Die Wochen und Monate nach dem spanischen Überfall auf San Felipe kamen Bolitho vor wie eine schier endlose Chronik von Alldays Überlebenskampf. Nur zu oft folgte auch der kleinsten Besserung ein ernster Rückschlag. Bolitho konnte es sich nur so erklären, daß All-days Bewegungsunfähigkeit ihm zu schaffen machte,»seine Nutzlosigkeit«, wie er es nannte.
Ab und zu liefen wieder Schiffe die Insel an, und langsam kehrte Normalität ein. Es kam zu keinen neuen Angriffen, auch berichteten die Händler, die von niemandem mehr behelligt wurden, daß sie keine spanischen Kriegsschiffe gesichtet hätten.
Dagegen suchten im Oktober zwei Wirbelstürme die Insel heim und richteten solche Verwüstungen an, daß ein Krieg dagegen sanft gewirkt hätte. Flutwellen gefährdeten Achates, vernichteten leichtere Schiffe, und der Sturm deckte viele Häuser ab. Aus Plantagen wurden Wüsteneien, mehrere Tote und viele Verletzte waren zu beklagen, und die meisten verloren alles, was sie besaßen.
Aber die Naturkatastrophe bedeutete einen Wendepunkt in den Beziehungen zwischen der Inselbevölkerung und der Besatzung von Achates. Ohne die disziplinierte, gut organisierte Hilfe der Seeleute und Soldaten wäre kaum etwas von Wert zu retten gewesen. Das Schiff, einst Symbol für aufgezwungene Staatsmacht, begann allmählich eine neue Rolle zu spielen: die des Beschützers. Und damit wurde der Dienst für Offiziere und Mannschaften weniger anstrengend.
Drei Monate, nachdem ihn ein spanischer Säbel niedergestreckt hatte, ging Allday zum erstenmal auf Achates' Achterdeck spazieren.
Ozzard begleitete ihn, aber Allday wies — ganz der alte — seinen stützenden Arm zurück.
Bolitho richtete es so ein, daß er sich auf dem Hüttendeck aufhielt, und sah Allday mit solch schleppenden, unsicheren Schritten ins Sonnenlicht treten, als hätten seine Füße noch nie die Planken eines Schiffes berührt. Auffallend war auch, daß alle Freunde Alldays offenbar zufällig in der Nähe zu tun hatten; aber sie bewiesen Takt und hielten sich auf Distanz.
Dann hörte Bolitho Adams leichten Schritt neben sich und sagte:»Hätte nie gedacht, daß ich diesen Anblick erlebe, Adam. «Er schüttelte den Kopf.»Niemals.»
Adam lächelte.»Er erholt sich gut.»
Unten erreichte Allday die Querreling und packte sie mit beiden Händen; er holte einige Male tief Luft und starrte hinunter aufs Batteriedeck.
Scott, der Dritte Offizier und Wachführer, ignorierte Allday bewußt und trat sogar zum Kompaß, studierte die Windrose, als sei das Schiff auf See und nicht im Hafen.
Bolitho wandte sich seinem Neffen zu. So viel Zeit war inzwischen vergangen, und doch hatten sie kaum über Boston und die Vorgänge dort gesprochen; nur Tyrrell hatte ihm kurz das Wichtigste erzählt.
Gedämpft sagte der Admiral:»Was wir hier erreicht haben, ist von Bedeutung, Adam. Ich habe der Admiralität meine Ansichten mitgeteilt, meine Vorschläge, was hier geschehen soll, nachdem wir wieder ausgelaufen sind. «Er hob die Schultern.»Ich muß daran glauben, daß London dementsprechend handeln wird. Es gab zu viele Tote und Verwundete, als daß man jetzt noch alles zum Teufel gehen lassen könnte. „Mein Vater hat uns Engländern oft diesen Vorwurf gemacht: Wir gewinnen etwas mit Blut und Schweiß — und danach wird es uns gleichgültig. «Mit einer Handbewegung umfaßte er den ganzen Hafen.»Nur zwei Fregatten mehr, und die Spanier hätten es nie gewagt, die Hand nach dieser Insel auszustrecken. Und die Franzosen hätten sich anderswo nach einem fetten Brocken umgesehen.»
«Aber wenn Ihre Lordschaften darauf bestehen, daß die Insel doch noch übergeben wird, Onkel?»
«Die spanische Gier muß sie vom Wert San Felipes überzeugt haben. Wenn nicht, habe ich hier versagt. «Mit spontaner Wärme ergriff
Bolitho Adams Arm.»Trotzdem war es nicht recht, wie ich mich deiner bedient habe. Ich wußte, daß Chase dir vertrauen, dir erzählen würde, was ich unbedingt wissen mußte. Aber das Ergebnis war, daß dir die Gelegenheit genommen wurde, seine Nichte für dich zu gewinnen. Das werde ich mir immer vorwerfen.»
Adam machte eine Bewegung und spürte wieder die Brandwunde auf der Schulter; er lächelte bedauernd.»Trotzdem wären wir beinahe zu spät gekommen, Onkel. «Beider Blicke wanderten zu den verkohlten Überresten hinüber, die im flachen Wasser vor dem Ufer lagen. Reihenweise saßen Seevögel auf den geschwärzten Spanten des Branders, und über die Stelle, wo Tyrrell seine Brigantine zu ihrer aller Rettung geopfert hatte, wuchs Seetang.
Zögernd meinte Adam:»Wenigstens habe ich Vaters Haus gesehen.»
Bolitho sah ihn an und war froh, daß er es ohne Eifersucht auf den Bruder tun konnte.
Wie geistesabwesend fuhr Adam fort:»Ich habe ihr gesagt, daß ich eines Tages zurückkommen werde.»
«Vielleicht können wir gemeinsam zurückkehren. Und dann führst du mich zu Hughs altem Haus, ja?»
Sie tauschten einen Blick des Einverständnisses. Es war, als sei Hugh bei ihnen, aber jetzt ohne die alte Drohung und Feindseligkeit. Wie die Insel.
Bolitho zuckte zusammen, als er sah, daß Allday unten schwankte; er hatte die Querreling losgelassen und sich zu ihnen umgedreht. Nun sah er zum Hüttendeck auf und grinste. Er war sich ihrer Gegenwart die ganze Zeit bewußt gewesen, begriff Bolitho.
Laut sagte er:»Ohne Allday.:. «Er mußte den Satz nicht vollenden, Adam verstand ihn auch so.
Der Fähnrich der Wache kam die Leiter heraufgepoltert und griff grüßend zum Hut. Bolitho wandte sich ihm zu.»Na, Mr. Ferrier, wollen Sie mir dieses fremde Segel melden?»
Der junge Mann errötete, seine sorgsam zurechtgelegten Worte waren vergessen.
«Ich — äh — Empfehlung des Kommandanten, Sir, und von Osten nähert sich eine Kurierbrigg. «Bolitho nickte.»Danke. Es ist schon eine Weile her, seit ich den
>Luxus< der Fähnrichsmesse genießen durfte, aber ein Flaggensignal kann ich immer noch lesen.»
Adam rief aus:»Du hast es gewußt? Und hast mit mir geplaudert, als sei die Brigg und die Nachricht, die sie uns bringt, von keinerlei Bedeutung?»
Der Fähnrich meldete sich ab, blieb aber unterwegs bei zwei Freunden stehen, um mit ihnen zu sprechen. Bis heute abend würde der Vorfall, um einiges ausgeschmückt, im ganzen Schiff bekannt sein, dachte Bolitho. Ferrier war der älteste Fähnrich an Bord, und die Ankunft der Brigg war auch für ihn entscheidend; wahrscheinlich brachte sie ihm die Kommandierung zur Offiziersprüfung in der Heimat — für einen jungen Menschen Grund genug zur Freude.
Bolitho trat an die Reling und musterte die oberen Decks. Auf der Back, den Seitendecks und in der Takelage, überall waren Männer bei der Arbeit, aber ihre Blicke schweiften immer wieder zur Hafeneinfahrt, und Bolitho konnte ihre Gedanken leicht erraten. Zunächst waren sie froh gewesen, England und ihre demütigende Arbeitslosigkeit hinter sich zu lassen; aber nun würden sie nach allem, was sie gemeinsam erlebt und bewältigt hatten, nur zu gern in die Heimat zurückkehren.
Auch Bolitho dachte an Falmouth, an seine neugeborene Tochter. Welchen Namen Belinda wohl für sie ausgesucht hatte?
Er sagte:»Ich gehe unter Deck. Der Offizier der Wache soll die Mannschaft tüchtig beschäftigen. Ich will keine langen Gesichter sehen, wenn die Nachrichten enttäuschend sind.»
Adam trat zurück und tippte grüßend an den Hut. Vergeblich versuchte er zu erraten, was seines Onkels nächster Schachzug sein würde.
Als Bolitho seine Kajüte betrat, stellte er zu seiner Überraschung fest, daß Allday den Dienst wieder aufgenommen hatte; eifrig polierte er den alten Familiensäbel.
«Du sollst dich ausruhen, Mann! Wirst du denn, verdammt noch mal, nie tun, was dir gesagt wird?»
Aber diesmal blieb seine scheinbare Verärgerung ohne jede Wirkung.
Allday rieb noch einmal mit dem Tuch über die Klinge, dann blickte er zu Bolitho auf.
«Der Arzt sagt, daß ich mich nie mehr ganz erholen werde, Sir.»
Bolitho schritt zu den offenen Heckfenstern. Das war es also. Eigentlich hätte er es voraussehen müssen. Allday ging nach wie vor leicht gekrümmt, als hindere ihn die tiefe Wunde daran, sich aufzurichten.
Leise fuhr Allday fort:»Für einen Admiral wäre ich ein trauriger Bootsführer, deshalb wollte ich.»
Bolitho unterbrach ihn.»Niemand, den ich kenne, hat sich das bequeme Leben an Land so ehrlich verdient wie du. In Falmouth wartet Arbeit auf dich, aber das weißt du längst.»
«Ja, und ich danke Ihnen dafür, Sir. Aber das allein ist es nicht. «Allday sah auf den Säbel nieder.»Sie brauchen mich nicht mehr. Nicht dafür.»
Bolitho nahm ihm den Säbel aus den Händen und legte ihn auf den Tisch.»Wofür? Bloß weil du im Moment etwas wacklig auf den Beinen bist? Glaub mir, binnen kurzem bist du wieder der alte rebellische Haudegen. «Er legte ihm die Hand auf die Schulter.»Ich werde nie ohne dich segeln, es sei denn, du willst nicht mitkommen. Mein Wort darauf.»
Allday stand auf und unterdrückte eine Grimasse, als ihn ein stechender Schmerz durchfuhr.»Dann ist das also geregelt, Sir.»
Schleppenden Schrittes verließ er die Kajüte.
Alldays Entschlossenheit und Stolz waren ungebrochen, dachte Bo-litho traurig. Und er lebte, das war die Hauptsache.
Später am Tag, als sich die Sonne schon der glatten See zuneigte, trat Bolitho in die Offiziersmesse; nach der Geräumigkeit seiner Kajüte und der Keens kam sie ihm eng und überfüllt vor.
Steif machte Quantock Meldung:»Alle Offiziere und Decksoffiziere wie befohlen zugegen, Sir.»
Bolitho nickte. Quantock war ein kalter Fisch, den auch das Gefecht nicht menschlicher gemacht hatte.
Als Adam die Tür hinter ihm geschlossen hatte, sagte der Vizeadmiral:»Bitte, nehmen Sie Platz, meine Herren, und Dank für die Einladung. «Der alte Brauch amüsierte ihn immer wieder. In der Offiziersmesse war jeder Vorgesetzte, sogar Keen, lediglich ein geduldeter Gast. Aber hatte man wirklich jemals einem Vorgesetzten den Eintritt verwehrt? fragte er sich.
Er musterte die erwartungsvollen Gesichter. Sonnengebräunt und zuverlässig. Selbst die Kadetten und Fähnriche, die sich ganz achtern um den Ruderschaft drängten, machten den Eindruck von Männern, nicht mehr von Jungen. Die Leutnants und die beiden Anführer der Marinesoldaten, der mönchshafte Segelmaster Knocker und der Schiffsarzt Tuson — er hatte sie kennen und verstehen gelernt, seit seine Flagge im Vortopp gehißt worden war.
Bolitho begann:»Sie wissen inzwischen, daß die Kurierbrigg aus England auch Depeschen für uns an Bord hatte. Ihre Lordschaften haben sich mit den Berichten aus San Felipe eingehend beschäftigt und sind sich der wichtigen Rolle bewußt, die Ihrem Einsatz bei dieser schwierigen Mission zukommt.»
Er sah, wie Mountsteven seinen Freund, den Sechsten Offizier, anstieß.
«Weiterhin hat man mich unterrichtet, daß Frankreichs Einmischung im Mittelmeer und der Druck, den es auf die Regierung Seiner Majestät wegen der Evakuierung Maltas ausübt — einer Vereinbarung in eben jenem Vertrag, der uns zur Übergabe dieser Insel hier zwang — , daß all dies weitere Verhandlungen verhindert. Als unmittelbare Folge daraus werden alle französischen und holländischen Kolonien, in deren Rückgabe wir eingewilligt hatten, in britischem Besitz bleiben. Und das, meine Herren, gilt natürlich auch für San Felipe.»
Bolitho konnte es immer noch nicht ganz glauben. Es fiel schwer, hinter den abgewogenen Formulierungen der Depeschen die komplizierten Verhandlungen zu sehen, die überall in Europa stattgefunden hatten, während die Crew von Achates um ihr Überleben kämpfte.
Bonaparte, jetzt auf Lebenszeit zum Konsul ernannt, hatte Piemont und Elba annektiert und machte keinen Hehl aus seiner Absicht, Malta wieder in Besitz zu nehmen, sobald England dort seine Flagge zugunsten einer scheinbaren Unabhängigkeit der Insel gestrichen hatte.
Mit dem Begreifen ging eine Welle der Erregung durch die Messe. Das war das Ende des Friedens von Amiens, dachte Bolitho. Er hatte kaum so lange gewährt, wie die Unterschriften zum Trocknen brauchten.
Er fuhr fort:»Wir haben Befehl, auf San Felipe zu bleiben, bis entsprechende Streitkräfte aus Antigua und Jamaika eintreffen, um die Inselgarnison zu verstärken. «Und in Keens Richtung, der den Blick abwandte, weil er offenbar ahnte, was nun kam:»Der augenblickliche Gouverneur wird so schnell wie möglich abgelöst. Sir Humphrey Rivers kehrt nach England zurück, um sich vor Gericht wegen Hochverrats zu verantworten.»
Es bereitete Bolitho keine Genugtuung, sich vorzustellen, wie Rivers nach seinem Leben in Luxus und Reichtum die Heimkehr auf einem Kriegsschiff schmecken würde, dem ersten halbwegs geeigneten, das die Insel Richtung England verließ. Und nach dieser unerwarteten politischen Entwicklung erwartete ihn wahrscheinlich der Strick des Henkers.
Bolitho blickte von einem Gesicht zum anderen und schloß:»Sie alle haben sich äußerst tapfer geschlagen, und ich möchte Sie bitten, auch der Mannschaft meinen Dank zu übermitteln.»
Keen sah Bolitho zum erstenmal seit langem lächeln.»Und wenn alles geregelt ist«, setzte ihr Vizeadmiral hinzu,»fahren wir heim.»
Das brachte sie auf die Beine; sie lachten und schrien durcheinander wie Schuljungen.
Keen hielt die Tür auf, damit sich Bolitho unauffällig zurückziehen konnte. Er hatte zwei Briefe von Belinda erhalten und nun endlich Zeit, sie in Ruhe noch einmal von Anfang bis Ende zu lesen.
Als Keen und Adam ihm die Treppe hinauf folgten, fragte der Kommandant:»Bedeutet das Krieg, Sir?»
Bolitho dachte an die jungen, jubelnden Gesichter, die er gerade verlassen hatte, und auch an Quantocks säuerliche Mißbilligung.
«Für mich gibt es daran kaum noch Zweifel, Val«, antwortete er.
Keen sah sich im Halbdunkel um, als müsse er sein Schiff sogleich gefechtsklar machen.»Herr im Himmel, Sir, wir haben uns vom letzten noch kaum erholt!»
Als sich Bolitho der rotuniformierten Wache vor seiner Kajüte zuwandte, hörte er Alldays neuerdings so schleppenden Schritt hinter der Tür.»Manche werden sich nie mehr erholen«, sagte er.»Für sie ist es zu spät.»
Keen seufzte und sagte zu Adam:»Kommen Sie mit, Mr. Bolitho, wir trinken einen Schluck. Zweifellos werden Sie ein eigenes Schiff befehligen, wenn es zum Krieg kommt. «Er lächelte schief.»Erst dann werden Sie merken, wie hart das Leben sein kann.»
In seiner großen Achterkajüte machte Bolitho es sich bequem und entfaltete den ersten Brief.
Es ging heimwärts. Seine Leute wären überrascht gewesen zu hören, daß diese Worte für ihren Vizeadmiral genausoviel bedeuteten wie für sie selbst.
Und dann glaubte er, ihre sanfte Stimme aus den Zeilen sprechen zu hören, als er las: Mein geliebter Richard…
«Sorgen Sie dafür, Yovell, daß diese Briefe mit den anderen an Bord der Kurierbrigg gebracht werden.»
Bolitho lauschte dem Knarren der Taljen, das durchs Oberlicht hereindrang, dem Getrappel vieler Füße, als wieder ein Netz mit frischem Proviant über das Schanzkleid gehievt wurde.
Nach dem monatelangen Warten fiel es immer noch schwer zu glauben, daß der Augenblick des Aufbruchs für sie gekommen war. Obwohl sie wirklich keine Zeit zur Muße gefunden hatten.
Eine schnittige Fregatte und zwei Mörserboote lagen nun unterhalb der Batterie vor Anker, und ein großer Truppentransporter hatte die versprochene Verstärkung für die Garnison gebracht. Bolitho mußte lächeln, als ihm einfiel, wie Lemoine seine Ablösung durch einen Obersten kommentiert hatte.
«Und dabei habe ich gerade Geschmack an der Macht gefunden«, hatte der Leutnant gesagt.
Bolitho hörte Alldays Schritt in der Pantry und blickte auf, um ihn zu begrüßen. Allday hatte große Fortschritte gemacht und sogar wieder etwas Farbe gewonnen, aber er konnte die Schultern immer noch nicht gerade halten, und der blaue Rock mit den Goldknöpfen hing lose um seine mächtige Gestalt.
Seit seiner Verwundung mußten jetzt sechs Monate vergangen sein und drei seit der Ankunft des Kurierschiffs mit den Anweisungen der Admiralität, die das Schicksal der Insel endgültig regelten.
Bolitho sagte:»Wenn wir England erreichen, wird es dort Frühling sein. Ein volles Jahr ist seit unserem Auslaufen vergangen.»
Dabei beobachtete er Alldays Gesicht, aber der zuckte nur mit den Schultern und antwortete:»Wahrscheinlich hat sich die ganze Aufregung bis dahin wieder gelegt, Sir.»
«Kann sein.»
Allday grübelte also immer noch, fürchtete das Land mehr als die Gefahren auf See. Einem alten Seemann ging es da nicht anders als seinem Schiff: sobald es unnütz festlag und nicht mehr gebraucht wurde, war es zum Verfall verurteilt.
Bootsmannspfeifen schrillten an Deck oben und Befehle wurden gebrüllt, während die Seitenwache an der Pforte aufzog.
Bolitho erhob sich und ließ sich von Ozzard seinen Paraderock bringen. Mit der Fregatte war auch der neue Gouverneur für San Felipe eingetroffen, ein schmächtiger Mann mit einem Vogelgesicht, der im Vergleich zu Rivers farblos wirkte.
Und er brachte die Anweisung mit, daß Rivers auf Achates nach England zurückgeschafft werden sollte. Pech für uns beide, dachte Bolitho.
Oder wie Keen bemerkt hatte:»Hölle und Teufel, warum ausgerechnet wir? Die Pest über diesen Mann!»
Ozzard klopfte an dem goldbetreßten Uniformrock herum und musterte die Goldepauletten mit sachkundigem Interesse. Dann griff er nach dem Prunksäbel an der Wand, ließ aber die Hände sinken, als Bolitho schnell den Kopf schüttelte.
Er wartete darauf, daß Allday die alte Familienwaffe von ihrem Platz nahm und ihm an den Gürtel schnallte, wie immer.
Bolitho hatte Belinda von Alldays Mut geschrieben und auch den Preis erwähnt, den er dafür hatte zahlen müssen. Sie würde besser als jeder andere wissen, was jetzt zu tun war. Mit einem schnellen Kurier mußten seine Briefe lange vor Achates in England sein.
«Danke. Ich gehe und begrüße unseren — an — Gast.»
Allday begleitete ihn an Deck, wo Bolitho Rivers an der Eingangspforte warten sah, flankiert von seiner Eskorte. Er trug Handschellen, und Leutnant Lemoine beeilte sich zu erklären:»Befehl des Obersten,
Sir.»
Bolitho nickte unbeeindruckt.»An Bord befindet sich Sir Humphrey in meinem Gewahrsam, Mr. Lemoine. Und ich wünsche nicht, ihn in Eisen zu sehen. «Die überraschte, fast erschreckte Dankbarkeit in Rivers' Blick blieb ihm nicht verborgen. Dann sah er seine Augen zum Vormasttopp schweifen, wo die Flagge in der frischen Brise auswehte. Da er selbst Vizeadmiral gewesen war, suchte er diesen Anblick wohl bis zuletzt auszukosten.
«Meinen Dank dafür, Bolitho.»
Bolitho sah Keen im Hintergrund die Stirn runzeln.»Das ist aber auch alles, obgleich das mindeste, was ich für Sie tun kann.»
Rivers blickte hinüber zur Stadt, an deren Uferstraße sich eine Menschenansammlung eingefunden hatte, um ihn abreisen zu sehen. Kein Jubel, aber auch keine Schmährufe. Typisch für die Insel, dachte Bo-litho, mit ihrer stürmischen Vergangenheit und Ungewissen Zukunft.
Aber was kümmerte es ihn? Warum sollte er den Mann bedauern, diesen Verräter und Piraten, dessen selbstsüchtige Gier so viele Menschenleben gefordert hatte? Rivers hatte zwei Söhne, die in London lebten und ihm schon einen tüchtigen Verteidiger für seinen Prozeß besorgen würden. Vielleicht konnte er sich sogar noch einmal herausreden. Die im Kriegsfall so wertvolle Wehrhaftigkeit der Insel ging schließlich zum großen Teil auf ihn zurück, auch wenn seine Motive dabei anderer Art gewesen waren.
Bolitho mußte sich eingestehen, daß die Hauptschuld bei den allmächtigen Herren in London lag, die es zugelassen hatten, daß Rivers seine Macht zum eigenen Vorteil immer weiter ausbaute.
Keen sah Rivers nach, der nach unten geführt wurde, und murrte:»Ich hätte ihn in die Arrestzelle gesteckt.»
Bolitho lächelte.»Wenn Sie jemals in Gefangenschaft geraten, Val, was hoffentlich niemals geschehen wird, dann werden Sie mich verstehen.»
Ungerührt grinste Keen.»Aber bis dahin, Sir, kann ich ihn nicht ausstehen.»
Fähnrich Ferrier trat heran, grüßte und meldete Keen:»Mr. Tyrrell ist an Bord gekommen, Sir.»
Bolitho wandte sich um. Tyrrell hatte sich seit dem Verlust seiner Vivid überwiegend an Land aufgehalten, wohl um — wie Bolitho vermutete — nicht darüber sprechen zu müssen. Oder hatte er, — unabhängig wie immer, sich einen Platz auf einem anderen Schiff gesucht?
Nun mußte er gehört haben, daß Achates bald auslaufen würde. Schließlich war das ein offenes Geheimnis auf der Insel. Wenn Achates erst den Ozean überquert hatte, würde es auf San Felipe einige neugeborene Kinder geben, hell- oder dunkelhäutige. Es stimmt Bo-litho froh, die Abschiedsrufe zu hören, die zwischen den Booten und dem Kai gewechselt wurden. Achates hatte über die Toppen geflaggt und war bis zum Rand voll frischer Früchte und Geschenke, überreicht von der Inselbevölkerung, die das Schiff einst so gehaßt und gefürchtet hatte.
Tyrrells wettergegerbter Kopf erschien auf der Leiter zum Achterdeck, und Bolitho ging ihm entgegen.
«Will mich nur schnell verabschieden, Dick. Von Ihnen und dem Junior. Wenn ich ihn das nächste Mal sehe, ist er bestimmt Kapitän.»
Wie Allday tat sich auch Tyrrell schwer; er würde im nächsten Augenblick auf seinem verhaßten Holzstumpf schleunigst das Weite suchen. Bolitho dachte über die rechten Worte nach, denn er wußte, daß Tyrrell jede wohlgesetzte Rede als Beweis für Mitleid, ja sogar Herablassung auffassen würde.
«Fahren Sie jetzt nach Hause zurück, Jethro?»
«Hab kein Zuhause, ist alles hin. Das wissen Sie doch, verdammt noch mal!«Aber er beherrschte sich sofort wieder.»Tut mir leid. Unser Wiedersehen hat mich ziemlich aus dem Gleis geworfen.»
«Mich auch.»
«Tatsächlich?«Mißtrauisch starrte Tyrrell ihn an, einer Lüge gewärtig.
«Ich habe mir überlegt…«Aus dem Augenwinkel sah er Knocker zum Ersten Offizier hasten, der sich seinerseits an den Kommandanten wandte. Bolitho wußte den Grund, auch er hatte den Wechsel der Windrichtung im Gesicht gespürt, schon als er mit Rivers sprach. Viel half das nicht, aber in dieser wetterwendischen Weltgegend mußte man aus allem das Beste machen. Doch er untersagte sich den Blick zur Windfahne im Masttopp, weil er sich nicht ablenken lassen wollte, sondern fuhr fort:»Wie wär's mit England?»
Tyrrell warf den Kopf zurück und lachte rauh.»Mann Gottes, was sagen Sie da? Was soll ich in England?»
Bolitho blickte an ihm vorbei zum Land hinüber.»Ihr Vater stammt aus Bristol, wie ich mich erinnere. Das ist nicht weit von Cornwall, von uns.»
Auch Tyrrell war die plötzliche Aktivität an Bord nicht entgangen, er interpretierte sie richtig: ein Schiff vor dem Auslaufen. Aber in die Heimat.
Verzweifelt antwortete er:»Ich bin ein Krüppel, Dick, wozu wäre ich schon nütze?»
«Westengland hat eine Menge Schiffe wie die Vivid.»
Bolitho sah Keen herankommen. Er konnte nicht länger warten.»Jedenfalls möchte ich, daß Sie mitfahren«, sagte er abschließend.
Tyrrell blickte sich um, als könne er seinen Augen und Ohren nicht mehr trauen.
«Aber Hand für Koje, darauf bestehe ich.»
Bolitho lächelte.»Dann ist das also abgemacht.»
Sie tauschten einen Händedruck, wobei Tyrrell versprach:»Bei Gott, Sir, das sollen Sie niemals zu bereuen haben!»
Bolitho wandte sich an seinen Flaggkapitän.»Bringen Sie das Schiff in Fahrt, Val, wenn Sie soweit sind.»
Keen drehte sich um und rief:»Alle Boote einsetzen! Beide Wachen an Deck, Mr. Quantock!»
Ein letztes Mal blickte er hinüber zu Bolitho und dem Einbeinigen, die an der Querreling standen, und schüttelte den Kopf.
Die Toppsgasten enterten behende auf und legten auf den Rahen aus, das Ankerspill wurde bemannt, und bald zeigte Achates dem Land das Heck und glitt langsam seewärts, auf ihren Anker zu.
«Hören Sie sie, Jethro?«fragte Adam aufgeregt.»Sie jubeln uns zu!»
Das Ufer war gesäumt mit Menschen, die Tücher schwenkten und Abschiedsgrüße übers Wasser riefen, während das große Ankerspill das Schiff mit jedem Klicken weiter dem Land entzog.
Tyrrell nickte.»Ja, mein Junge, diesmal jubeln sie.»
Hauptmann Dewar kam schneidig heranmarschiert und griff schwungvoll grüßend zu seinem Hut.»Also gut«, sagte Keen, der sich von der allgemeinen Fröhlichkeit anstecken ließ,»lassen Sie aufspielen. Das wollten Sie doch gerade vorschlagen, wie?»
Bolitho spürte, daß er den Handlauf unnötig fest umklammerte. Solch einen Abschied hatte er schon ungezählte Male erlebt, aber trotzdem war es diesmal anders.
«Anker ist kurzstag, Sir!»
«Vorsegel los!»
Bolitho wandte sich um und sah Allday neben sich stehen. Seine rechte Hand.
«An die Brassen!«Mit vorgerecktem Kopf tigerte Quantock an Deck hin und her; im Augenblick jedenfalls war seine Verbitterung über den komplizierten Anforderungen seines Handwerks vergessen.
«Anker ist frei!»
Es war kein schneidiges Manöver unter Vollzeug und mit starker Krängung, nein, Achates ging langsam und mit der ganzen Würde ihrer Jahre durch den Wind, ließ die Sonne kurz von ihrer Galionsfi-gur reflektieren und dann auf den verschalkten Stückpforten und der frisch gestrichenen Rumpfwölbung schimmern.
«Bramsegel los, aber bißchen plötzlich, Mr. Scott! Ihre Leute sind heute lahm wie alte Weiber!»
Knallend füllten sich die Segel mit Wind, bis sie steif wie Bretter standen; mit einer leichten Bugwelle unter ihrem Wasserstag glitt Achates auf die Hafenausfahrt zu.
Bolithos Augen hingen an dem schmalen Fahrwasser, das ihm nicht viel breiter vorkam als ein Hoftor. Auch Keen, das sah er mit einem kurzen Seitenblick, mußte wieder daran denken, wie sie bei völliger Dunkelheit hier durchgebrochen waren.
«Recht so!«Das war Knockers Stimme. Sogar er schien ungewohnt heiter, als er fortfuhr:»Mr. Tyrrell, Sie kennen sich hier besser aus. Ich wäre Ihnen dankbar für Ihren Rat.»
Hoch über ihnen glitt die Festung vorbei und darunter der leicht ansteigende Feldweg, auf dem der Trommelbube gefallen war und Rivers seinen größten Fehler gemacht hatte.
Die Flagge über dem alten Turm wurde grüßend gedippt; auf der zinnenbewehrten Bastion stand eine Reihe rotuniformierter Soldaten mit aufgepflanzten Bajonetten und salutierend gesenkten Fahnen. Die Bramsegel von Achates warfen huschende Schatten auf die Festungsmauern.
«So schnell werden die das alte Käthchen nicht vergessen«, murmelte Allday. Lauschend wandte er sich um, als der kleine Musikzug mit seinen Pfeifern und Trommlern ein munteres Abschiedslied anstimmte.
Bolitho sah, daß Alldays Hand noch einmal zur Wunde tastete, aber dann zog er sie entschlossen zurück und legte sie neben seiner auf den Handlauf.
Als lasse er mit der Insel auch den Schmerz hinter sich zurück.