Mit ein paar Schritten über aufgeschossene Leinen war Bolitho an der Luvreling des Achterdecks. Die französische Fregatte stand nun an Steuerbord achteraus viel dichter bei ihnen, hatte aber Segel gekürzt, als sei sich der Kommandant über den nächsten Schritt noch unschlüssig. Bolitho schätzte den Abstand auf eine halbe Meile.
Hinter sich hörte er Männer unbeholfen herumkriechen, als sei die Achates plötzlich mit Krüppeln bemannt. Aber es war unbedingt nötig, daß sie ohne das übliche Hasten und Rennen gefechtsklar machten, denn das wäre den Ausgucks der Franzosen sofort aufgefallen.
Keen sagte gerade zum Bootsmann:»Lassen Sie die Leute zum Ket-tenaufriggen erst aufentern, wenn das Gefecht beginnt.»
Big Harry Rooke brummte eine mürrische Antwort, und Keen wies ihn scharf zurecht:»Wir haben keine Wahl, Mann. Machen wir jetzt auch nur einen falschen Zug, dann fressen uns heute abend die Fische.»
Er wandte sich ab und entdeckte Bolitho.
«Mr. Quantock ist tief beschämt über seinen negativen Rekord, Sir: zwanzig Minuten, um gefechtsklar zu machen!«Dieser Versuch zu scherzen schien ihm sein seelisches Gleichgewicht zurückgegeben zu haben, denn er fuhr ruhiger fort:»Welches sind Ihre Befehle für diesen denkwürdigen Tag, Sir?»
Bolitho deutete nach Lee.»Gleich werden wir drei Strich abfallen. Ich rechne damit, daß die Fregatte dann erneut zu uns auf schließen und achteraus ihre Position einnehmen wird. Diesmal aber viel näher an Achates.»
Wenn sich sein Herzschlag doch nur beruhigen wollte! Ein falscher Ton, und die Anspannung würde sich in seiner Stimme verraten.
Keen spähte über seine Schulter nach der Segelpyramide des Franzosen.»Sie ist genauso neu wie der 74er. Wahrscheinlich sollte das die Amerikaner beeindrucken. «Die Verbitterung war ihm deutlich anzumerken.»Wogegen unsere Regierung es für angebracht hielt, den ältesten noch segelnden 64er nach Amerika zu schicken!»
Bolitho ging zur Querreling und musterte das Batteriedeck mit seinen schwarzen Achtzehnpfündern. Die Stückmannschaften, die sich für den Kampf schon ihrer Hemden entledigt hatten, duckten sich unter die Seitendecks oder preßten sich mit ihrem Handwerkszeug in den Schatten der Kanonen.
«Es muß sehr schnell gehen, Val«, sagte Bolitho.»Der französische 74er ist jetzt direkt achteraus, und wir dürfen keine Minute vergeuden. Sobald wir unsere Absichten zu erkennen geben, werden sie blitzschnell dagegen gewappnet sein.»
Keen nickte, in Gedanken schon beim nächsten und übernächsten Manöver.»Das dritte Schiff ist kleiner. Mr. Mountsteven meint, es handelt sich um eine Fregatte mit 26 Kanonen. Wenn ich mich recht erinnere, ist es die Diane, im Vergleich zu den beiden anderen ein Veteran.»
Knocker drehte das Halbstundenglas neben der Kompaßsäule um und meldete:»Alles klar, Sir.«»Sagt das ins untere Batteriedeck weiter.»
Keen sah sich um, weil Allday mit Bolithos Säbel an Deck erschien, das Gesicht so starr, als schmerze ihn seine Wunde.
Bolitho hob leicht die Arme an, damit Allday ihn mit der Waffe gürten konnte. Sein Bootsführer murmelte:»Sie sollten heute die Epaulet-ten ablegen, Sir. «Aber dann zuckte er grinsend die Schultern.»Ich weiß ja, ich predige tauben Ohren.»
Bolitho sah drüben auf dem Franzosen Sonnenlicht von einem Teleskop im Fockmasttopp reflektieren. Jede Sekunde jetzt mochten sie Verdacht schöpfen und klar zum Gefecht machen.
Aber er sagte nur:»Gib acht auf dich, Allday. Daß du mir heute nichts riskierst!»
Er legte ihm die Hand auf den Arm, und zwei Pulverjungen auf dem Achterdeck stießen sich mit den Ellbogen an, über dem Kiebitzen ins Privatleben ihres Admirals den Feind momentan vergessend.
Alldays Blick war trotzig.»Beleidigen Sie mich nicht, Sir. Wenn die Kerls sich mit uns anlegen wollen, kriegen sie von mir Saures, verlassen Sie sich drauf!»
Bolitho lächelte.»Ich weiß ja genausogut, daß ich tauben Ohren predige, alter Freund.»
Er fuhr herum, weil Keen meldete:»Sie signalisieren der Argo-naute, Sir!»
Midshipman Ferrier ließ enttäuscht sein großes Signalteleskop sinken.»Verschlüsselt, Sir.»
Bolitho befahl:»Kurs ändern!»
Darauf hatten die Rudergänger schon lange gewartet. Sie ließen das große Rad wirbeln, und während andere an die Brassen eilten, um die Rahen neu zu trimmen, meldete Knocker:»Drei Strich abgefallen, Sir. Neuer Kurs Nordost zu Nord!»
Bolitho spürte selbst die Veränderung in dem viel heftigeren Zupak-ken des Windes oben in den Segeln.
Keen erinnerte sich an den Ausguck.»Rufen Sie Mr. Mountsteven wieder herunter«, befahl er.
«Der Franzose ändert Kurs, Sir.»
Bolitho hielt den Atem an, als die mächtige Fregatte um etwa einen Strich auf Achates zudrehte und gleichzeitig Großsegel und Treiber setzte.
Keen hieb mit der Faust auf die Reling.»Sie überholt uns, Sir«, rief er.
Ein Seesoldat ließ etwas Metallisches an Deck poltern, worauf Sergeant Saxton ihn anzischte:»Wenn du dich noch einmal rührst, zieh' ich dir bei lebendigem Leibe die Haut ab!»
Gischt sprühte über Galion und Bugspriet der Fregatte. Wenn sie Kurs und Geschwindigkeit beibehielt, mußte sie Achates mit einer halben Kabellänge Distanz an Steuerbord überholen.
Als Bolitho wieder sein Fernglas hob, sah er gespannte Gesichter übers bewegte Wasser zu ihnen herüberspähen; sie kamen ihm seltsam fremdartig vor, da er seit Wochen nur die vertrauten Gesichter seiner eigenen Besatzung gesehen hatte.
«Batteriedecks — feuerklar!»
Mit verschränkten Armen starrte Keen zum Feind hinüber. Sobald Achates wieder über Stag ging, würde der Wind sie stark nach Lee überlegen. Aber das plötzliche Manöver mußte sie auf einen Kurs quer zu dem der Fregatte bringen, praktisch vor ihrem Bug vorbei. Also jetzt oder nie — denn in ein paar Minuten wäre es zu spät, dann würden die beiden Schiffe kollidieren, wenn Achates ihre Halse fuhr.
«An die Brassen!»
Bolitho packte seinen alten Säbel und preßte ihn fest an den Oberschenkel.
«Jetzt!»
Das große Doppelrad quietschte laut, als die Rudergänger sich mit ganzem Gewicht in die Speichen warfen. Während die Rahen mit dem Wind herumzuschwingen begannen, stiegen zwei neue Flaggen zum Groß- und zum Besanmasttopp empor.
«Stückpforten auf! Schneller, dort drüben! Ausrennen!»
Bolitho konnte den Blick nicht von der turmhohen Segelpyramide der französischen Fregatte wenden, die jetzt auf Achates' Steuerbordseite zuglitt.
Er hörte ein Trompetensignal und konnte sich drüben die fieberhafte Geschäftigkeit vorstellen, als das britische Schiff, das sie gehetzt hatten, plötzlich wie ein gestellter Eber herumfuhr, alle Kanonenrohre ausgerannt; in jedem Rohr staken Doppelkugeln, hinter jeder Lafette kauerte ein Stückmeister und suchte sein Ziel.
Keen rief gellend:»Ziel auffassen!«Sein Arm hieb nach unten: «Einzelfeuer!»
Einen Augenblick fürchtete Bolitho, daß er zu lange gezögert und wertvolle Sekunden mit dem Hissen seiner Gefechtsflaggen verloren hätte. Wenn die Rollen vertauscht gewesen wären.
Aber dann dröhnte ihm der Kopf, und er hörte auf zu denken, weil die Achtzehnpfünder des oberen Batteriedecks einer nach dem anderen losbrüllten und wieder binnenbords ruckten. Mit tieferem, noch stärkerem Krachen stimmten die schweren Vierundzwanzigpfünder auf dem unteren Batteriedeck ein und ließen das Schiff vom Vorsteven bis zum Heck erbeben.
Männer taumelten würgend durch den Rauch, der viel zu langsam durch die Stückpforten und über die Seitendecks abzog, als Achates jetzt ihre Breitseite dem Südwind darbot.
Auf so kurze Distanz war die Wirkung der Salve verheerend.
Fockmast und Großmaststenge der Fregatte gaben unter dem Hagel der Doppelkugeln nach und begannen zu wanken. Spieren, Segel und laufendes Gut prasselten wie eine verheerende Lawine auf Vorschiff und Seitendecks nieder, warfen Gischt auf und rissen den Rumpf aus dem Kurs.
«Auswischen! Nachladen!»
Keens Stimme übertönte die Artilleriekommandos:»Klar zur Wende, Mr. Quantock!«Daß es schnell gehen mußte, brauchte er nicht eigens zu betonen.
Als erneut Ruder gelegt wurde und Achates' Bug durch den Wind drehte, war Bolitho erleichtert, daß sie nicht mehr Segelfläche oben hatten, sonst wäre das Schiff entmastet worden.
Wieder hoben die Steuerbord-Stückmeister einer nach dem anderen die Hand, um ihre Kanone schußbereit zu melden. Die französische Fregatte trieb unter dem Gewicht der Wrackteile hilflos nach Lee — einstweilen noch. Denn Bolitho ließ sich nicht täuschen; er wußte nur zu gut, was geschehen konnte, sobald Äxte und Messer die Trümmer drüben erst gekappt und das Schiff befreit hatten.
«Großbrambrassen — hievt, Leute, hievt! Noch mehr!»
Achates schwang immer weiter herum, bis die Fregatte plötzlich Steuerbord voraus an ihr vorbeiglitt, als mache sie so viel Fahrt und nicht der leichte Zweidecker.
Jedem unerfahrenen Auge hätte er ein chaotisches Bild geboten. Ein Bootsmann legte mit seiner Gang auf der Großrah aus, um die Kettenschlingen aufzuriggen, während das Schiff unter ihnen fast um seine Masten auf der Stelle drehte, um das Heck des Feindes zu passieren.
«Steuerbordbatterie — feuerklar!»
Keen hielt den Arm hoch erhoben und zuckte mit keiner Wimper, als in der Bordwand des Feindes hier und da eine einzelne Kanone trotzig zurückfeuerte. Aber für Gegenwehr war es zu spät. Als Achates das Steuerbord-Achterschiff des Feindes passierte, verstummten drüben auch die letzten Kanonen, denn der Schußwinkel wurde zu spitz.
Aber aus dem Besan und vom Hüttendeck wurde mit Musketen geschossen — spärliches Einzelfeuer, das Dewars Scharfschützen energisch erwiderten.
Bolithos Magen verkrampfte sich, als er sah, wie Achates' Klüverbaum am Heck der Fregatte mit seinen schimmernden Fenstern und dem in Goldbuchstaben geschnitzten Namen La Capricieuse vorbeiglitt.
Denn nun spuckte Achates' Steuerbordkarronade auf dem Vorschiff Feuer und Rauch, und das Heck des Franzosen schien aufzuplatzen wie eine obszöne Eiterbeule. Aber damit nicht genug: Wenn die großkalibrige Kugel in dem mit Menschen vollgepackten Rumpf barst, mußte ihre Ladung aus Nägeln und scharfen Eisenstücken das Batteriedeck in ein blutiges Schlachthaus verwandeln.
Menschen, Waffen und das Ruderrad, alles würde weggefegt werden und das Schiff für lange Zeit bewegungsunfähig bleiben.
Keen formte mit den Händen einen Schalltrichter.»Lassen Sie die Royals setzen. Mr. Quantock!»
Ihm blieb keine Zeit, über die Bluternte der Karronade nachzudenken, für ihn zählte nur, daß die Fregatte außer Gefecht gesetzt war.
Wieder einmal kämpfte sich Achates in eine Position, in der sie den Wind von schräg achtern harte. An Bord schien sich nichts verändert zu haben: keinem Mann war ein Haar gekrümmt, kein Segel war durchlöchert, keine Planke zerfetzt worden.
Bolitho stieg aufs Hüttendeck und richtete sein Fernrohr auf das französische Linienschiff. Selbst auf diese Distanz machte das Schiff einen wütenden, kämpferischen Eindruck, als es mehr Segel setzte und Signalflaggen hißte, um die zweite, noch unbeschädigte Fregatte zu verständigen.
Knocker rief:»Neuer Kurs Ostnordost, Sir!»
Der französische 74er steuerte Nordost und damit wieder konvergierenden Kurs zu ihnen. Aber er hielt immer noch die Luvposition und würde wahrscheinlich versuchen, seinen Gegner mit einer hoch gezielten Breitseite zu entmasten oder ihn mit Kettenkugeln wenigstens stark zu beschädigen, während er selbst für den Briten außer Schußweite blieb.
Keen trat heran und salutierte.»Alle Kanonen geladen und feuerklar, Sir«, meldete er und warf einen Blick nach oben in die Takelage.»Mr. Rooke hat es sogar geschafft, in der Zwischenzeit alle Netze und Kettenschlingen auszubringen.»
Bolitho mußte lächeln.»Ich weiß, daß wir viel riskiert haben, Val.»
Keen wandte den Blick ab.»Jedenfalls waren Sie fair und haben sie vorher gewarnt. Diesmal brauchen Sie das nicht mehr zu tun.»
Auch er starrte gespannt zu dem französischen Linienschiff hinüber, das noch eine Seemeile entfernt war; die kleine Fregatte hielt sich gut frei von ihm und kreuzte vor dem Wind, um sich jederzeit aufAchates stürzen und das Feuer aus einem anderen Winkel eröffnen zu können.
Bolitho wußte, daß Achates sich nun bald mit dem moderneren, größeren und besser bewaffneten Gegner messen mußte, und spürte die Spannung wie eine geballte Faust in seinen Eingeweiden; immerhin war sein Schiff beweglicher und hatte sich schon Hunderte von Malen im Gefecht bewährt.
Keen überlegte laut:»Wenn er in Luv bleibt, kommen wir nicht an ihn heran, Sir. Während er jederzeit zu uns aufschließen oder sein Glück mit Einzelfeuer auf weite Distanz versuchen kann. Auch dabei sind verheerende Treffer möglich.»
«Richtig. «Bolitho stieg in die Wanten und spähte achteraus.»Die andere Fregatte, die Diane, hat noch Westkurs, wird aber bald halsen und hinter uns herkommen. «Er lächelte Keen grimmig an.»Um uns in die Hacken zu beißen.»
Keen nickte.»Und wenn wir dann bereits im Gefecht mit Argonaute sind, kann sie entscheidenden Schaden anrichten, Sir.»
Bolitho sprang wieder an Deck.»Was halten Sie davon, Val, wenn wir die Diane als Köder benutzen?»
Keens Augen leuchteten auf.»Indem wir zuerst sie angreifen, Sir?»
Bolitho nickte.»Soweit ich weiß, ist Konteradmiral Jobert ein Ehrenmann. Ich kann mir nicht vorstellen, daß er untätig zusieht, wenn seine letzte Fregatte von einem Linienschiff attackiert wird. «Er vergewisserte sich über den Stand der Sonne. Erst eine Stunde war vergangen, seit die Karronade das Schicksal der anderen Fregatte besiegelt hatte.
Dann fuhr er fort:»Wir haben einen Stückmeister namens Crocker an Bord. Er fiel mir auf, als ich die Festung besuchte: ein fürchterlicher Haudegen, aber ein Meister seines Fachs.»
Keen wußte, wen er meinte.»Vom unteren Batteriedeck. Ich lasse ihn rufen, Sir.»
Crocker erschien auf dem Hüttendeck und beschattete sein eines unverletztes Auge mit der Hand vor der Sonne, die ihn nach dem Zwielicht des unteren Batteriedecks zu stören schien. Er grüßte lässig und baute sich vor Bolitho auf, eine seltsam bizarre Gestalt zwischen den adretten Seesoldaten.
Bolitho sagte zu ihm:»Sie übernehmen jetzt die beiden Heckkanonen, Crocker. Wir werden achteraus bald Gesellschaft bekommen. Wenn ich's sage, dann sollen Sie die Fregatte empfindlich genug treffen, um ihren Admiral auf den Plan zu rufen.»
Crocker legte den Kopf schief, damit sein gesundes Auge Bolitho mustern konnte.»Sir?«fragte er begriffsstutzig.
«Tu einfach, was man dir sagt, Crocker«, meinte Keen entnervt.»Der französische 74er wird zu uns aufschließen, wenn der Admiral an Bord sieht, was wir hier anstellen.»
«Ach so, verstehe, Sir.»
«Such dir die besten Kanoniere zusammen, Hauptsache, du entmastest mir diese Fregatte.»
Crocker grinste mit lückenhaftem Gebiß.»Und ich dachte schon, Sie wollten sich mit der Kleinen begnügen, Sir.»
Er hinkte davon, und Keen murmelte:»Wenn die Franzmänner bei uns längsseits gehen, wird sie Crockers Anblick zu Tode erschrek-ken.»
Bolitho lockerte sein Halstuch und warf einen Blick zum Himmel. Hoch über den feindlichen Schiffen trieben Seevögel gleichgültig im Aufwind dahin wie Geier, die kaltblütig auf ihr gräßliches Mahl warteten.
Er dachte an Belinda, an die grünen Hänge zu Füßen von Pendennis Castle, von wo aus sie den vorbeiziehenden Schiffen nachsehen konnte.
Dann hörte er Adam sagen:»Jetzt dauert es nicht mehr lange.»
Bolitho sah ihn an und fragte sich, ob Adam Angst hatte. Oder verbitterte es ihn, daß er vielleicht so jung schon sterben mußte?
Dem Leutnant war der Blick nicht entgangen.»Keine Sorge, Sir«, sagte er,»ich bin bereit.»
Bolitho lächelte» Zweifellos. Komm, Adam, gehen wir ein bißchen auf und ab, das vertreibt die Zeit.»
Die Scharfschützen und die Kanoniere an den Drehbassen in den Marsen spähten hinunter aufs Achterdeck, wo der Vizeadmiral und sein junger Adjutant promenierten, mit ihren Schatten die nackten Rücken der Stückmannschaften streifend.
Vielleicht zum hundertsten Male ließ Midshipman Ferrier sein Glas sinken; seine Augen brannten, so angestrengt hatte er nach dem ansegelnden 74er ausgespäht. Kaum zu glauben, daß er noch vor ganz kurzer Zeit an daheim gedacht hatte, an die Chance, die das Offiziersexamen ihm bot. Je näher diese hohe Segelpyramide mit ihrer Doppelreihe schwarzer Kanonenrohre kam, desto blasser wurden seine Hoffnungen. Inzwischen sorgte er sich am meisten um die Frage, ob er vor dem Kommenden bestehen oder versagen würde.
Er sah Bolitho vorbeigehen, ins Gespräch mit seinem Neffen vertieft, der über eine Bemerkung seines Onkels lächelte. Als Ferrier wieder das Fernglas hob, waren seine Ängste zerstreut.
Im unteren Batteriedeck spähte Midshipman Owen Evans ins Halbdunkel, bis er Leutnant Hallowes ausgemacht hatte, der die 26 Kanonen befehligte; dann rannte er zu ihm mit der Nachricht des Kommandanten.
Hallowes hörte den Kadetten an und antwortete nur lakonisch:»Hol mich der Teufel, Walter, aber wir greifen zuerst die Fregatte an.»
Sein Gehilfe, der Fünfte Offizier, brach in Gelächter aus, als hätte Hallowes einen tollen Witz gemacht.
Evans verharrte kurz am Fuß der Niedergangsleiter und ließ den Blick über die rot gestrichenen Bordwände schweifen, über die schweißnassen Oberkörper der Männer an den offenen Stückpforten; alle trugen die Halstücher schützend über die Ohren gebunden, denn in diesem engen Raum konnte das Krachen der Vierundzwanzigpfün-der einen Menschen binnen Minuten taub machen.
Plötzlich gewahrte Evans, daß seine Hand auf dem hölzernen Handlauf so unkontrolliert zitterte, als hätte sie einen eigenen Willen.
Foord, der Fünfte Offizier, sah den Jungen zögernd am Niedergang stehen und blaffte:»Schlag da bloß keine Wurzeln, Kerl! Du wirst gleich Meldungen die Menge zum Austragen kriegen. «Foord hatte selbst als Midshipman auf Achates gedient und war erst neunzehn Jahre alt. Etwas leiser fügte er hinzu:»Was ist denn, Mr. Evans?»
Evans starrte zu ihm auf.»Nichts, Sir. «Aber in seinem Kopf gellte immer wieder der Satz: Ich werde fallen, ich werde fallen.
Seufzend sah Foord ihm nach, als er die Leiter hinaufhastete; dachte wahrscheinlich immer noch an Duncans Tod, der Junge.
Unter Foords Füßen, im Orlopdeck, umkreiste der Chirurg Tuson langsam seinen Operationstisch und musterte die glitzernden Reihen der Sonden und Sägen, die bereitstehenden Eimer, den Lederriemen, der den Verwundeten zwischen die Zähne geschoben wurde. Und den großen Krug Rum, mit dessen Hilfe die Agonie erträglicher gemacht werden sollte. Hinter dem Lichtkreis der langsam schwingenden Lampen warteten seine Gehilfen wie Harpyien, die Fäuste unter den noch sauberen Schürzen verborgen.
Tuson ging in sein schmales Lazarett und starrte blicklos die Pritschen an, den Schrank mit Rum und Brandy. Er spürte, daß er die Fäuste geballt hatte, daß sein Mund bei dem Gedanken an den ersten Schluck nach so langer Zeit ganz trocken wurde.
Da hörte er Schritte und sah, daß Korporal Dobbs ihn an seinem aufgepflanzten Bajonett vorbei zweifelnd musterte. Der Schiffsprofos hatte Dobbs zum Gefangenenwärter bestimmt, aber jetzt wurde er als Marinesoldat auf seinem Posten an Deck gebraucht.
Auch Sir Humphrey Rivers stand an der Tür, den Kopf unter dem niedrigen Decksbalken gebeugt.
Unbehaglich meinte Dobbs:»Konnte einen so hohen Herrn wie ihn nicht gut in der Zelle lassen, Sir.»
Tuson nickte. Für den Fall, daß das Schiff unter ihren Füßen sank, ergänzte er in Gedanken.
«Und ich kann ihn ja auch nicht zu den Welschen sperren, die wir nach dem Schiffbruch geborgen haben«, fuhr Dobbs fort.
Tuson sah Rivers an.»Wenn Sie hier bleiben, Sir Humphrey, finden Sie es vielleicht noch ungemütlicher.»
Rivers entgingen nicht die schwankenden Schatten, die wie Vorboten des Verhängnisses in allen Ecken und Winkeln lauerten.
«Immer noch besser, als allein zu sein. «Er nickte dem Arzt zu.»Danke, ich weiß Ihr Angebot zu schätzen.»
Erleichtert, weil er seiner Verantwortung ledig war, rannte der Korporal fast zur Niedergangsleiter.
Plötzlich begannen Flaschen und Krüge auf den Regalen zu klirren, als achtern ein Kanonenschuß krachte.
«Was machen die oben?«rief Tuson aus.
Rivers lächelte kalt.»Eine Heckkanone hat gefeuert.»
Tuson massierte sich die Finger.»Dann haben Sie Ihr altes Handwerk also noch nicht vergessen?»
Rivers hängte seinen reichbestickten Rock an einen Haken.»Das kann keiner so leicht vergessen.»
Tief unten im breiten Bauch des Schiffes, in seinem eigenen privaten Vorratslager, verschränkte der Steward Tom Ozzard die Arme vor der Brust und begann, wie im Schmerz vor und zurück zu pendeln.
Im Schein der einzigen Petroleumlampe sah er rund um sich Bo-lithos Besitztümer gestapelt, hastig und nicht gerade schonend abgestellt, was Ozzard empörte. Tisch und Stühle, alle beste Handwerksarbeit, der prachtvolle Weinkühler, das Schreibpult und die Koje waren wie alles oberhalb des Orlopdecks abgeschlagen und nach unten gebracht worden, als das Schiff gefechtsklar machte. Auf beiden Batteriedecks war Achates jetzt vom Bug bis zum Heck offen und leer, damit die Stückmannschaften unbehindert feuern, die Pulveräffchen mit neuen Kartuschen und Kugeln so schnell wie möglich aus dem Magazin rennen konnten.
Ozzard hatte gehört, wie die Boote ausgeschwungen und zu Wasser gelassen wurden; jetzt hingen sie achtern im Schlepp. Sobald das Gefecht begann, würden die Schleppleinen gekappt werden; die Boote trieben dann ab, bis der Sieger — wer immer das sein mochte — sie wieder einfing. Aber es mußte sein, die Boote waren auf ihren Stellings an Deck eine zusätzliche Gefahr, denn sie barsten nach einem Treffer in tausend tödliche Splitter.
Ozzard starrte die verriegelte Tür an und schauderte zusammen. Hier unten, wo er den Wein aufbewahrte und in solchen Augenblicken Zuflucht suchte, war es kühl.
Wie Allday hatte auch er das Privileg, im Privatlager des Vizeadmirals zu gehen oder zu kommen, wie es ihm beliebte. Und obwohl er Bolitho für seine Stellung dankbar war, fürchtete er sich hier in der Bilge, der tiefsten Stelle des Rumpfes. Aber er akzeptierte diese Furcht wie etwas, an das er sich schon seit langem gewöhnt hatte. Er wußte, daß unter ihm nur noch der Kiel war und darunter der abgrundtiefe Ozean.
Ozzard verkrampfte sich, als ein zweiter Kanonenschuß die Planken erzittern ließ. Trotzdem, dieser klang weit entfernt und nicht sehr gefährlich. Später wollte er sich vielleicht an Deck wagen. Aber da krachte es wieder, und Ozzard beschloß, noch zu warten.
Abgeschirmt von der beengten Welt der Zwischendecks, begab sich Bolitho auf die Poop und hielt Ausschau nach dem französischen 74er. Er hatte mehr Segel gesetzt und die Distanz zu Achates verkürzt, aber noch keinen einzigen Schuß abgefeuert. Ihm schien, daß er leicht den Kurs geändert hatte und jetzt fast parallel zu ihnen lief. Im Gegensatz zu ihm war die kleine Fregatte mit dem Wind herangekommen und hatte gehalst, um dann in Lee, achteraus von Achates, ihre Position einzunehmen.
Er sagte:»Eröffnet das Feuer. «Sein Befehl wurde ans Batteriedeck weitergegeben, Ruder wurde gelegt, und das Schiff ging zögernd so hoch an den Wind, wie es nur konnte.
Die hinter ihre Finknetze geduckten Seesoldaten flüsterten miteinander, wetteten vielleicht um die nächsten Treffer.
Old Crocker war wirklich ein Meister seines Fachs. Schon mit dem ersten Schuß hätte er die Fregatte beinahe entmastet. Nun hatte er sich eingeschossen, hatte es» im Urin «wie jeder gute Stückmeister, der erst Maß nahm; und vor allem: Auch der französische Kommandant mußte das inzwischen begriffen haben.
Die Fregatte schoß mit einer Bugkanone auf Achates, aber der Einschlag lag viel zu kurz und verursachte nur trotziges Hohngeschrei bei den Briten.
Der Leutnant der Seesoldaten blaffte:»Sergeant Saxton, sorgen Sie gefälligst dafür, daß diese Rüpel sich ruhig und ordentlich verhalten!«Aber er konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen und gab sich wahrscheinlich nur Bolithos wegen so scharf.
Adam kletterte mit einem Fernrohr aufs Hüttendeck und spähte, achteraus, während unter ihm eine Heckkanone abermals feuerte.
Diesmal zeigte keine Gischtfontäne den Einschlag an. Statt dessen barst ein Toppsegel der Fregatte und wehte in langen Fetzen wie ein bleiches Banner aus.
Gedämpfter Jubel drang zu Bolitho herauf. Sie hatten den ersten Treffer erzielt. Wenn Crocker jetzt mit einer seiner achtzehn Pfund schweren Kugeln den schlanken Rumpf der Fregatte traf, konnte es für sie kritisch werden.
Adam rief:»Sir! Argonaute setzt das Großsegel!»
Die Silhouette des Linienschiffs schien sich aufzuplustern, als es sich mit immer mehr Segeln in den Wind legte und die unteren Stückpforten fast durch die See wuschen, während es auf Achates zuhielt.
Keen befahl:»Fallen Sie wieder drei Strich ab, Mr. Knocker! Neuer Kurs Nordost zu Nord!»
Während die Deckshände an den Brassen hievten und Knocker wachsam wie ein Habicht über seinem Kompaß hing, gab Crocker abermals einen Schuß ab, und diesmal wurde ein Klüversegel der Fregatte zerfetzt.
Quantocks Stimme gellte:»Mr. Mountsteven! Noch ein Pull an der Luvbrasse dort! Und jetzt belegen, verdammich — Sir!»
Die Männer warfen sich mit aller Kraft in die Brassen und Schoten, und nur die Mannschaften der Steuerbordbatterie, deren Rohre auf den Feind zeigten, blieben an ihren Plätzen.
Bolitho griff haltsuchend in die Wanten, als das Deck sich unter dem Winddruck in den Segeln stärker überlegte.
Nun mußte der französische Kommandant wohl oder übel zu ihnen aufschließen. Es sei denn, er befahl seiner Fregatte abzudrehen, aber dann konnte Achates seine Herausforderung Schuß auf Schuß erwidern. Bolitho lächelte. Jedenfalls beinahe…
Ein Seesoldat, der mit angelegter Muskete hinter den Finknetzen kauerte, sah ihn lächeln und meinte vorlaut:»Wir werden die Franzmänner schon Mores lehren, Sir!«Aber dann wurde ihm bewußt, daß er unaufgefordert mit dem Vizeadmiral gesprochen hatte, und er verstummte verlegen.
Bolitho warf dem Mann einen Blick zu; er wußte nicht einmal seinen Namen.
Binnen kurzem würden sie um ihr Leben kämpfen müssen. Auf der ungeschützten Hütte und dem Achterdeck gab es immer die schwersten Verluste, und auch diesen Soldaten mochte es treffen.
So sagte er in ihre erwartungsvollen Gesichter hinein:»Ich zähle auf euch, Jungs. Gebt euer Bestes. «Aber die eigenen Worte beschämten ihn.
Wieder ein ohrenbetäubendes Krachen, als Crockers nächster Schuß zündete. Die Fregatte hatte zwar leicht den Kurs geändert, aber das war dem einäugigen Stückmeister nicht entgangen. Nur kurz bot ihr Rumpf ein besseres Ziel, aber schon riß Crocker an seiner Abzugsleine, und die Kugel schlug ins Backbord-Seitendeck des Feindes ein, so daß Planken und Splitter hoch aufwirbelten.
Neuer Jubel auf Achates; Bolitho hielt den Atem an, als die Fregatte Kurs änderte und mit knatternden Segelfetzen die Distanz zu ihrem Gegner vergrößerte.
Dann eilte er die Leiter hinunter und schritt zur Querreling oberhalb des Batteriedecks.
Jetzt war es bald soweit. Schnell warf er einen Blick querab und sah den Bug des Linienschiffs in sein Blickfeld gleiten; seine Segel wölbten sich im Wind, schlugen und füllten sich wieder, als es noch weiter auf Achates zudrehte.
«Klar zum Feuern!»
Sofort verstummte das Jubelgeschrei, die Stückmannschaften duckten sich hinter ihre Achtzehnpfünder und spähten durch die Pforten nach dem Feind aus.
«Ziel auffassen!»
Der Franzose hatte zwar den Windvorteil, aber der Druck in Achates' Segeln war so stark, daß die Kanonenrohre dank des schrägliegenden Decks mit höchster Elevation schießen konnten.
«Feuer!»
Schuß auf Schuß donnerte die sorgfältig gezielte Salve aus beiden Decks, auf ganzer Länge des Rumpfes. Die vordersten Kanonen waren bis zum äußersten nach achtern gerichtet, ihre Mannschaften warfen sich mit ganzem Gewicht in die Handspaken, bis auch sie ihre Rohre auf den Feind richten konnten.
Völlig absorbiert beobachtete Bolitho, wie die Toppsegel von Argo-naute einen wilden Tanz aufführten, plötzlich nicht mehr Meister, sondern Opfer des Windes, der gierig in die von den Doppelkugeln gerissenen Löcher griff und sie ganz aufriß.
Auch an der Wasserlinie des Feindes kochte die See, und Gischtfontänen stiegen auf, als immer mehr Kugeln mit verheerender Wirkung in den Rumpf schlugen.
Noch ließ sich nicht sagen, ob sie einen entscheidenden Treffer erzielt hatten. Aber die Distanz verringerte sich weiter, der französische Kommandant mußte sich — genau wie Keen — der Gefahr eines Glückstreffers bewußt sein. Sicherlich fühlte er sich jetzt, da die eine Fregatte außer Gefecht gesetzt und die andere in die Flucht geschlagen war, vor den Augen seines Admirals besonders gedemütigt.
Bolitho sah aus der Bordwand des Feindes die Reihe feuriger Zungen schießen und wappnete sich gegen das markerschütternde Heulen der Kugeln, das Krachen, mit dem sie in die Planken einschlagen mußten. Aber statt dessen hörte er das irrwitzige Kreischen von Kettenkugeln und sah sogleich im Rigg gebrochene Stage und Toppnante auswehen; das Vorbramsegel zerriß wie ein mürber Lumpen unter dem unsichtbaren Hagel.
«Klar zum Schuß!«Keen hatte den Arm erhoben.»Feuer!»
Wieder polterten die Kanonen nach dem Abschuß auf ihren Lafetten binnenbords, die Mannschaften sprangen vor und wischten die Rohre aus, rammten frische Ladungen hinein und stopften sie schon fest, während aus den Mündungen noch der Rauch quoll.
«Und noch einmal!«Keen wischte sich das schweißnasse Gesicht mit dem Ärmel.»Feuer!»
Achates' Feuerkraft war unschlagbar. Der harte Drill, die eiserne Disziplin bewährten sich jetzt. Die Kanoniere feuerten zwei Breitseiten ab, während Argonaute nur eine einzige schaffte.
Und sie trafen. Die Besanbramstenge des Franzosen brach und pendelte wie eine gerissene Lianenbrücke; fast alle Segel trugen die Narben von Kugeln und Splittern.
Wieder hielt Bolitho den Atem an, als die Kanonen in der Bordwand des Feindes aufbrüllten.
Diesmal spürte er die dumpfen Schläge, mit denen die Kugeln in ihren Rumpf krachten, und sah, daß die Breitfock gleich an mehreren Stellen durchlöchert wurde. Der Wind besorgte den Rest, und bald hing das große Segel in Fetzen von seiner Rah.
«Feuer!»
Jetzt wurde die Reaktion schon langsamer, die Schußfolge unregelmäßiger, als die Stückmeister an ihren Abzugsleinen rissen und schnell zurücksprangen, bevor die schweren Kanonen wieder nach innen ruckten.
Plötzlich ein lautes Krachen, und dann kam mitsamt dem ganzen Gewirr von Wanten und Stagen die Großbramstenge von oben. Wie eine Riesenfaust schlug sie auf das Backbordseitendeck, zerfetzte die Schutznetze und kippte halb über Bord.
Sofort waren Rooke und seine Gang zur Stelle und kappten mit blitzenden Äxten die Wrackteile. Auch zwei Seeleute hatte die Stenge mit herabgerissen, nun hingen sie tot oder bewußtlos in dem Knäuel aus Tauen und Spieren.
Noch einmal brüllten die Kanonen auf, und ihr ohrenbetäubender Lärm fegte jeden klaren Gedanken aus Bolithos Kopf; gebrochene Leinen und Segelfetzen regneten auf die fluchenden Kanoniere herab, während sie nachluden und abermals feuerten.
Keen schrie: «Argonaute hält auf uns zu, Sir!»
Bolitho wischte sich die brennenden Augen trocken, um nach dem Feind auszuspähen. Ihre List war erfolgreich: Alles nur verfügbare Tuch gesetzt, brauste Argonaute mit dem Wind heran, während ihre vorderen Kanonen schon auf gut Glück schossen; einige Kugeln trafen, aber die meisten pflügten wegen des spitzen Schußwinkels wirkungslos achteraus durch die Wellenkämme.
Die kleine Fregatte hatte den Angriff abgebrochen und begnügte sich mit der Rolle des hilflosen Zuschauers; inzwischen war sie auch zu weit zurückgefallen, um noch wirksam eingreifen zu können.
Bolitho hörte seine eigene Stimme das Krachen und den Rückstoß der Kanonen übertönen:»Die Männer zählen, nicht die Schiffe, Val!»
Rauch wirbelte über das Seitendeck und verschluckte einen Seesoldaten, der aus den Großmarsen stürzte; Kanonendonner erstickte seinen Todesschrei. Auf dem Vorschiff war ein Achtzehnpfünder umgestürzt, zwei Leute der Bedienungsmannschaft lagen blutend daneben, ein dritter wand sich schreiend unter dem heißge schossenen Rohr an
Deck.
Von der nicht ins Gefecht verwickelten Bordseite rannten Leute herbei, um die Stelle der Toten und Verwundeten einzunehmen; andere scheuchte Quantocks Sprachrohr in den Großmast, wo sie mit hastigen Behelfsspleißen ein neues Großsegel zu setzen versuchten. Groß war die Gefahr, daß Funkenflug oder ein glühender Wergpfropfen Tuch und geteerte Hanfleinen in Brand setzten.
Bolitho schätzte die Distanz. Das französische Schiff war noch eine Kabellänge entfernt und feuerte unregelmäßig, aber auf diese Entfernung erzielte es Treffer nach Treffer.
Keen tat gut daran, das Großsegel setzen zu lassen. Wenn Achates gerade jetzt zu wenig Tuch oben hatte, deshalb an Fahrt und Ruderwirkung verlor, mußte sie verfallen, der Wind würde ihren Bug nach Lee drücken, bis das ungeschützte Heck sich dem Feind darbot; dessen schwere Kaliber würden ihr dann ein Ende bereiten, wie es die größere Fregatte erlitten hatte.
Bolitho hob den Blick zum Vormast und gewahrte seine Flagge, die über Rauch und Inferno auswehte. Den französischen Admiral mußte dieser Anblick noch anspornen, ihn erst recht dazu verleiten, sein Schiff längsseits zu bringen, ohne Rücksicht auf die Folgen.
«Feuer!«Keen wartete nur so lange, bis das Mündungsfeuer abermals nach dem Feind leckte, dann:»Mr. Trevenen! Übernehmen Sie dort!»
Bolitho sah Mountsteven neben einer seiner Kanonen liegen; ein Arm war ihm abgerissen, das halbe Gesicht versengt worden.
Das untere Batteriedeck feuerte pausenlos, und Bolitho sah die Szene vor sich, als stünde er selbst dort unten. Als Fähnrich hatte er einst solch eine Zwischendecksbatterie befehligt, auch wenn ihn jetzt dünkte, das sei tausend Jahre her: zwischen den rot gestrichenen Bordwänden — rot, damit Blut daran nicht so auffiel — zuckten und tanzten die grotesken Schemen der Stückmannschaften durch den Rauch, im ständigen Kampf mit den wie von eigenem Leben erfüllten Kanonen: Bilder aus Dantes Inferno.
Eine Kugel fuhr durch eine offene Stückpforte ins obere Batteriedeck, und Bolitho erkannte ihre Bahn an den zerrissenen Menschenleibern, die sie zurückließ, ehe sie in die gegenüberliegende Bordwand krachte. Links und rechts wälzten sich Männer in Todesqualen, während Tyrrell mit seinem Holzstumpf über Blut und Körperteile hinwegstapfte, ein grotesker Todesengel, der das Gespenstische der Szene noch hervorhob.
Eine zweite Kugel durchschlug die Finknetze auf dem Achterdeck und fegte Hängematten und Menschen wie Stoffbündel beiseite. Sie mähte zwei Rudergänger um und ließ den Gehilfen des Masters schreiend zurück, gekrümmt über das Ende eines fußlangen Splitters, der sich ihm wie ein gefiederter Pfeil in den Magen gebohrt hatte.
Wild irrte Bolithos suchender Blick über die Umstehenden, aber dann sah er, daß Adam wieder auf die Füße kam. Er grinste seinen Onkel durch die ziehenden Rauchschwaden an, und seine Worte wurden vom Schlachtengetöse halb verschluckt, ehe er sich wieder umwandte, um der Achterdeckswache beizustehen.
«Bei Gott, Sir, hier geht's für meinen Geschmack zu verdammt heiß her!»
Bolitho sah sich nach Allday um. Er litt ganz offensichtlich Schmerzen, hielt aber sein Entermesser wie einen Beidhänder umklammert.
Da spürte er, wie ihm eine Kugel den Hut vom Kopf riß, und wußte, die Franzosen waren nun so nahe, daß die Scharfschützen ihre Treffsicherheit beweisen konnten.
«Beweg dich, Allday, oder geh unter Deck!«Er versuchte zu grinsen, aber sein Gesicht fühlte sich so steif an wie Leder.
Ein Midshipman stürzte vor und griff nach dem Hut des Admirals. Dicht unterhalb der Litze wies er zwei saubere Durchschußlöcher auf. Bolitho lächelte mühsam.»Danke, Mr. -»
Aber der Junge starrte ihn nur blicklos an, in seinen Augen erlosch das Leben wie eine Kerzenflamme. Ein Blutstrom quoll aus seinem Mund, und er sackte zusammen.
Bolitho stülpte seinen Hut auf und starrte zum Feind hinüber. Nicht einmal den Namen des Jungen hatte er gekannt.
Ein mächtiger Schatten glitt über das Deck, ihm nach wehte schrilles Geschrei und Gebrüll: Mars- und Bramstenge des Fockmasts, glatt abgehackt wie eine Bambussprosse, kamen mit ihrem ganzen Rigg von oben. Donnernd stürzten sie über die Seite und rissen alles mit über Bord, was ihnen im Wege stand.
Allday keuchte:»Die Flagge, Sir! Ihre Flagge ist weggeschossen!»
Es überraschte Bolitho, daß er mitten in diesem Totentanz noch Gefühle aufbringen konnte, aber er spürte, daß ihn Wut und Verwirrung erfüllten. Er zog den alten Familiensäbel und legte die Scheide sorgsam an Deck, ohne recht zu wissen, was er tat.
Fast Bord an Bord lagen die feindlichen Schiffe, und immer noch feuerten die Kanonen, jetzt auf kürzeste Distanz; ein kreischender, wirbelnder Hagel aus Metall, Holzsplittern und Tuchfetzen erfüllte die
Luft.
Hier also sollte es zu Ende gehen, dachte Bolitho. Das Schicksal hatte es längst vorhergewußt, nur die Menschen machten sich immer etwas vor.
Unten auf dem Hauptdeck duckten sich die Seeleute schutzsuchend, als noch mehr Wrackteile aus der Takelage prasselten, von den wippenden Netzen aufgefangen wurden oder spritzend ins Wasser schlugen. Die Leute waren erschöpft. Sie hatten ihr Bestes gegeben, weitaus mehr, als man von ihnen erwarten konnte.
Bolitho riß sich den Hut vom Kopf, hieb damit auf die ihm am nächsten stehende Kanone und rief gellend:»Auf, auf, Kinder! Eine letzte Breitseite!»
Eine Musketenkugel riß ihm die Goldepaulette von der rechten Schulter, und ein Seesoldat bückte sich rasch und steckte sie in die Tasche.
Betäubt, blutverschmiert und mit pulvergeschwärzten Gesichtern taumelten die Stückmannschaften noch einmal an ihre Kanonen, schwangen die Ladestöcke wie verlängerte Arme und verbannten alles aus ihren Gedanken — bis auf die grellbunte Trikolore hoch über den Rauchschwaden.
Bolitho rief zu Keen hinüber:»Noch eine Breitseite, Val, dann rammen sie uns!»
Erst danach merkte er, daß Keen beide Hände in die linke Seite preßte und Blut zwischen seinen Fingern hervorquoll. Aber er schüttelte den Kopf, als er Bolithos Besorgnis gewahrte.
Zischend stieß er durch die zusammengepreßten Zähne hervor:»Nein, noch nicht, die Leute dürfen mich nicht fallen sehen!«Quan-tock begriff, was geschehen war, und schwenkte auffordernd den Hut.»Feuer!«befahl er an Keens statt.
Auf Kernschußweite brüllten die britischen Kanonen auf, ihre Kugeln kreuzten sich mit dem Gegenfeuer des Feindes. Das Deck schien in lauter Splittern zu explodieren, ächzend krümmten sich die Kämpf enden, andere schrieen Befehle für Kameraden, die längst gefallen waren.
Aber Quantock war sich nur eines ungeheuren Triumphgefühls bewußt. Im entscheidenden Moment, jetzt, da sie sich in den Nahkampf stürzten und harte Disziplin, nicht weiche Anbiederei den Ausschlag gab, übernahm er und nicht Keen das Kommando.
Aber irgend etwas stimmte nicht mit ihm. Die Beine rutschten unter ihm weg, er fiel. Kein Grund zur Sorge, irgendwer würde ihm schon wieder aufhelfen. Als Quantock endlich begriff, daß die Blutlache unter ihm seine eigene war, blickten seine Augen schon so totenstarr wie die des Kadetten, der Bolithos Hut aufgehoben hatte.