Kapitän Valentine Keen saß mit übergeschlagenen Beinen in Bolithos Kajüte und sah zu, wie sein Vorgesetzter eine Depesche an die Admiralität in London noch einmal durchlas. Sie sollte mit der Brigg Elec-tra abgehen und schließlich von einem Kurierschiff der britischen Marine weiterbefördert werden, was bedeutete, daß sie völlig von den Ereignissen überholt sein würde, wenn Admiral Sheaffe sie endlich in Händen hielt. Keen verfluchte insgeheim die drückende Hitze. Sie lag so lähmend über dem Schiff, daß selbst die kleinste Bewegung zur Qual wurde.
Bolitho setzte seine Unterschrift unter die letzte Seite und sah seinen Flaggkapitän fragend an.»Also, Val, sind wir klar zum Auslaufen?»
Keen nickte und fühlte sofort Schweiß in seinen Kragen rinnen.»Der letzte Wasserleichter hat abgelegt, Sir. Wir warten nur noch..»
Heftig sprang Bolitho auf und schritt zu den offenen Heckfenstern.»Auf meinen Neffen. Er sollte längst an Bord sein.»
Damit hatte er nur seine Gedanken laut ausgesprochen. Das Schiff war klar zum Ankerlichten, alle Boote waren eingesetzt, die Leute vollzählig an Bord. Gereizt starrte er zu der kleinen Brigg hinüber, mit der die Nachricht über den Verlust der Sparrowhawk gekommen war. Ihr junger Kommandant würde aufatmen, wenn er erst dem Einflußbereich dieses fremden Admirals entronnen war. Sein kleines Schiff konnte nun nach Antigua eilen und die Kunde von dem geheimnisvollen Wegelagerer verbreiten, der ohne Namen und Nationalflagge segelte. Bolitho hätte viel darum gegeben, wenn er Electra hätte behalten können, aber es war vorrangig, daß vor dem unbekannten Angreifer gewarnt wurde. Noch andere Schiffe mochten seine Opfer werden.
Keen konnte seinem Admiral fast die Gedanken vom Gesicht ablesen. In Kriegszeiten hatten sie so vieles gemeinsam erlebt und durchgestanden; und jetzt, angeblich mitten im Frieden, wurden sie mit einem Gegner konfrontiert, der ebenso rätselhaft wie furchterregend war.
Über ihren Köpfen polterten Schritte, dann schrillten die Pfeifen und riefen die Wache an irgendeine neue Arbeit, beaufsichtigt vom scharfen Auge des Ersten Offiziers.
Bolitho entging Keens mitfühlender Blick. Seine Gedanken drehten sich immer wieder im Kreis, als sei sein Kopf ein Gefängnis. Sollte er hier in Boston warten oder nach San Felipe segeln? Es hing ganz allein von ihm ab, wie auch Duncans Tod auf seine Entscheidung zurückging. Keen hatte mit dem überlebenden Midshipman gesprochen, aber nur wenig aus ihm herausbekommen. Dann hatte Bolitho Allday gebeten, den jungen Evans auf seine eigene Art auszufragen, und diese Methode hatte verblüffende Resultate gebracht. Allday besaß eben die Gabe, sich beiläufig und wie nebenbei mit Leuten zu unterhalten, besonders mit halben Kindern wie Evans. Als Allday Bolitho schilderte, was er Evans entlockt hatte, glaubte Bolitho, selbst Zeuge dieses kurzen, mörderischen Treffens gewesen zu sein, das mit Spar-rowhawks völliger Vernichtung geendet hatte.
Ein Wunder, daß der Junge nicht zusammengebrochen war, dachte Bolitho. Schließlich segelten sie nicht in den Krieg, mit dem Tod als allgegenwärtigem Schatten. Es war Evans' erste Reise gewesen, zwar auf einem Kriegsschiff, aber in friedlicher Mission. Auch kam er nicht aus einer Familie von Seeleuten, sondern war der Sohn eines walisischen Schneiders.
Seinen besten Freund und Kameraden wie ein Tier abgeschlachtet zu sehen, dem verwundeten Duncan im Tode Beistand zu leisten, während das tödlich getroffene Schiff unter ihm versank, war mehr, als die meisten seiner Altersgenossen verkraftet hätten. Vielleicht würde der Schock erst später, möglicherweise nach Monaten, auftreten.
Allday berichtete, daß Evans eine Explosion zu hören glaubte, als sein Boot von der sinkenden Fregatte wegpullte. Sie hatten ja nicht einmal Zeit gehabt, das Kombüsenfeuer zu löschen. Wahrscheinlich waren die Flammen auf das Pulvermagazin übergesprungen. So kam das Ende für die an Bord Verbliebenen wenigstens schnell, und die Schockwelle der Explosion hatte die Haie eine Weile von den Schwimmern ferngehalten.
Ein anderer Überlebender, ein erfahrener Artillerist, hatte Allday berichtet, daß das Kanonenfeuer ihres Mörders lauter und heller geklungen hatte, als zu erwarten gewesen war. Er glaubte, daß seine Batterie aus Kanonen bestand, die großkalibriger waren als üblich, wenn auch der Zahl nach reduziert.
Bolitho warf einen Blick auf den Achtzehnpfünder neben seinem Schreibtisch. Wahrscheinlich also Zweiunddreißigpfünder. Aber warum?
Die Tür öffnete sich langsam, und Yovell spähte zögernd herein. Bolitho sagte:»Die Depeschen sind fertig.»
Waren sie denn überhaupt von Bedeutung? Er wußte es besser, und Keen ebenso. Nur leere Worte. Aber die Fakten waren ebenso eindeutig wie grausam: Er hatte ein gutes Schiff mit fast der gesamten Besatzung verloren. Und Duncan, einen nahen Freund und tapferen Offizier. Was sollte aus seiner jungen Witwe werden?
Yovell stand immer noch im Türrahmen.
«Ein Postschiff wirft gerade Anker, Sir«, sagte er.»Es kommt aus England.»
Bolitho starrte ihn an und sah mit Schrecken die Furcht in Yovells rundem Gesicht.
Mein Gott, dachte er, der Mann hat ja Angst vor mir. Aber dann traf ihn die Erkenntnis wie ein Schock: Der Sekretär ängstigte sich vor seiner Gereiztheit, weil das Postschiff möglicherweise keine Nachricht von Belinda mitbrachte.
Als Bolitho das begriffen hatte, fiel es ihm leichter, seine quälende Spannung zu meistern.»Danke, Yovell«, sagte er.»Nehmen Sie die Pinasse und schaffen Sie meine Depeschen auf die Electra. Auch alle Briefe der Besatzung. «Er sah den Sekretär noch zögern.»Und danach lassen Sie sich zum Postschiff rudern, ja? Vielleicht haben sie dort Briefe aus der Heimat für uns«, schloß er.
Bolitho setzte sich und sagte, als Yovell verschwunden war:»Wenn ich zu Ihnen allen ziemlich gereizt war, Val, möchte ich mich entschuldigen.»
Keen nutzte den günstigen Augenblick.»Als Ihr Flaggkapitän, Sir«, sagte er,»steht es mir doch frei, aus gegebenem Anlaß Vorschläge zu machen oder Warnungen auszusprechen?»
«Das stimmt. «Bolitho lächelte grimmig.»Thomas Herrick hat von diesem Recht ausgiebig Gebrauch gemacht, also sprechen Sie ganz offen.»
Keen hob die Schultern.»Sie werden von allen Seiten bedrängt, Sir. Die Franzosen weigern sich, mit Ihnen über San Felipe zu reden, und sie müssen es auch nicht tun, da ja unsere beiden Regierungen über die Zukunft der Insel bereits Vereinbarungen getroffen haben. Die Amerikaner wollen die Franzosen nicht vor ihrer Haustür haben, weil das ihre Strategie in einem zukünftigen Konflikt behindern könnte. Der Gouverneur von San Felipe bekämpft die Übergabe — also Sie — mit allen Mitteln, und ich nehme an, damit hat Admiral Sheaffe von Anfang an gerechnet. Weshalb sich also den Kopf zermartern? Wenn der Gouverneur nicht kapitulieren will, können wir ihn unter Arrest stellen oder sogar in Eisen legen. «Keens Ton wurde härter.»Zu viele Leute sind seinetwegen schon gestorben. Es wäre besser, wenn wir selbst die Insel übernähmen, als ihr Schicksal ihm zu überlassen. Er strebt wahrscheinlich völlige Unabhängigkeit von der britischen Krone an und spielt zu diesem Zweck eine Partei gegen die andere aus — solange wir es ihm gestatten.»
Bolitho lächelte.»Das habe ich auch schon bedacht. Aber der Ve r-lust von Sparrowhawk und der unprovozierte Angriff auf uns passen nicht ins Bild. Wenn mich nicht alles täuscht, war das Schiff ein spanischer Werftbau, doch seine Allerkatholischste Majestät, der König von Spanien, hat keine Einwände gegen die Übergabe von San Felipe erhoben. Also haben wir es entweder mit einem versuchten Staatsstreich zu tun oder mit Piraterie in großem Maßstab. Zum Teufel, Val, nach diesem langen Krieg gibt es doch eine Menge Kapitäne mit der nötigen Erfahrung und auch Verzweiflung für ein Spiel um so hohen Einsatz.»
Keen legte die Fingerspitzen gegeneinander.»Ich weiß, Sir, daß Sie sich jetzt große Sorgen um Ihre Frau machen. «Er sah Ärger in Bo-lithos grauen Augen aufblitzen und fuhr schnell fort:»Das lange Warten muß die Hölle für Sie gewesen sein, besonders nach Ihren Erlebnissen in der Gefangenschaft.»
Ein Boot pullte unter dem Heck vorbei, und Bolitho trat an ein Fenster, um die Passagiere zu mustern. Aber es waren nur Neugierige und ein paar kleine Händler, die immer noch versuchten, mit den Matrosen an Bord das eine oder andere Geschäft zu machen.
Adam war nicht dabei.
Wieder erriet Keen seine Gedanken.»Er ist noch so jung, Sir. Vielleicht war es ein Mißgriff, ihn zum Flaggleutnant zu machen.»
Wütend fuhr Bolitho herum.»Hat Browne das gesagt?»
Keen schüttelte den Kopf.»Es ist meine persönliche Meinung. Ihr Neffe ist ein prächtiger junger Mann und hat meine volle Sympathie. Sie haben von Anfang an die Hand über ihn gehalten, haben ihn behandelt wie einen Sohn.»
Bolithos Widerstandskraft erlahmte.»War das denn so falsch?»
Traurig lächelte Keen.»Auf keinen Fall, Sir.»
Bolitho schritt an Keens Stuhl vorbei und legte seinem Flaggkapitän kurz die Hand auf die Schulter.»Aber Sie haben ganz recht. Ich wollte die Augen davor verschließen. «Er winkte ab, als Keen zu protestieren begann.»Ich habe Adams Mutter nie kennengelernt, niemand kannte sie. Immerhin hat sie ihn den ganzen Weg bis nach Falmouth geschickt, zu mir. Das war vielleicht das einzig Gute, was sie in ihrem Leben tat. Aber was mich betrifft, so haben Sie recht: Ich liebe Adam wie einen Sohn, doch er ist es nicht. Sein Vater war mein Bruder Hugh. Vielleicht hat er Hughs Charakter geerbt…»
Keen stand auf.»Lassen wir es dabei bewenden, Sir. Ihr Grübeln bringt Sie auch nicht weiter, es zermürbt Sie nur. Wir alle blicken zu Ihnen auf. Und ich glaube, uns steht Schlimmes bevor. Wahrscheinlich hat man uns nur deshalb hierher gesandt.»
Bolitho schenkte zwei Gläser Wein ein und reichte Keen eines davon.
«Sie sind mir ein guter Flaggkapitän, Val. Nur ein mutiger Mann konnte das eben aussprechen. Und es stimmt. Private Gefühle dürfen jetzt keine Rolle spielen. Später vielleicht — aber jetzt würde jedes Zeichen von Besorgnis sofort das ganze Schiff anstecken. «Er hob sein Glas und ließ den Wein in der Sonne funkeln.»Das alte Käthchen wird sich bald tapfer schlagen müssen. Einen Admiral, der vor privaten Sorgen an nichts anderes mehr denkt, kann sie nicht gebrauchen.»
Ein zaghaftes Klopfen an der Tür, und dann trat Yovell ein, den Blick wie gebannt auf Bolitho gerichtet.
Keen mußte wegsehen, als Bolitho den Brief aus Yovells Hand entgegennahm. Er wäre gern gegangen, wagte aber nicht, sich zu rühren. Yovell empfand anscheinend ebenso.
Bolitho überflog den kurzen Brief und faltete ihn dann sorgsam.
«Bringen Sie das Schiff bitte in Fahrt, wenn Sie soweit sind. Der Wind sollte reichen zum Auslaufen.»
Er begegnete Keens fragendem Blick.
«Der Brief kommt von meiner Schwester in Falmouth. Meiner Frau. «Als beschwöre er damit Unheil herauf, zögerte er, ihren Namen auszusprechen.»Belinda geht es nicht gut. Der Brief wurde schon vor ziemlich langer Zeit geschrieben, denn das Postschiff hat noch andere Häfen angelaufen, ehe es nach Boston kam. Aber sie wollte mich wissen lassen, daß sie an mich denkt.»
Er wandte sich ab, weil seine Augen plötzlich brannten.»Auch wenn sie zu krank war, um selbst zu schreiben.»
Keen sah in Yovells erschrecktes Gesicht und bedeutete ihm mit einer Kopfbewegung, sich zurückzuziehen.
Als sie allein waren, sagte er leise:»Sie tat es aus Liebe zu Ihnen, Sir. Und nur das sollten Sie sich vor Augen halten.»
Bolitho sah ihn an und nickte dann.»Danke, Val. Bitte, lassen Sie mich jetzt allein. Ich komme gleich an Deck.»
Keen schritt an dem Wachtposten draußen vorbei und mußte wieder an Herrick denken; der hätte bestimmt gewußt, was tun. Er aber fühlte sich so hilflos, auch wenn es ihn tief bewegte, daß Bolitho seine Sorgen mit ihm geteilt hatte.
Auf dem Achterdeck entdeckte er Allday neben einem Acht-zehnpfünder und winkte ihn heran.
Allday hörte zu, was sein Kommandant zu sagen hatte, und seufzte dann tief auf.»Ich gehe nach achtern, Sir«, sagte er.»Er hat jetzt einen Freund nötig. «Ein schiefes Grinsen zog über sein Gesicht.»Wahrscheinlich geigt er mir die Meinung für meine Frechheit — aber was soll's? Wenn wir's nicht verhindern, klappt er zusammen wie ein Schnappmesser, darauf können Sie Gift nehmen.»
Keen rückte seinen Hut gerade und trat ins Sonnenlicht hinaus, wo ihn seine Offiziere und der Master schon erwarteten.
«Klar zum Ankerlichten, Mr. Quantock. Und denken Sie daran, daß uns der halbe Hafen beobachtet. Also keine Patzer, wenn ich bitten darf.»
Als die Offiziere auf ihre Stationen eilten und die Bootsmannsmaatgehilfen mit schrillem Pfeifen alle Mann an Deck riefen, sprang Keen leichtfüßig die Leiter zur Poop hinauf und musterte die verankerten Schiffe rundum und den Winkel des Verklickers im Masttopp.
Mit einem letzten Blick auf das offene Skylight zu seinen Füßen, unter dem er Bolitho wußte, formte er einen Schalltrichter mit beiden Händen und rief:»Mr. Mountsteven, Ihre Leute bewegen sich heute wie Krüppel!»
Gehorsam tippte der Offizier an seinen Hut und sputete sich. Keen atmete tief aus. Jetzt fühlte er sich schon etwas besser. Er war wieder der Kommandant, wie ihn alle kannten.
Der schwarze Kutscher wischte sich die Hände an einem Lappen ab und verkündete:»Das Rad is' wieder ganz, Sir.»
Adam half Robina aufstehen, und sie traten zögernd aus dem Schatten der Bäume auf die staubige Straße hinunter.
Die Kutsche hatte in einer Kurve ein Rad verloren und war in den Graben gekippt. Es gab einen Augenblick totaler Konfusion, der Wagenschlag flog auf, und sie wären fast hinausgeschleudert worden. Aber Adam hatte instinktiv reagiert, in dem einzigen Gedanken, seine Gefährtin vor Schaden zu bewahren. So war der Zwischenfall, der mit Blut und Tränen hätte enden können, zum glücklichen Abschluß seines Besuches geworden. Denn als sich der Staub verzog, als Kutscher und Lakai ängstlich herbeieilten und ins Innere der Kutsche spähten, fanden sie Robina fest von Adams Armen umschlossen, seinen Mund tief in ihr blondes Haar gepreßt. Adam spürte ihr Herz schlagen, ebenso heftig wie sein eigenes.
Die Reparatur dauerte länger als erwartet, aber Adam bemerkte es kaum. Hand in Hand waren sie durch die grüne Parklandschaft gewandert, hatten an einem Bach dem Murmeln des Wassers gelauscht und von allen möglichen Dingen gesprochen, nur nicht von dem, was ihre Herzen bewegte.
Adam kam sein Besuch in Newburyport überhaupt wie ein einziges Abenteuer vor. Robina und ihr Vater hatten ihn zu einem kleinen, gemütlichen Haus begleitet und ihn fasziniert beobachtet, als er von einem Zimmer ins andere wanderte, geführt vom jetzigen Besitzer, einem Freund der Familie; Adam hatte die Tapeten berührt, die Kaminsimse und einen alten Sessel, der schon lange zum Inventar gehörte.
Robina hatte nasse Augen bekommen, als er sich in den großen Sessel setzte, beide Hände um die abgewetzten Armstützen gekrampft, als wolle er sie nie mehr loslassen.
Leise hatte er gesagt:»Hier hat mein Vater gesessen, Robina. Mein Vater.»
Er konnte es immer noch nicht glauben.
Jetzt glitt ihre Hand unter seinen Arm, und ihre Wange legte sich gegen seinen Uniformrock.
«Du mußt gehen, Adam«, sagte sie.»Ich habe dich schon viel zu lange aufgehalten.»
Zusammen schritten sie zur Kutsche und kletterten hinein. Als die Pferde anzogen, flüsterte das Mädchen:»Jetzt werden wir bald in Boston sein. «Sie wandte sich ihm zu und sah ihm in die Augen.»Wenn du möchtest, darfst du mich küssen, Adam. «Halb scherzend fügte sie hinzu:»Hier kann uns schließlich keiner sehen. Ich möchte nicht, daß die Leute Robina Chase für leichtsinnig halten.»
Ihre Lippen schmeckten frisch und kühl, ihr Haar duftete nach Blumen»
Dann schob sie ihn sanft von sich und senkte den Blick.»Also wirklich, Leutnant. «Aber sie konnte den schnippischen Ton nicht durchhalten. Atemlos fuhr sie fort:»Ist das die Liebe, Adam?»
Adam lächelte wie in Trance.»Das muß sie wohl sein.»
Die Kutsche rollte über Kopfsteinpflaster und dann auf die Bohlen der Pier. Passanten blieben stehen und sahen zu, wie der junge britische Marineoffizier dem blonden Mädchen fürsorglich beim Aussteigen half.
Adam starrte erstaunt auf die Reede hinaus. Dann sah er das Mädchen an seinem Arm an.»Was mache ich jetzt, Robina?»
Denn es schockierte ihn wie eine kalte Dusche, daß Achates verschwunden war.
«Also hier seid ihr. «Jonathan Chase nickte seiner Nichte zu und berichtete mit grimmigem Lächeln:»Sie ist gestern ausgelaufen. Der
Admiral konnte gar nicht schnell genug nach San Felipe kommen. «Er spielte mit dem Gedanken, dem Leutnant vom Untergang der Spar-rowhawk zu erzählen, entschied sich aber mit Rücksicht auf seine Nichte dagegen.
Statt dessen schlug er vor:»Sie kommen besser mit mir, junger Mann. Morgen will ich sehen, wie ich Ihre Weiterreise arrangieren kann. Sie möchten doch zurück auf Ihr Schiff, oder?»
Er sah, wie ihre Hände sich fanden und begriff, daß sie ihm gar nicht zugehört hatten. Stirnrunzelnd ging er dem jungen Paar zu seiner Kutsche voraus. Robina war sein Augapfel, aber er mußte den Tatsachen ins Gesicht sehen, an Land ebenso wie früher auf See.
Sie waren ein auffallend schönes Paar, aber Robinas Familie würde niemals zulassen, daß sich mehr aus dieser Bekanntschaft entwickelte. Was hatte er sich nur dabei gedacht, als er die beiden zusammenführte?
Ein junger Marineoffizier, noch dazu ein Engländer, dessen einzige Zukunft die Kriegsmarine war, konnte kein aussichtsreicher Bewerber um Robina Chase sein. Also mußte er wieder auf sein Schiff geschafft werden — je schneller, desto besser.
Bolitho trat aus dem Schatten der Poop nach vorn zur Querreling. Rund um ihn gingen halbnackte Seeleute ihrer Arbeit nach, die auf einem Kriegsschiff nie ein Ende fand, und warfen ihrem Admiral neugierige Blicke zu. Sie konnten sich nur schwer an die Anwesenheit eines Flaggoffiziers gewöhnen und verstanden schon gar nicht, daß er sich nicht seinem Rang entsprechend kleidete. Wie die anderen Offiziere trug Bolitho lediglich ein Hemd, offen bis zur Brust, und Breeches. Nur zu gern hätte er auch diese abgelegt, um sich bei der Hitze Erleichterung zu verschaffen. Aber das wäre denn doch zu weit gegangen.
Er blickte nach oben und studierte ein Segel nach dem anderen. Im Augenblick standen alle voll, trotzdem konnten sie jederzeit wieder kraftlos einfallen — wie die meiste Zeit, seit sie Boston verlassen hatten.
Daran dachte Bolitho nicht gern zurück. Warum hatte Nancy geschrieben und nicht Belinda? Traf zu, was Keen gesagt hatte, oder sollte der Brief ihn nur auf noch schlechtere Nachrichten vorbereiten?
Belinda war also krank. Es konnte auch ein Übel aus ihrer Zeit in Indien sein, wo sie ihren kranken ersten Mann bis zu seinem Tode gepflegt hatte.
Bolitho wanderte auf den weißgescheuerten Decksplanken auf und ab, die in den 21 Jahren, die das Schiff schon auf dem Buckel hatte, von Tausenden nackter Füße geglättet worden waren.
Gewaltsam verdrängte er Falmouth aus seinen Gedanken, aber statt dessen fiel ihm sein Neffe ein.
Bolitho hätte alles darum gegeben, noch in Boston bleiben zu können, um auf weitere Nachrichten von Belinda zu warten und darauf, daß Adam an Bord zurückkehrte. Ihm die Reise nach Newburyport zu erlauben, war ohnehin ein Fehler gewesen. Vielleicht hatte Keen auch in diesem Punkt recht gehabt, genau wie Browne. Er hätte nicht einen so nahen Verwandten zu seinem Adjutanten machen dürfen.
Keen trat zu ihm an die Reling.»Der Wind steht durch, Sir«, meinte er.
Acht Tage — die längsten Tage, an die Keen sich erinnern konnte — hatte er das Schiff nach Süden gequält und jeden Fetzen Tuch gesetzt, um wenigstens einen Knoten mehr Fahrt herauszuholen. Trotzdem hatten sie nur jämmerliche Etmale[8] erzielt, und er glaubte zu spüren, daß Quantock ihn ständig mit dem früheren Kommandanten verglich. Das Mißvergnügen seines Ersten scherte Keen wenig, mehr bekümmerte ihn schon der Umstand, daß Bolitho kein einziges Wort der Kritik geäußert hatte. Aber auch er mußte wissen, daß der Wind in dieser Weltgegend ein unzuverlässiger Geselle war und einen meist gerade dann in Stich ließ, wenn man ihn am dringendsten brauchte.
Bolitho blickte zum Verklicker auf, der unlustig flappte.
«Also morgen, Val.»
«Aye, Sir. Mr. Knocker hat mir versichert, daß wir um Mittag auf der Höhe von San Felipe stehen, wenn der Wind so bleibt. «Keens Stimme hörte man die Erleichterung an.
Bolitho blickte hinaus auf die schwach bewegte See, aus der ab und zu eine Gischtfeder wuchs, die ein springender Fisch aufwarf. Wie Keen hatte er die See- und Landkarten von San Felipe so eingehend studiert, daß er sie auch geschlossenen Auges vor sich sah: fünfzig Meilen lang, aber höchstens zwanzig Meilen breit, wurde die Insel von einem erloschenen Vulkan beherrscht und wies an ihrer Südseite einen weitläufigen Naturhafen auf. Gefährliche Riffe verwehrten die Zufahrt von Norden her, und ein weiterer Korallengürtel schützte die kleine Nebeninsel auf der gegenüberliegenden Seite. Ein großartiges Versteck, auch ohne die alte Festung, die die Einfahrt nach Rodney's Harbour beherrschte. An Süßwasser bestand kein Mangel, und die reiche Ernte an Zuckerrohr und Kaffeebohnen erhöhte noch den Wert der Insel. Wieder ertappte sich Bolitho bei dem Gedanken, daß er Gouverneur Rivers' Meinung teilte: Es war widersinnig, die Insel den Franzosen zurückzugeben.
Keen sagte gerade:»Bei dieser Windrichtung werde ich den Hafen von Südost ansteuern, Sir. Bin froh, daß wir nicht im Dunkeln einlaufen müssen.»
Das klang beiläufig, aber Bolitho hörte doch Keens Sorge um sein Schiff heraus. In den Gewässern um San Felipe verkehrten Briggs und Schoner, aber ein Linienschiff, auch wenn es nur ein kleiner 64er war, brauchte mehr Platz zum Manövrieren.
«Ich möchte so bald wie möglich an Land gehen und beim Gouverneur vorsprechen«, sagte Bolitho.»Wir wissen, daß Duncan einen Wortwechsel mit ihm hatte.»
Auf dem Seitendeck sah Bolitho Midshipman Evans am Segelmacher und seinen Gehilfen vorbeihasten; der Junge wandte sich um und starrte zum Achterdeck zurück, dann lief er so schnell er konnte weiter und verschwand im nächsten Niedergang.
«Heute nacht ist wieder einer von den Verwundeten der Sparrow-hawk gestorben, Sir«, berichtete Keen.
Bolitho nickte. Noch ein Opfer. Die Segelmacher würden es in eine alte Hängematte einnähen, damit es bei Sonnenuntergang bestattet werden konnte.
«Midshipman Evans soll sich bei meinem Sekretär melden«, wies er Keen an.»Die Arbeit für mich wird ihn ablenken.»
Damit wandte er sich um und marschierte auf und ab, bis ihm das Hemd klitschnaß am Leib klebte.
«An Deck!»
Keen blickte in die Takelage auf, mußte aber die Augen vor der grellen Sonne beschatten.
Aus dem Krähennest im Großmast sang der Ausguckposten:»Land in Lee voraus!»
Mit einem Grinsen wandte sich Keen dem Master zu.»Gut gemacht, Mr. Knocker. Wir bleiben auf diesem Bug, bis wir die Hafeneinfahrt anliegen können.»
Knocker grunzte nur; sein hageres Mönchsgesicht verriet weder Genugtuung noch Ärger.
«Ich lasse den Toten während der Hundewache über Bord gehen, Sir. «Quantock konnte sich trotz seiner Größe und Unbeholfenheit manchmal so lautlos bewegen wie eine Katze.
Keen fuhr herum und bemühte sich, die Abneigung gegen seinen Stellvertreter zu unterdrücken.
«Wir werden ihn mit den gebotenen Ehren bestatten, Mr. Quantock. Lassen Sie die Freiwache in der Abenddämmerung nach achtern purren.»
Der Leutnant zuckte mit den Schultern.»Wenn Sie meinen, Sir? Schließlich war er nicht einer von uns.»
Keen sah, wie Yovell den kleinen Midshipman in die Achterkajüte führte, und sagte scharf:»Er war ein Mensch, Mr. Quantock!»
Als die Nacht über die Kimm kroch und das langsam dahinziehende Schiff einzuhüllen begann, erwies die Achates ihrem Toten die letzte Ehre.
Bolitho hatte seine Uniform angelegt und stand neben Keen, der im Licht einer Windlaterne einige Sätze aus der Bibel verlas, obwohl er sie wahrscheinlich auswendig kannte. Bolitho sah, daß der Bootsmannsgehilfe, der die Laterne hielt, jener Mann von der alten Lysan-der war, mit dem er Erinnerungen über die Schlacht von Abukir ausgetauscht hatte.
Am nächtlichen Horizont war die Insel bereits verschwunden. Den ganzen Tag war sie langsam über die scharfe, dunkelblaue Kimm gestiegen, hatte an Kontur und Breite zugenommen, als wachse sie ihnen entgegen.
«Machen Sie weiter, Mr. Rooke«, sagte Keen.
Bolitho hörte den Toten von der Gräting rutschen und mit lautem Klatschen neben der Bordwand aufschlagen; von einer Kanonenkugel beschwert, trat er nun seine letzte Reise zum Meeresgrund an.
Ein Schauder überlief Bolitho, und er fühlte wieder den stechenden Schmerz in seiner alten Schenkelwunde.
Ein Seesoldat faltete bereits die Nationalflagge zusammen, die den Toten bedeckt hatte; die Freiwache schlurfte in ihr Logis. Der wachhabende Offizier hatte es eilig, abgelöst zu werden und ebenfalls in die Messe zu seinen Kameraden zu kommen. Das gewohnte Bordleben nahm seinen Fortgang — wie immer.
Aber Bolitho sah vor sich, wie das jämmerliche Bündel Mensch achteraus langsam tiefer sank, und hörte wieder die gefühllosen Worte des Ersten und Keens wütende Zurechtweisung.
Nicht einer von uns.
Der nächste, dachte er bitter, wird einer von uns sein.
Der Himmel über der Massachusetts Bay wirkte drohender, als ihn Adam während ihrer langen Liegezeit jemals erlebt hatte.
Er stand mit einer kleinen Gruppe am Kai und bemerkte, daß an Deck der meisten verankerten Schiffe eifrig gearbeitet wurde, als bereiteten sich alle auf einen Sturm vor.
Jonathan Chase rieb sich das Kinn und schielte zu den wild jagenden Wolken auf.»Ich will Sie ja nicht drängen, Leutnant, aber Sie sollten die Tide ausnutzen, ehe das Wetter umschlägt. Es kann jetzt nicht mehr lange dauern.»
Adam wandte sich Robina zu, deren Haar im schwindenden Licht wie Silber leuchtete.
Er sagte:»Es war sehr freundlich von Ihnen, Sir, mir so schnell eine Passage zu besorgen. «Aber seine Augen straften diese Worte Lügen.
Robina nahm seinen Arm, und gemeinsam sahen sie zu der kleinen Brigantine hinaus, die schon schwer vor Anker stampfte; der heiße, böige Wind zerrte an ihren lose aufgegeiten Segeln. Ihr Name war Vivid, und Adam hielt es für einen puren Zufall, daß Chase enen Skipper gefunden hatte, der zu der gut vierzehnhundert Seemeilen langen Reise nach San Felipe bereit gewesen war.
Beschwörend flüsterte Robina ihm zu:»Bleib hier, Adam. Du mußt doch nicht abreisen. Du kannst bei uns wohnen, bis…«Halb flehend, halb trotzig blickte sie ihm ins Gesicht.»Mein Onkel wird dir eine Stellung beschaffen. «Ihre Finger gruben sich in seinen Arm.»Mach es wie dein Vater, bleibe bei uns.»
Unwirsch sagte Chase:»Hier kommt das Boot. Ich habe Ihr Gepäck schon an Bord schaffen lassen, dazu ein paar Delikatessen für unterwegs. Und grüßen Sie Ihren Onkel von mir. «Er sprach hastig, als wolle er den Abschied verkürzen.
Adam neigte den Kopf und küßte sie, fühlte dabei ihre nassen Wangen. Naß von Tränen oder von Gischt, genau konnte er das nicht sagen. Aber eines wußte er: daß er sie mehr liebte als sein Leben. Und daß er sie in diesen Minuten zum letztenmal sah. Er kam sich vor wie mitten entzweigerissen.
Das kleine Boot schor an den Kai, und eine rauhe Stimme rief:»Springen Sie an Bord, Leutnant! Wir haben keine Zeit zu verlieren.»
Adam drückte seinen Hut fester in die Stirn und tat wie geheißen. Das Boot war alt und schäbig, aber die Männer an den Riemen verstanden ihre Arbeit.
Als sie von der Spundwand abstießen und anruderten, stand er im Heck und starrte achteraus, sah die winkende Gestalt mit dem blassen Gesicht immer kleiner werden. Ich komme zurück.
Mit zusammengebissenen Zähnen wandte er sich ab, als Gischt übers Dollbord peitschte und der Bootsmann knapp befahl:»Da sind wir, machen Sie sich fertig.»
Der stampfende Rumpf der Brigantine erhob sich über ihnen, ihre beiden Mastspitzen kreisten wild vor den Wolken, so hart arbeitete sie vor Anker.
Die Barschheit des Bootsmanns tat Adam fast wohl. Sie setzten ihn nicht aus Freundlichkeit über, sondern weil Chase sie dafür gut bezahlt hatte; und sie dachten nicht daran, einen ausländischen Offizier zu respektieren.
Er kletterte an der Jakobsleiter hoch und wäre der Länge nach an Deck gefallen, wenn nicht ein bulliger Mann aus dem Schatten gesprungen wäre und ihn mit eisernem Griff am Arm gepackt hätte. Adam bemerkte, daß der Mann stark hinkte, und als er sich bei ihm bedanken wollte, sah er mit Erstaunen, daß er nur ein Bein hatte. Das tat aber der Autorität keinen Abbruch, mit der er seine Leute ans Ankerspill scheuchte.
«Gehen Sie bitte unter Deck.»
Die tiefe Stimme hatte einen weichen Südstaatenakzent, den Adam in Boston noch nicht gehört hatte. Schon hinkte er davon, seine kleine Crew zu beaufsichtigen, aber dann kehrte er noch einmal um.
«Würde es Ihnen was ausmachen, den Hut abzunehmen?»
Als Adam der Bitte entsprach und der Wind sein Haar zauste, nickte der Skipper der Vivid zufrieden.
«Das dachte ich mir«, brummte er.»Gleich als Sie an Bord kamen. «Er wischte die Hand an seiner Weste ab und hielt sie Adam hin.»Der Name ist Jethro Tyrrell. Willkommen auf meinem kleinen Schiff.»
Adam starrte ihn verwundert an.»Kannten Sie etwa meinen Vater?»
Der Mann namens Tyrrell legte den Kopf in den Nacken und stieß ein röhrendes Gelächter aus.
«Gott behüte! Aber ich kannte Richard Bolitho. «Im Weghinken warf er über die Schulter:»War mal sein Erster Offizier, ob Sie's glauben oder nicht.»
Völlig verwirrt tastete Adam sich nach achtern zu dem engen Niedergang.
Es machte gar keinen Unterschied, in wessen Händen das Schicksal der Vivid lag, sagte er sich. Entscheidend war nur, daß sie ihn von Robina wegführte. Seiner ersten Liebe.