos großzügige Geste, die sie noch enger verbunden hatte, aber Adam suchte an manchen Abenden, die er bei seinem Alter sicher lieber unter seinesgleichen in der Messe verbracht hätte, Bolithos Nähe, um ihm die Zeit und die trüben Gedanken an Belinda zu vertreiben. Wäre Bolitho noch Kommandant gewesen, hätten ihn die Reparaturen und anderen Anforderungen nicht zum Nachdenken kommen lassen; aber so blieb ihm während der Reise zu viel freie Zeit, nur mit Allday oder seinem Steward als Gesprächspartner. Da waren ihm Adams Besuche hochwillkommen gewesen.
Aber jetzt lag das Schiff vor Anker, hatte seine Aufgabe fürs erste erfüllt, und Bolitho war endlich aufgerufen, zu handeln und das Vertrauen zu rechtfertigen, das Sheaffe in ihn gesetzt hatte.
Leutnant Mountsteven, der Wachoffizier, tippte grüßend an seinen Hut und meldete:»Ein Boot hält auf uns zu, Sir.»
Keen nickte.»Besuch für Sie, Sir.»
Bolitho wußte, daß seine Anwesenheit hier oben störte; er sagte:»Ich bin in meiner Kajüte, wenn Sie mich brauchen.»
Als er unter Deck ging, hörte er die Seesoldaten zur Eingangspforte laufen und die Offiziere ihre Kommandos bellen, damit Achates für den ersten Abgesandten des Landes gerüstet war.
Ozzard räumte die große Achterkajüte auf, obwohl sie in Bolithos Augen eigentlich stets makellos sauber war. Er trat an die offenen Heckfenster und sah ein Boot im Schatten unter dem Rumpf verweilen, während die Insassen neugierig Achates' vergoldete Galerie und Heckschnitzereien bestaunten. Unbehaglich machte er sich klar, daß sein Bruder Hugh einst hier stationiert gewesen war, unter Leuten wie diesen in der Stadt gelebt hatte. Von Adams Existenz hatte er damals nichts geahnt. Und nun kam Adam statt seiner zurück, trat vielleicht in seine Fußspuren. Bolitho wurde unruhig. Vielleicht hätte er Adam doch nicht hierher mitnehmen sollen, mochte es seiner Karriere auch noch so förderlich sein.
Die Tür ging auf, und da stand Adam, einen dicken Briefumschlag in der Hand.»Wir sind für heute abend zu einem Empfang geladen, Onkel«, sagte er und hielt Bolitho den Umschlag hin.»Man hat mich soeben informiert, daß der Präsident der Vereinigten Staaten einen Gesandten zu deinem Empfang nach Boston beordert hat.»
Bolitho verzog das Gesicht.»Und damit weiß nun alle Welt, was wir hier vorhaben, Adam. Wenn sie uns schon so lange erwarten, kann es nicht überraschen, daß wir nur acht Tage nach unserem Auslaufen in einen Zwischenfall verwickelt wurden.»
Adam nickte.»Offenbar haben wir ziemliches Aufsehen erregt. «Aber dann überzog ein Grinsen sein Gesicht.»Vielleicht wollen sie doch noch ihre Steuerschulden an König George bezahlen?»
Bolitho schüttelte den Kopf.»Wenn du auch an Land so kesse Reden schwingst, dann bricht unseretwegen eher ein neuer Krieg aus!»
Als Bolitho später bequem im Sessel ausgestreckt lag und sich von Allday für den Abend rasieren ließ, versuchte er, sich über das Ausmaß seiner Verantwortung klar zu werden.
Die Fregatte Sparrowhawk mußte nun bald von San Felipe nach Boston auslaufen. Ihr Kommandant, Kapitän Duncan, war nicht unbedingt ein diplomatisches Genie. Gewiß hatte er dem Gouverneur der Insel vorschriftsmäßig seine Aufwartung gemacht, ehe er um weitere Befehle nach Boston aufbrach; aber genauso gewiß hatte er Rivers nicht im unklaren über den Ausgang der Affäre gelassen.
Trotz allem, was Sheaffe ihm erklärt hatte, kam es Bolitho immer noch unmenschlich und sinnlos vor, die Insel den Franzosen zurückzugeben. Dabei dachte er weniger an Strategie oder Diplomatie, sondern mehr an ihre Bewohner. Viel zu oft hatte die Insel sich aus eigener Kraft gegen feindliche Überfälle wehren müssen und hatte sogar selbst Schiffe ausgesandt, die im Namen des Königs Prisen eroberten oder den Feind irritierten. In London und Paris sah man das alles aus ganz anderem Blickwinkel. Für Bolitho aber, der mit geschlossenen Augen unter Alldays Rasiermesser lag, war die ganze Sache allmählich so rätselhaft wie ein chinesisches Münzorakel.
Nach der Backofenhitze unter Deck genoß Bolitho dankbar die kühlere Abendluft, als er in sein Langboot hinabkletterte. Er fühlte sich seltsam gespannt, wie ein Entdeckungsreisender beim ersten Schritt auf noch unerforschtem Terrain.
«Rudert an — zugleich!«knurrte Allday, und die Bootsgasten pullten mit gleichmäßigen, exakten Riemenschlägen das grün gestrichene Boot in einer weiten Kurve zum Land.
Der Erste Offizier hatte an Bord zurückbleiben müssen, eine bittere Pille in einem so verlockenden Hafen, dachte Bolitho. Dann musterte er Keen, der ihn zum Empfang begleitete, und fragte sich, ob der Kommandant sich allmählich entspannen konnte. Seit sie vor Anker lagen, hatte Keen die größte Arbeitslast zu tragen, denn er mußte sich nicht nur um die Belange des Schiffes kümmern, sondern auch einen endlosen Besucherstrom abfertigen, und zwar jeden einzelnen entsprechend seinem Rang und seiner Mission: die Kommandanten der amerikanischen Fregatten samt diversen Untergebenen, den Hauptmann der Hafenwache und einen äußerst höflichen und gewandten jungen Herrn, der sich als Sohn ihres Gastgebers entpuppte.
Als das Langboot mit schnellem Riemenschlag an der Achates vorbeizog, vermochte Bolitho nicht zu widerstehen und musterte den Rumpf scharf nach verräterischen Spuren ihres kurzen Gefechts. Aber er konnte keine mehr entdecken — dank des geschickten Schiffszimmermanns und seiner Crew.
Einen letzten Blick warf er der schmucken Galionsfigur zu:
Achates, der treue Freund und Schwertträger des Aeneas, leuchtete in klarem Weiß, mit einem Arm nach vorn deutend, in der anderen Hand das Schwert. Unter der Farbe wirkte die Holzfigur rund geschliffen vom Zahn der Zeit; gewiß hatte sie mehr Länder und Meere gesehen als irgend jemand an Bord und hatte Stürme erlebt wie kaum ein anderer.
Das Boot passierte einen mächtigen Indienfahrer, der trotz der späten Stunde immer noch eifrig Fracht übernahm. Hastig kam einer seiner Offiziere an die Reling gerannt und lüpfte grüßend den Hut, als das Admiralsboot an seinem Heck vorbeizog.
Ironischerweise war es ein Handelsstreit um Tee gewesen, der die Feuer der Revolution entfacht hatte, sann Bolitho. Und jetzt kamen und gingen die stolzen Handelsschiffe, wie es ihnen beliebte, während ein Kriegsschiff sich nur im eigenen Hoheitsgewässer frei bewegen konnte.
Allday bellte ein Kommando, und der Bugmann erhob sich von seinem Platz, den Bootshaken in der Faust, klar zum Einhaken in die Festmacherketten.
Immer noch drängten sich Neugierige auf der Pier, und einige von ihnen hatten offensichtlich den ganzen Nachmittag hier verbracht. Die Fährleute von Boston mußten an ihren sensationslüsternen Passagieren schon ein Vermögen verdient haben.
Keen, Hauptmann Dewar von den Royal Marines, zwei Leutnants und Adam Bolitho waren als Gäste ins Haus eines einflußreichen Bostoner Kaufmanns namens Jonathan Chase geladen; die restlichen Offiziere hatten anderweitige Einladungen erhalten. Keen hatte sie alle ermahnt, jedes Wort gut zu überlegen und die Ohren offen zu halten, ob ihr Gefecht mit dem unbekannten Schiff erwähnt wurde; daraus hätte sich schließen lassen, daß diese Nachricht — mit wem? — ihnen schon vorausgeeilt war.
Bolithos Blick fiel auf einige junge Frauen an der Pier. Die besonders zuverlässigen Matrosen und Seesoldaten hatten ebenfalls Landurlaub erhalten. Aber nach den aufgeweckten Gesichtern dieser lächelnden Mädchen zu schließen, würde es den britischen Seeleuten hier verdammt schwerfallen, den Mund zu halten.
Trotz allem: Der Anschein des Alltäglichen, des Unbeschwerten mußte gewahrt werden, alte Vorurteile mußten verdrängt, wenn schon nicht ganz vergessen werden.
Die Bootsgasten stellten salutierend ihre Riemen senkrecht, Allday zog grüßend den Hut und vergewisserte sich, daß Bolitho auf den nassen Steinstufen nicht ausglitt.
Bolitho lächelte dankend.»Feine Crew, Allday.»
Selbst Allday hatte zugeben müssen, daß die neue Barkasse ein Schmuckstück war. Und die Bootscrew in ihren karierten Hemden, geteerten Hüten und mit Haarzöpfen von exakt gleicher Länge hätte nicht besser ausgewählt sein können.
Timothy Chase, der Sohn ihres Gastgebers, wartete bereits neben zwei eleganten Kutschen. Er reichte Bolitho unter den neugierigen Blicken der Umstehenden die Hand.
«Sie sind uns willkommen, Admiral. Wie meine Mutter sagt — wir müssen an die Zukunft denken.»
Gelenkig sprang Hauptmann Dewar aus der Barkasse an Land, und beim Anblick seiner roten Uniform wurde die Menge unruhig.»Obacht, Jungs, die Rotröcke kommen zurück!«schrie einer.
Aber die allgemeine Stimmung war nicht feindselig, sondern eher von gutmütigem Spott geprägt.
Die Fahrt zur Residenz der Chases ging für Bolitho viel zu schnell vorbei; der junge Timothy lenkte seine Aufmerksamkeit immer wieder auf Sehenswürdigkeiten oder besonders stattliche Anwesen, an denen ihre Kutsche vorbeiratterte. Offenbar war er sehr stolz auf die Stadt, in der er geboren und aufgewachsen war. Etwa im gleichen Alter wie Adam, wirkte er weniger reserviert, als er lebhaft jedes Haus und seine Bewohner beschrieb.
«Insgesamt ist das Stadtbild von Boston gepflegter als das jeder anderen Stadt Neuenglands, Sir«, hob er hervor.
Bolitho fiel auf, daß die meisten Häuser aus Holz gebaut waren, auch wenn manche Fassaden dem Schnitt und der Verarbeitung nach Steinmauern vortäuschten. Bolitho lächelte in sich hinein. Sein Gastgeber war zwar ein reicher Mann, aber sein Reichtum stammte — wie Bolitho aus seinen Geheimunterlagen wußte — nur von den Prisen seiner Freibeuter ab, die er während der Revolution gegen die Briten ausgeschickt hatte.
Überhaupt war Boston ein Freibeuternest gewesen — wie so viele Häfen an dieser Küste, bis hinauf nach Portland.
Die beiden Kutschen bogen von der Straße in eine lange Auffahrt ein, die zu einem ausgewogen proportionierten dreigeschossigen Haus führte. Wie andere Häuser Bostons war es weiß gestrichen und hatte hohe grüne Läden an allen Fenstern. Hinter vielen Scheiben brannte schon warmes, festliches Licht.
«Na, Adam, was hältst du davon?«fragte Bolitho leise.
Adam ließ sich nichts anmerken.»Ich könnte mich ohne weiteres an das Wohlleben gewöhnen, Sir«, sagte er ebenso gedämpft.
Es fiel nicht schwer, sich ihren Gastgeber als Kapitän auf dem Achterdeck eines Freibeuters vorzustellen. Er hatte eine laute, dröhnende Stimme, die es gewohnt schien, herrisch das Wüten des Sturms oder den Donner der Kanonen zu übertönen. Jonathan Chase war ein vierschrötiger, kantiger Mann mit eisengrauem Haar und einer Haut wie aus dunkel gegerbtem Leder.
«Also, Admiral, es ist mir ein großes Vergnügen. «Er packte Bo-lithos Hand und musterte aufmerksam sein Gesicht.»Und eine besondere Ehre, einen so berühmten Seemann begrüßen zu dürfen.»
Bolitho fand den Mann sympathisch.»Es war sehr freundlich von Ihnen, Ihr Haus für dieses Treffen zur Verfügung zu stellen.»
Chase. grinste.»Wenn Thomas Jefferson etwas vorschlägt, dann fackelt man hier nicht lange, mein Freund. Auch wenn er erst seit einem Jahr unser Präsident ist, so hat er doch schon begriffen, daß Macht schneller zu Kopfe steigt als Wein. «Das schien Chase zu amüsieren.
Livrierte schwarze Diener nahmen die Hüte der Besucher entgegen, und dann folgte Bolitho dem Hausherrn in einen großen Salon voller Gäste. Chase deutete mit dem Kopf auf ein Tablett mit Gläsern.»Hoffentlich habe ich mit dem Wein Ihren Geschmack getroffen, Admiral. Er kommt aus Frankreich.»
Bolitho lächelte nachdenklich.»In der Tat.»
Fremde Gesichter glitten an ihm vorbei, als Chase seine Freunde und Geschäftspartner vorstellte; Bolitho wurde immer deutlicher bewußt, welche Autorität sein Gastgeber besaß und welch hohes Ansehen.
Keen war sofort von zwei attraktiven Damen mit Beschlag belegt worden, und eine dritte führte Hauptmann Dewar so entschlossen hinaus auf die Terrasse, als wolle sie ihn an diesem Abend mit keiner anderen teilen.
Chase stellte sein Glas ab und musterte Adam aufmerksam.»Ihr Adjutant, Admiral, sieht Ihnen ähnlich. Ist er Ihr Sohn oder jüngerer Bruder?»
«Mein Neffe.»
Chase nickte wohlgelaunt.»Sie und ich, wir schleichen uns gleich nach nebenan und köpfen eine Flasche ausgezeichneten Brandy. «Mit einem Finger tippte er sich gegen die Nase.»Das gibt uns Gelegenheit zu einer kleinen Unterhaltung, ehe unser Regierungsvertreter erscheint. «Plötzlich hob er die Hand.»Neffe, aha. Hätte ich mir denken können. «Und mit erhobener Stimme:»Hierher, Robina. Ich möchte dir jemanden vorstellen.»
Das Mädchen namens Robina war eine Schönheit: schlank, grazil und mit einem Leuchten in den Augen, das jeden Mann den Kopf nach ihr wenden ließ.
«Und das ist meine Nichte, Admiral«, strahlte Chase.
Robina legte Adam die Hand auf den Arm und schlug vor:»Ich zeige Ihnen den Garten, Leutnant. «Mit einer Kopfbewegung deutete sie auf ihren Onkel:»Die beiden wollen ja doch nur von alten Zeiten reden.»
Bolitho mußte über Adams Fügsamkeit lächeln; fasziniert ließ er sich, ohne ein Wort des Protestes, von Robina davonführen.
Chase schmunzelte.»Ein hübsches Paar, die beiden, wie?»
Dann warf er einen Blick über die schwatzende Gästeschar.»Ich denke, wir gehen jetzt in die Bibliothek. Im Augenblick wird man uns nicht vermissen.»
In der holzgetäfelten Bibliothek schien sich ein Stück jüngster amerikanischer Geschichte versammelt zu haben: Andenken an Schiffe und Reisen, für Chase wahrscheinlich Erinnerungen an seine stürmischen Jugendjahre. Bolitho sah Harpunen und Walkiefer, daneben Schlachtengemälde, auf deren einem ein brennendes britisches Schiff gerade die Flagge strich.
Gutgelaunt meinte Chase:»Na ja, Admiral, schließlich haben Sie nicht jede Seeschlacht gewonnen. «Aber dann wurde er wieder ernst.»Samuel Fane, der Gesandte des Präsidenten, ist ein schwieriger Verhandlungspartner. Ich persönlich finde ihn sympathisch, soweit man einen Regierungsvertreter sympathisch finden kann, aber er haßt die Briten. «Chase grinste breit.»Wollte Sie nur warnen. Obwohl Sie — nach allem, was ich über Sie gelesen und gehört habe — gewiß selbst Ihren Mann stehen können.»
«Ich weiß Ihre Offenheit zu schätzen«, lächelte Bolitho.
Chase goß Brandy in zwei bauchige Gläser.»Keine Ursache. Ich habe gegen König George gekämpft, und zwar nicht zu knapp. Aber im Frieden gelten andere Gesetze als im Krieg. Wer das nicht akzeptiert, muß in unserer Welt Schiffbruch erleiden.»
Die Bäume und Sträucher des weitläufigen Gartens an der Rückfront des Herrenhauses waren schon in purpurne Schatten getaucht. Adam schritt mit dem Mädchen am Arm dahin und wagte kaum den Mund aufzumachen aus Angst, er könnte etwas Falsches sagen und damit den Zauber des Abends vertreiben. Für Adam gab es keinen Zweifel, daß er mit dem bezauberndsten Wesen spazierenging, das ihm jemals unter die Augen gekommen war.
Da blieb sie stehen, ergriff seine Hand und drehte ihn zu sich herum.
«Hören Sie, Leutnant, jetzt sind aber Sie dran, sonst rede ich noch den ganzen Abend. Alle sagen, ich sei viel zu geschwätzig. Und dabei möchte ich viel mehr über Sie erfahren. Sie heißen Adam und sind Adjutant des Admirals. Und weiter?»
Zu seiner Überraschung stellte Adam fest, daß ihm das Erzählen leicht fiel. Während sie unter den Bäumen dahinschlenderten, erzählte er ihr von seinem Dienst als Marineoffizier, von seinem Heim in Cornwall — und vergaß doch keinen Augenblick die warme kleine Hand auf seinem Arm.
Plötzlich unterbrach sie ihn.»Sie sind der Neffe des Admirals, Adam?»
Sein Name klang in ihrem Mund wie Musik.»Ja.»
«Ich wohne gar nicht in Boston«, fuhr sie fort.»Meine Familie lebt in Newburyport, das ist dreißig Meilen nördlich von Boston. Seltsam, daß es mir nicht früher eingefallen ist. Aber mein Vater spricht manchmal von einem Mann, der in unserer Stadt wohnte und ebenfalls Bolitho hieß.»
Adam bemühte sich, wieder klar zu denken.»In Newburyport?«»Ja. «Sie drückte seinen Arm.»Das klingt ja, als hätten Sie sich an etwas erinnert?»
Er wandte sich ihr zu; wie gern hätte er sie in die Arme genommen!» Das wird wahrscheinlich mein Vater gewesen sein.»
Amüsiert wollte sie auflachen, doch dann fiel ihr sein Ernst auf, das Bedeutsame dieser Entdeckung.
«Mein Onkel sagt, daß Ihr Schiff noch wochenlang in Boston liegen wird. Ich möchte, daß Sie nach Newburyport kommen und meine Familie kennenlernen. «Sie hob die behandschuhte Hand und legte sie leicht an seine Wange.»Seien Sie nicht so traurig, Adam. Falls es ein Geheimnis bleiben soll, ist es bei mir gut aufgehoben. Erzählen Sie mir aber nur davon, wenn es auch Ihr Wunsch ist.»
«Das ist es. «Adam stellte fest, daß ihm dieser Wunsch von Herzen kam.
Aus dem Fenster der Bibliothek sah Bolitho Adam und Robina die Terrasse überqueren. Ihr Anblick rührte ihn, denn in seinen Augen war es höchste Zeit, daß Adam ein bißchen Freude am Leben fand — und sei es nur vorübergehend. Seit er sich zu Fuß von Penzance nach Falmouth durchgeschlagen hatte, in der Hoffnung auf einen Platz in der Familie Bolithos, hatte er nur Krieg und den harten Dienst in der Marine kennengelernt. Noch immer sah Bolitho den dünnen, eingeschüchterten Jungen von damals vor sich: furchtsam, aber mit der trotzigen Unruhe eines Fohlens. Nun glaubte er, Robina lachen zu hören. Ja, er gönnte Adam diese Ablenkung.
Ein Lakai öffnete beide Türflügel, und ein hochgewachsener Mann in flaschengrünem Rock und weißen Strümpfen betrat die Bibliothek.
«Und hier ist nun Samuel Fane aus Washington«, stellte Chase ihn vor.
In Fanes schmalem, unbewegtem Gesicht schien sich das Leben ganz in die tiefliegenden, funkelnden Augen zurückgezogen zu haben, die dicht an der kräftigen Hakennase saßen.
«Und Sie sind Vizeadmiral Bolitho«, nickte er statt eines Grußes.»Also, kommen wir zur Sache.»
Bolitho ließ den schon ausgestreckten Arm sinken. Vielleicht mochte Fane nicht mit einem alten Feind einen Händedruck tauschen. Verständlich, aber trotzdem ein Affront.
Seltsamerweise ließ ihn das irgendwie gelassener werden: die innere Ruhe vor einem Duell, wenn man sich damit abgefunden hat, daß jede Hoffnung auf eine einfache Lösung nur Selbsttäuschung wäre.
Im gleichen trockenen Ton fuhr Fane fort:»San Felipe. Würden Sie mir bitte erklären, Admiral, weshalb Ihre Regierung sich für berechtigt hält, diese Insel und ihre Bevölkerung wie etwas Wertloses we g-zuwerfen? Woher nimmt sie dieses Recht?»
«Beruhigen Sie sich, Sam«, mahnte Chase unbehaglich.»Sie wissen doch, daß die Sache anders liegt.»
«We iß ich das?«Die tiefliegenden scharfen Augen ließen Bolitho keine Sekunde los.
Bolitho lächelte andeutungsweise.»So wurde es beim Friedensschluß vereinbart. Und das wissen Sie sicherlich. Ich darf doch annehmen, daß die französische Regierung Sie über Amiens ins Bild gesetzt hat?»
Chase mischte sich ärgerlich ein.»Natürlich hat sie das. Sagen Sie's ihm, Sam, und kommen Sie von Ihrem hohen Roß herunter. Der Krieg ist aus, vergessen Sie das nicht.»
Fane warf ihm einen kalten Blick zu.»Das kann ich schon deshalb nicht vergessen, weil ich ständig daran erinnert werde, wie gut manche aus dem Blut der Opfer Geld zu machen verstanden.»
Bolitho sah Chases Blick wütend aufflackern.»Ich dachte, Frankreich sei Ihr Freund und Verbündeter?«wechselte er das Thema.
Fane zuckte die Schultern.»So war es. Vielleicht wird es auch künftig so sein. Aber was San Felipe betrifft, das im Süden vor unserer Haustür liegt, so gilt das nicht.»
«Die Menschen auf San Felipe sind britische Untertanen«, stellte Bolitho fest.
Chase grinste.»Das waren auch die meisten von uns. Früher.»
Fane schien ihn nicht gehört zu haben.»Vor einiger Zeit erhielt ich eine Depesche des Gouverneurs von San Felipe. Die Uneinsichtigkeit der britischen Regierung bereitete ihm naturgemäß Sorgen. Er ist nicht geneigt, die ihm aufgezwungene Lösung zu akzeptieren, das heißt, eine blühende Insel vor den Franzosen zu räumen oder — von ihnen geduldet — unter französischer Flagge dort weiterzuwirken.»
«Das verstehe ich.»
«Wirklich, Admiral? Das läßt mich hoffen. Aber wie dem auch sei, die Regierung der Vereinigten Staaten ist nicht gewillt, tatenlos zuzusehen, wenn Menschen wie afrikanische Sklaven von einer Hand in die andere verschachert werden.»
Bolitho war aufgesprungen und hörte sich zu seiner eigenen Überraschung wütend erwidern:»Dann ist es sinnlos, daß Sie meine Zeit verschwenden, Mr. Fane. Oder ich die Ihre!»
Hastig sagte Chase:»Aber nicht doch, meine Herren! Schockschwerenot, Sam, der Admiral ist mein Gast. Ich dulde es nicht, daß ihr euch anfaucht wie zwei Wildkater!»
Fane milderte seinen Ton.»Dann werden wir einen Kompromiß finden müssen.»
Bolitho setzte sich wieder.»Welchen, zum Beispiel?»
«Wenn San Felipe den Wunsch äußert, sich unter den Schutz der Vereinigten Staaten zu begeben, wird meine Regierung dies wohlwollend aufnehmen.»
«Kommt nicht in Frage.»
«Aber wenn die Franzosen einverstanden sind, Admiral? Wären Sie es dann auch?»
Bolitho blickte zu Chase hinüber, aber der starrte nur einen Walkiefer an.
Für Chase war das nichts Neues, er hatte es längst gewußt — wie alle hier: Es war kein Kompromiß, nicht die Spur davon. Es war Erpressung.
Bolitho zwang sich zur Ruhe.»Der Gouverneur war zu diesem Ersuchen nicht berechtigt, weder bei Ihnen noch anderweitig. Wir sind hier in einer tragischen Entwicklung der Geschichte befangen, können aber nichts daran ändern.»
Fane musterte ihn unbewegt.»Das bleibt abzuwarten. «Schließlich fügte er hinzu:»Ihr Flaggschiff kann der Gastfreundschaft meiner Regierung sicher sein. Diese Angelegenheit läßt sich nicht so schnell bereinigen. Sie will gut bedacht werden.»
Bolitho nickte. Fane hatte ihn also nur testen oder provozieren wollen. Aber aus welchem Grund?
Er konnte es sich nicht verkneifen, Fane festzunageln.»Ihre Regierung hat auch einem anderen britischen Schiff ihre Gastfreundschaft zugesichert, Mr. Fane: der Sparrowhawk. Sie wird bald zu mir stoßen.»
«Ja, ich weiß«, knurrte Fane und schob die Hände unter seine Frackschöße.»Ich muß mich jetzt verabschieden. «Und mit einem kurzen Nicken:»Admiral…»
Chase begleitete den Gesandten aus der Bibliothek, und Bolitho trat wieder ans Fenster. Aber statt des blonden Mädchens am Arm des jungen Offiziers sah er nur Dunkelheit.
Bolitho wandte sich um, als er Chases schweren Schritt zurückkehren hörte.
In gewisser Hinsicht war das eben schwieriger gewesen als ein Seegefecht, überlegte er. Und viel unergiebiger.